Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.182/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_182/2015

Urteil vom 29. Oktober 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiber Faga.

Verfahrensbeteiligte
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Genugtuung für Haft,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, vom 23. Januar 2015.

Sachverhalt:

A.
Am 26. März 2013 stellte die Kantonspolizei Zürich bei X.________ anlässlich
einer Hausdurchsuchung unter anderem 224,9 Gramm Kokaingemisch und 730 Gramm
Marihuana sicher. Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich eröffnete eine
Untersuchung wegen Verbrechens / Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz. Da
der Tatverdacht eines Betäubungsmittelhandels nach Einschätzung der
Staatsanwaltschaft nicht erhärtet und der von X.________ geltend gemachte
Besitz der Betäubungsmittel (im Wert von mindestens ca. Fr. 18'000.--) zum
Zweck des Eigenkonsums nicht widerlegt werden konnte, wurde das Strafverfahren
wegen Verbrechens oder Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz am 29. Januar
2014 eingestellt. X.________ befand sich ab 26. März 2013 bis zum 6. Juni 2013
in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft auferlegte ihm die
Verfahrenskosten mit Ausnahme der Kosten für die amtliche Verteidigung,
richtete weder eine Entschädigung noch eine Genugtuung aus und überwies die
Akten der Übertretungsstrafbehörde. Das Statthalteramt des Bezirks Dielsdorf
bestrafte X.________ mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 11. April 2014
insbesondere wegen Übertretungen des Betäubungsmittelgesetzes (Besitz zum
Eigenkonsum sowie Konsum von Betäubungsmitteln) mit einer Busse von Fr.
1'500.--.
Auf Beschwerde von X.________ hob das Obergericht des Kantons Zürich am 23.
Januar 2015 die Einstellungsverfügung vom 29. Januar 2014 teilweise auf und
sprach X.________ für die erlittene Untersuchungshaft eine Genugtuung von Fr.
8'000.-- zu.

B.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Beschwerde in Strafsachen.
Sie beantragt sinngemäss, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und
X.________ sei keine Entschädigung zuzusprechen.

Erwägungen:

1. 

1.1. X.________ (Beschwerdegegner) befand sich ab 26. März 2013 bis zum 6. Juni
2013, mithin während 72 Tagen, in Untersuchungshaft. Vom Verfahren wegen
Verbrechens oder Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz blieben einzig
Übertretungen zur Verfolgung übrig, die mit einer Busse von Fr. 1'500.--
respektive Ersatzfreiheitsstrafe von 15 Tagen geahndet wurden. Die Vorinstanz
prüft und bestätigt in einem ersten Schritt die von der Staatsanwaltschaft
verfügte Kostenauflage und den Verzicht auf eine Entschädigung gestützt auf
Art. 426 Abs. 2 und Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO. Sie hält fest, der
Beschwerdegegner habe durch den Besitz von 224,9 Gramm Kokaingemisch und 730
Gramm Marihuana den Straftatbestand von Art. 19a BetmG erfüllt und deshalb die
Einleitung des Verfahrens rechtswidrig und schuldhaft verursacht. In der Folge
prüft die Vorinstanz eine Entschädigung für die Haftdauer gestützt auf Art. 431
Abs. 2 StPO. Sie erwägt, diese Bestimmung sei primär auf den Fall der
rechtmässig angeordneten Haft zugeschnitten. Das Zwangsmassnahmengericht habe
den dringenden Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen bejaht und
die Untersuchungshaft rechtmässig angeordnet. Unter Berücksichtigung der
Haftdauer von 72 Tagen, der ausgefällten Busse von Fr. 1'500.-- und der
Ersatzfreiheitsstrafe von 15 Tagen sei von einer Überhaft von 57 Tagen
auszugehen. Dafür erscheine eine Genugtuung von Fr. 6'500.-- angemessen. Mit
einem Zuschlag von Fr. 1'500.-- sei zu berücksichtigen, dass der
Beschwerdegegner die Busse bereits bezahlt habe (Entscheid S. 6 ff.).

1.2. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die dem Beschwerdegegner
zugesprochene Genugtuung von Fr. 8'000.--. Die Untersuchungshaft habe sich erst
nachträglich als grundlos erwiesen und sei nicht rechtswidrig erfolgt. Art. 431
StPO regle die Entschädigung und Genugtuung für rechtswidrig angewandte
Zwangsmassnahmen, das heisst Zwangsmassnahmen, für die im Zeitpunkt ihrer
Anordnung die gesetzlichen Voraussetzungen nach Art. 156 ff. StPO (gemeint:
Art. 196 ff. StPO) in materieller respektive formeller Hinsicht nicht erfüllt
gewesen seien. Deshalb bestimme sich der Anspruch auf Schadenersatz und
Genugtuung allein gestützt auf Art. 429 und Art. 430 StPO. Selbst wenn Art. 431
Abs. 2 StPO zur Anwendung gelangte, wäre ein entsprechender Anspruch nur
gegeben, wenn dieser nicht gestützt auf Art. 430 StPO herabgesetzt oder
verweigert würde. Die Vorinstanz wende Art. 429 ff. StPO, insbesondere Art. 431
Abs. 2 StPO, bundesrechtswidrig an (Beschwerde S. 2 ff.).

