Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1143/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_1143/2015

Urteil vom 6. Juni 2016

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer,
Gerichtsschreiberin Siegenthaler.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Yann Moor,
Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510
Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Beweisverwertbarkeit (grobe Verletzung der Verkehrsregeln),

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 31.
August 2015.

Sachverhalt:

A.
Am 27. Juni 2013 führte die Verkehrspolizei des Kantons Thurgau auf der
Hauptstrasse Hefenhausen Richtung Müllheim mit einem mobilen Lasermessgerät
eine Geschwindigkeitskontrolle durch. Dabei wurde der von X.________ gelenkte
Personenwagen im Ausserortsbereich mit einer Geschwindigkeit von 113 km/h (nach
Abzug der Sicherheitsmarge von 4 km/h) gemessen. Während der
Geschwindigkeitsmessung wurde das Fahrzeug zusätzlich mit einem am
Lasermessgerät angebrachten Videogerät aufgezeichnet. Die Staatsanwaltschaft
wirft X.________ vor, die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 33
km/h überschritten zu haben.

B.
Nach Einsprache gegen den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Bischofszell vom
22. Oktober 2013 sprach das Bezirksgericht Weinfelden X.________ am 6. Januar
2015 der qualifizierten Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG)
schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 26
Tagessätzen zu Fr. 2'500.-- und zu einer Busse von Fr. 10'000.--.
Das Obergericht des Kantons Thurgau wies am 31. August 2015 die von X.________
erhobene Berufung ab und bestätigte den Schuldspruch und die Sanktionen.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Videoaufzeichnung
der Verkehrspolizei des Kantons Thurgau sei für unverwertbar zu erklären und er
sei von Schuld und Strafe freizusprechen.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Vorinstanz begründet den Schuldspruch einerseits mit den Ergebnissen
der von der Verkehrspolizei korrekt durchgeführten Geschwindigkeitsmessung mit
dem Lasergerät und andererseits mit der im Rahmen eines Gutachtens anhand der
zusätzlichen Videodokumentation vorgenommenen Plausibilitätsberechnung durch
einen Gutachter.

1.2. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verwertbarkeit der
Videoaufzeichnung, da diese ohne hinreichenden Tatverdacht erstellt und damit
in unzulässiger Weise in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung
eingegriffen worden sei. Nachdem sich die zusätzliche Plausibilitätsberechnung
allein auf die einem Verwertungsverbot unterliegende Videoaufzeichnung stütze,
fehle es auch diesbezüglich an den Voraussetzungen, um diese verwerten zu
können.

1.3. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Das Vorgehen der
Verkehrspolizei des Kantons Thurgau ist als zulässig einzustufen. Weder
bedurfte sie zur Erstellung der fraglichen Videoaufzeichnung eines konkreten
Tatverdachts noch ging ein unrechtmässiger Grundrechtseingriff damit einher.
Die Beweisverwertbarkeit steht somit nicht in Frage.

1.3.1. Ein Tatverdacht muss vorliegen, wenn im strafprozessualen Vorverfahren
Erhebungen getätigt und Beweise gesammelt werden sollen (vgl. Art. 299 Abs. 2
StPO). Entgegen der vorinstanzlichen Urteilsbegründung und den darauf
basierenden Ausführungen des Beschwerdeführers fällt das Handeln der
Verkehrspolizei des Kantons Thurgau vorliegend nicht in den Anwendungsbereich
der Strafprozessordnung. Diese regelt lediglich die polizeiliche
Ermittlungstätigkeit im Rahmen der Strafverfolgung (Art. 15 Abs. 1 StPO), nicht
aber die übrigen polizeilichen Aufgaben, auf welche die Polizeigesetzgebung
anwendbar ist. Die Grenze zwischen polizeirechtlicher und strafprozessualer
Tätigkeit verläuft in der Praxis fliessend und eine klare Trennung ist nicht
immer möglich. Das entscheidende Abgrenzungskriterium für die Anwendbarkeit der
StPO ist der strafprozessuale Anfangsverdacht (BEAT RHYNER, in: Basler
Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 5 f. zu Art.
306 StPO). Im konkreten Fall agierte die Verkehrspolizei des Kantons Thurgau
eindeutig in Wahrnehmung ihrer verkehrspolizeilichen Aufgaben, indem sie am 27.
Juni 2013 gemäss der für das Bundesgericht verbindlichen
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz (vgl. Urteil, S. 2) mit einem mobilen
Lasermessgerät Geschwindigkeitskontrollen durchführte und (anders als
beispielsweise im bundesgerichtlichen Urteil 6B_1023/2014 vom 23. Februar 2015
E. 1.3.1) nicht in der Funktion als gerichtliche Polizei Beweismittel sicherte.
Dass die Kontrolle des Strassenverkehrs in der Konsequenz immer auch der
Ermittlung fehlbarer Fahrzeuglenker und der Sicherstellung von Beweisen im
Hinblick auf ein späteres Strafverfahren dient, lässt sich nicht vermeiden und
ändert nichts daran, dass dies nicht den primären Zweck, sondern lediglich eine
Begleiterscheinung von Verkehrskontrollen darstellt.

