Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1070/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_1070/2015

Urteil vom 2. August 2016

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
1.       A.A.________,
2.       C.________,
3.       D.________,
4.       E.________,
5.       F.________,
       alle vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler,
Beschwerdeführer,

gegen

1.       Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
       Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
2.       X.________,
       vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Fäh,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Fahrlässige Tötung, mehrfache fahrlässige Gefährdung durch Verletzung der
Regeln der Baukunde; Genugtuung; Willkür,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht,
1. Kammer, vom 3. September 2015.

Sachverhalt:

A.
Die G.________ GmbH war mit dem Abbau asbesthaltiger Eternit-Dachplatten
beauftragt. Am 26. April 2011 brach der Hilfsarbeiter B.A.________ während der
Arbeiten durch das Dach und stürzte durch ein eine Lücke zwischen Gebäudewand
und Sicherheitsnetz über 8 Meter in die Tiefe. Er erlag seinen schweren
Kopfverletzungen und inneren Blutungen.
Die Untersuchung der Unfallstelle ergab, dass das gespannte Personenauffangnetz
nicht vorschriftsmässig montiert war. Der horizontale Abstand zwischen Netzrand
und Gebäudewand betrug an der Unfallstelle 85 cm anstatt der vorgeschriebenen
maximalen 30 cm. Zudem war das Auffangnetz vertikal 1.80 Meter tiefer als
möglich unterhalb der Arbeitsebene gespannt.

B.
Am 29. Oktober 2014 sprach das Bezirksgericht Zurzach X.________ vom Vorwurf
der vorsätzlichen Tötung sowie von zwei Vorwürfen der Gefährdung durch
Verletzung der Regeln der Baukunde frei. Es verurteilte ihn wegen fahrlässiger
Tötung und mehrfacher Verletzung der Regeln der Baukunde zu einer teilbedingten
Freiheitsstrafe von 3 Jahren und widerrief zwei bedingte Geldstrafen von 10 und
20 Tagessätzen. Es verpflichtete X.________ zu Genugtuungszahlungen von
insgesamt Fr. 80'000.- an die Familie von B.A.________. Die
Schadensersatzforderungen der Witwe von B.A.________ hiess es dem Grundsatz
nach gut und verwies diese "im Übrigen" auf den Zivilweg.
Die von X.________ gegen den Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung gerichtete
Berufung wies das Obergericht des Kantons Aargau ab, reduzierte jedoch die
Genugtuungszahlungen auf Fr. 45'000.-.

C.
Die Hinterbliebenen des verunglückten B.A.________ (vorliegendes Verfahren
6B_1070/2015) führen Beschwerde in Strafsachen und beantragen höhere
Genugtuungen.
Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau haben sich
nicht vernehmen lassen. X.________ verzichtet auf eine Vernehmlassung und
beantragt unter Verweis auf die von ihm geführte Beschwerde in Strafsachen
(separates Verfahren 6B_1069/2015) die kostenpflichtige Abweisung der
Beschwerde.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerdeführer beantragen höhere Genugtuungen. Sie machen sinngemäss
geltend, die Vorinstanz stelle den Sachverhalt "unrichtig fest", da sie von
einem leichten bis mittelschweren Selbstverschulden des verunglückten
B.A.________ ausgehe. Die Kürzung der grundsätzlich angemessenen Summen um 30 %
wegen vermeintlichen Selbstverschuldens erweise sich als bundesrechtswidrig.
Dass die Vorinstanz den Beschwerdeführern 4 und 5 (Geschwister von
B.A.________) jegliche Genugtuung pauschal verweigere, stelle einen klaren
Verstoss gegen das Willkürverbot gemäss Art. 9 BV dar. Der Familienzusammenhalt
sei in der islamisch geprägten Bevölkerung Mazedoniens besonders stark
ausgeprägt. Die Beschwerdeführer 4 und 5 hätten mit ihrem verstorbenen Bruder
über 20 Jahre unter einem Dach gelebt und eine sehr enge Bindung gehabt. Durch
dessen Verlust hätten sie zweifellos einen aussergewöhnlich schweren seelischen
Schmerz erlitten.

1.2. Die Vorinstanz erwägt, die Festsetzung der Genugtuung für den Tod eines
Menschen sei eine nach Ermessen zu treffende Billigkeitsentscheidung. Nicht
jede immaterielle Unbill rechtfertige die Zusprechung einer Genugtuung. Die
Verletzung müsse einen relativ hohen Intensitätsgrad aufweisen. Bei der
Bemessung der Genugtuung sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer mit
seinen Eltern und Geschwistern nicht mehr im gleichen Haushalt lebte. Zudem
seien die Genugtuungen aufgrund des leichten bis mittelschweren
Selbstverschuldens des verunglückten B.A.________ um 30 % zu reduzieren. Die
der Beschwerdeführerin 1 erstinstanzlich zugesprochene Genugtuung von Fr.
40'000.- sei ohnehin zu hoch und aufgrund des Selbstverschuldens auf Fr.
25'000.- zu reduzieren. Den Beschwerdegegnern 2 und 3 (Eltern) sei unter
Berücksichtigung des Selbstverschuldens des Verunglückten eine Genugtuung von
je Fr. 10'000.- zuzusprechen. B.A.________ habe keinen gemeinsamen Haushalt
mehr mit seinen Familienangehörigen gehabt. Die Begehren der Beschwerdegegner 4
und 5 seien abzuweisen. Sie hätten nicht nachgewiesen, dass sie zu ihrem
verstorbenen Bruder in einem derart engen Kontakt gestanden hätten, der eine
Genugtuung rechtfertige.