1.3. Mit Blick auf die Menge der beim Beschwerdegegner sichergestellten
Betäubungsmittel drängte sich der Verdacht auf einen qualifizierten Handel auf.
Es ist unzweifelhaft und zudem unbestritten, dass die fragliche
Untersuchungshaft rechtmässig angeordnet wurde.

1.3.1. Sind gegenüber der beschuldigten Person rechtswidrig Zwangsmassnahmen
angewandt worden, so spricht ihr die Strafbehörde eine angemessene
Entschädigung und Genugtuung zu (Art. 431 Abs. 1 StPO). Im Fall von
Untersuchungs- und Sicherheitshaft besteht der Anspruch, wenn die zulässige
Haftdauer überschritten ist und der übermässige Freiheitsentzug nicht an die
wegen anderer Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann
(Art. 431 Abs. 2 StPO).

1.3.2. Soweit die Beschwerdeführerin sich auf den Standpunkt stellt, Art. 431
StPO sei ausschliesslich auf rechtswidrige Zwangsmassnahmen und damit auf eine
rechtswidrige Untersuchungshaft anwendbar, kann ihr nicht gefolgt werden. Art.
431 StPO gewährleistet einen Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung bei
rechtswidrigen Zwangsmassnahmen (Abs. 1) oder bei Überhaft (Abs. 2). Sogenannte
Überhaft liegt vor, wenn die Untersuchungs- respektive Sicherheitshaft unter
Einhaltung der formellen und materiellen Voraussetzungen rechtmässig angeordnet
wurde, diese Haft aber länger dauert als die tatsächlich ausgefällte Sanktion.
Bei Überhaft nach Art. 431 Abs. 2 StPO ist also nicht die Haft per se, sondern
nur die Haftlänge ungerechtfertigt. Sie wird erst im Nachhinein, das heisst
nach Fällung des Urteils, übermässig (Urteil 6B_385/2014 vom 23. April 2015 E.
3.2, zur Publikation vorgesehen, mit Hinweisen auf: WEHRENBERG/FRANK, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 und
21 zu Art. 431 StPO; YVONA GRIESSER, Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2 zu Art. 431 StPO; NIKLAUS SCHMID,
Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013 [zit.
Praxiskommentar], N. 4 zu Art. 431 StPO; ebenso Niklaus Schmid, Handbuch des
schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013 [zit. Handbuch], N. 1826). Es
ist deshalb nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz mit Blick auf die
Haftdauer und die ausgefällte Sanktion im Rahmen der Genugtuung für die
Überhaft auf Art. 431 Abs. 2 StPO abstellt.

1.3.3. Indem der Beschwerdegegner in seiner Wohnung unter anderem 224,9 Gramm
Kokaingemisch und 730 Gramm Marihuana lagerte, hat er nach den zutreffenden
vorinstanzlichen Erwägungen die Einleitung des Verfahrens wegen Verbrechens
oder Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz rechtswidrig und schuldhaft
bewirkt. Die Beschwerdeführerin hält dafür, dies führe zu einer Verweigerung
der Entschädigung für die Überhaft. Ihr Vorbringen überzeugt nicht. Der
Anspruch nach Art. 431 Abs. 2 StPO entfällt, wenn die beschuldigte Person zu
einer Geldstrafe, zu gemeinnütziger Arbeit oder zu einer Busse verurteilt wird,
die umgewandelt eine Freiheitsstrafe ergäbe, die nicht wesentlich kürzer wäre
als die ausgestandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft (Art. 431 Abs. 3 lit.
a StPO), oder wenn sie zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wird,
deren Dauer die ausgestandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft überschreitet
(Art. 431 Abs. 3 lit. b StPO). Eine Entschädigung nach Art. 431 StPO entfällt
nur bei den Umständen nach Art. 431 Abs. 3 StPO, und es ist irrelevant, ob dem
Beschuldigten die Verfahrenskosten auferlegt werden (Wehrenberg/Frank, a.a.O.,
N. 6 zu Art. 430 StPO und N. 27b zu Art. 431 StPO). Mithin gelangt im
Zusammenhang mit einem Anspruch wegen Überhaft Art. 430 StPO entgegen dem
Dafürhalten der Beschwerdeführerin nicht zur Anwendung (Moreillon/
Parein-Reymond, CPP, Code de procédure pénale, 2013, N. 22 zu Art. 430 StPO;
vgl. Schmid, Praxiskommentar, a.a.O., N. 1 zu Art. 431 StPO). Die
Voraussetzungen von Art. 431 Abs. 3 StPO liegen hier klarerweise nicht vor.