1.3.2. Nach Art. 106 Abs. 1 SVG erlässt der Bundesrat die zum Vollzug des
Strassenverkehrsgesetzes notwendigen Vorschriften und bezeichnet die zur
Durchführung zuständigen eidgenössischen Behörden; er kann das Bundesamt für
Strassen (ASTRA) zur Regelung von Einzelheiten ermächtigen. Nach Art. 3 Abs. 1
der Verordnung über die Kontrolle des Strassenverkehrs vom 28. März 2007
(Strassenverkehrskontrollverordnung, SKV; SR 741.013) obliegt der nach
kantonalem Recht zuständigen Polizei die Kontrolle des Verkehrs auf
öffentlichen Strassen. Gemäss § 17 des Polizeigesetzes des Kantons Thurgau vom
9. November 2011 (PolG, RB 551.1) umfassen die verkehrspolizeilichen Aufgaben
insbesondere die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung im Verkehr auf
den öffentlichen Strassen sowie vorbeugende Massnahmen zur Erhöhung der
Verkehrssicherheit und die Verfolgung der Verstösse gegen das Verkehrsrecht.
Für die Erfüllung ihrer Aufgaben sorgt die Kantonspolizei mit präventiven und
repressiven Massnahmen (vgl. § 11 Abs. 1 PolG). Die zulässigen Modalitäten von
Verkehrskontrollen werden wiederum durch die Strassenverkehrsgesetzgebung des
Bundes vorgegeben. Gemäss Art. 9 Abs. 1 SKV setzt die Polizei für die Kontrolle
des Verkehrs auf öffentlichen Strassen nach Möglichkeit technische Hilfsmittel
ein, so insbesondere bei der Kontrolle der Geschwindigkeit. Die Durchführung
der polizeilichen Geschwindigkeitskontrollen ist in der Verordnung des EJPD vom
28. November 2008 über Messmittel für Geschwindigkeitskontrollen und
Rotlichtüberwachungen im Strassenverkehr
(Geschwindigkeitsmessmittel-Verordnung; SR 941.261) und in den Weisungen des
Bundesamts für Verkehr (ASTRA) über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und
Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr geregelt.

1.3.3. Keine dieser Bestimmungen verlangt auch nur einen Anfangsverdacht und
erst recht keinen hinreichenden Tatverdacht zur Legitimation polizeilichen
Handelns im Rahmen von Verkehrskontrollen. Im Gegenteil legt Art. 5 Abs. 1 und
2 SKV sogar fest, dass die Kontrollen stichprobenweise, systematisch oder im
Rahmen von Grosskontrollen erfolgen. Die anlassfreie Kontrolle des
Strassenverkehrs insbesondere unter Einsatz technischer Hilfsmittel durch die
Kantonspolizei Thurgau war demnach grundsätzlich zulässig.

1.3.4. Das aus Art. 10 Abs. 2 BV i.V.m. Art. 13 Abs. 2 BV abgeleitete
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kann wie andere Grundrechte
nach den Kriterien von Art. 36 BV eingeschränkt werden. Einschränkungen
bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, müssen durch ein öffentliches Interesse
oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sowie
verhältnismässig sein; überdies darf der Kerngehalt nicht angetastet werden (
BGE 140 I 2 E. 9.1 mit Hinweis).
Werden von der Polizei erstellte Videoaufnahmen oder andere Aufzeichnungen in
einem Strafverfahren beigezogen, stellen sie erkennungsdienstliches Material
dar, auf welches die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Dauer der
Aufbewahrung und zur Vernichtung Anwendung findet (BGE 133 I 77 E. 4.2 S. 83
mit Hinweisen). Nachdem selbst die Aufbewahrung derartiger Daten für sich
allein nicht als schwer wiegender Eingriff gilt (BGE 120 Ia 147 E. 2b), muss
dies umso mehr für die blosse Erstellung von Aufzeichnungen gelten.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die von der Kantonspolizei Thurgau
ergriffenen Massnahmen zur Verkehrskontrolle verhältnismässig, mit den
genannten Erlasse liegt eine ausreichende gesetzliche Grundlage vor und ein
öffentliches Interesse ist zweifelsohne gegeben. Der Eingriff in das Grundrecht
des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung war damit zulässig.

2.

2.1. In seinem Eventualstandpunkt beantragt der Beschwerdeführer einen
Freispruch vom Vorwurf der qualifizierten Verkehrsregelverletzung und einen
Schuldspruch wegen einfacher Verkehrsregelverletzung.

2.2. Subjektiv erfordert der Tatbestand nach Art. 90 Abs. 2 SVG ein
rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten, d.h. ein
schweres Verschulden, mindestens grobe Fahrlässigkeit (BGE 130 IV 32 E. 5.1 mit
Hinweisen). Der Beschwerdeführer nennt keine Gründe, die geeignet erschienen,
von der konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, auf welche
die Vorinstanz zutreffend verweist. Was er vorbringt, vermag ihn vom Vorwurf
der groben Fahrlässigkeit nicht zu entlasten.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang trägt der
Beschwerdeführer die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens (Art. 66 Abs. 1
BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Juni 2016

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Siegenthaler

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