1.3.4. Die Beschwerdeführerin vertritt im Ergebnis den Standpunkt, ein
Beschuldigter, der in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine
Verhaltensnorm verstösst, die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst und
(teilweise) verurteilt wird, verwirkte selbst die Entschädigung bei Überhaft.
Eine solche Lösung steht zur Regelung in der Strafprozessordnung im Widerspruch
(E. 1.3.2 und 1.3.3 hievor). Sie wäre zudem mit Blick auf die massive
Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit durch den Freiheitsentzug stossend.
Der Argumentation der Beschwerdeführerin ist entgegenzuhalten, dass Art. 431
Abs. 2 StPO auch den Fall erfasst, in dem nach einer wegen eines Verbrechens
oder Vergehens angeordneten Untersuchungshaft schliesslich nur eine
Verurteilung wegen einer Übertretung erfolgt und eine Busse ausgesprochen wird
(Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005,
BBl 2006 1330 Ziff. 2.10.3.1; Schmid, Handbuch, a.a.O., N. 1826; Moreillon/
Parein-Reymond, a.a.O., N. 13 zu Art. 431 StPO). Solches wäre aber nach dem
Standpunkt der Beschwerdeführerin regelmässig nicht möglich. Folgt man ihrer
Argumentation, wonach Überhaft nur zu entschädigen sei, wenn "überhaupt ein
Anspruch auf Entschädigung und/oder Genugtuung [nach Art. 429 StPO] besteht und
dieser Anspruch nicht gestützt auf Art. 430 StPO herabgesetzt oder verweigert"
werde, bliebe die Haftdauer, welche die tatsächlich ausgefällte Sanktion
überschreitet, bei teilweisen Freisprüchen regelmässig und bei vollständigen
Verurteilungen stets ohne Konsequenzen.

1.3.5. Dass der Beschwerdegegner (unbestrittenermassen) die Einleitung des
Strafverfahrens veranlasst hat, dies aber für die Frage der
Überhaftentschädigung ohne Belang ist, korreliert auch mit der gesetzlichen
Regelung in Art. 51 StGB. Der Anspruch gemäss Art. 431 Abs. 2 StPO steht mit
der Anrechnung der Untersuchungshaft im Sinne von Art. 51 StGB im Zusammenhang
(vgl. Urteil 6B_169/2012 vom 25. Juni 2012 E. 6). Diese Bestimmung kennt im
Unterschied zur altrechtlichen Regelung in Art. 69 aStGB, welche bei der
Anrechnung der Haft dem Verhalten des Täters Rechnung trug ("Der Richter
rechnet dem Verurteilten die Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe an,
soweit der Täter die Untersuchungshaft nicht durch sein Verhalten nach der Tat
herbeigeführt oder verlängert hat"), keine Ausschlussgründe mehr. Die
Anrechnung hat immer und ohne Ausnahme zu erfolgen (Mettler/Spichtin, in:
Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 31 ff. zu Art. 51 StGB;
Yvan Jeanneret, in: Commentaire Romand, Code pénal I, 2009, N. 4 zu Art. 51
StGB; Trechsel/Affolter-Eijsten, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch,
Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 11 zu Art. 51 StGB; Günter Stratenwerth,
Schweizerisches Strafrecht, Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 6 N. 118;
vgl. betreffend die altrechtlichen Ausschlussgründe BGE 117 IV 404). Damit geht
einher, dass das Verhalten des Beschuldigten gleichermassen irrelevant ist,
soweit der Freiheitsentzug die tatsächlich ausgefällte Sanktion übersteigt und
deshalb nebst der Anrechnung das Gericht die Überhaft abzugelten hat.

1.3.6. Die Anrechnung der Untersuchungshaft auf eine Übertretungsbusse ist
zulässig (BGE 135 IV 126 E. 1.3.9 S. 130). Der Strafbefehl vom 11. April 2014
war im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Entscheids bereits rechtskräftig. Dass
die Vorinstanz zuständigkeitshalber die Anrechnung vornimmt, wird von der
Beschwerdeführerin zu Recht nicht kritisiert (Schmid, Praxiskommentar, a.a.O.,
N. 7 zu Art. 431 StPO). Ebenso wenig beanstandet die Beschwerdeführerin die
Höhe der Genugtuungssumme von Fr. 8'000.--, weshalb darauf nicht näher
einzugehen ist.

1.3.7. Der Beschwerdegegner befand sich während 72 Tagen in Haft und wurde
wegen einzelner Übertretungen überführt. Die ausgerichtete Genugtuung von Fr.
8'000.-- verletzt kein Bundesrecht.

2.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Dem Beschwerdegegner ist keine Entschädigung zuzusprechen, da ihm im
bundesgerichtlichen Verfahren keine Umtriebe entstanden sind.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. Oktober 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Faga

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