1.3.

1.3.1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und
Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) nur die geltend gemachten
Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind. Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten -
einschliesslich Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung - gilt eine
qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
281 f.). Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene Rügen.

1.3.2. Gemäss Art. 47 OR kann der Richter bei Tötung eines Menschen unter
Würdigung der besonderen Umstände der verletzten Person eine angemessene
Geldsumme als Genugtuung zusprechen. Die Genugtuung bezweckt den Ausgleich für
erlittene seelische Unbill. Ihre Bemessung richtet sich im Wesentlichen nach
der Art und Schwere der Verletzung, der Intensität und Dauer der Auswirkungen
auf die Persönlichkeit des Betroffenen, dem Grad des Verschuldens des
Haftpflichtigen, einem allfälligen Selbstverschulden des Geschädigten, sowie
der Aussicht auf Linderung des Schmerzes durch die Zahlung eines Geldbetrags
(Urteile 6B_857/2015 vom 21. März 2016 E. 3.2; 6B_768/2014 vom 24. März 2015 E.
3.3, nicht publ. in: BGE 141 IV 97).
Nicht jede immaterielle Unbill rechtfertigt die Zusprechung einer Genugtuung.
Vorausgesetzt sind nach Art. 47 OR "besondere Umstände". Die Verletzung muss
damit einen relativ hohen Intensitätsgrad aufweisen. Anspruchsberechtigt sind
insbesondere die Eltern und die Geschwister des Getöteten. Massgebend ist neben
dem Verwandtschaftsgrad die Intensität der Beziehung. Die Eltern sind
anspruchsberechtigt, auch wenn das Kind erwachsen war und nicht im elterlichen
Haushalt lebte, jedoch kann die Genugtuung in diesem Fall herabgesetzt werden.
Der Anspruch der Geschwister setzt voraus, dass der Getötete im gleichen
Haushalt lebte oder die Geschwister aufgrund eines derart engen Kontakts "durch
den Verlust einen aussergewöhnlich schweren seelischen Schmerz erleiden". Der
Genugtuungsanspruch kann ganz wegfallen oder reduziert werden, wo die
Beziehungen "so lose oder wenig herzlich waren, dass man von einem wahren Leid
nicht sprechen kann" (Urteil 6B_714/2013 vom 25. März 2014 E. 4.2; FELLMAMM/
KOTTMANN, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Band I, 2012, S. 939 Rz. 2645 ff.)
Die Festsetzung der Höhe der Genugtuung ist eine Entscheidung nach Billigkeit
und beruht auf richterlichem Ermessen. Sie ist nicht schematisch vorzunehmen,
sondern muss dem Einzelfall angepasst werden. Dabei kann in zwei Phasen
vorgegangen werden, indem zuerst ein Basisbetrag festgelegt und anschliessend
die besondere individuelle Situation berücksichtigt wird (BGE 132 II 117 E.
2.2.3). Das Bundesgericht überprüft die Rechtsfrage der Ermessensausübung durch
den Sachrichter mit Zurückhaltung. Es schreitet nur ein, wenn dieser grundlos
von anerkannten Bemessungsgrundsätzen abweicht, sich von nicht massgeblichen
Faktoren leiten lässt oder sich das Ergebnis als offensichtlich unbillig
erweist (vgl. Urteil 6B_857/2015 vom 21. März 2016 E. 3.2, nicht publ. in: BGE
141 IV 97; 6B_768/2014 vom 24. März 2015 E. 3.3; je mit Hinweisen).

1.4.

1.4.1. Soweit die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführer hinsichtlich der
Genugtuungsbemessung eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung rügt, sind die
Einwände als eine vom Bundesgericht frei zu prüfende fehlerhafte
Rechtsanwendung entgegenzunehmen. Das von der Vorinstanz festgestellte
Unfallgeschehen und die Annahme, auch B.A.________ habe gewusst, dass
Abbrucharbeiten auf einem Dach ein gewisses Risiko inhärent ist, sind nicht
strittig. Ob die Vorinstanz aufgrund ihrer getroffenen
Sachverhaltsfeststellungen zu Recht auf ein pflichtwidriges und damit ein
Selbstverschulden begründendes Verhalten des verstorbenen B.A.________
geschlossen hat, ist eine vom Bundesgericht frei zu prüfende Rechtsfrage.
Ein die Genugtuungsansprüche der Beschwerdeführer reduzierendes
Selbstverschulden von B.A.________ ist nicht ersichtlich. Die Vorinstanz
schliesst unzulässigerweise aus der blossen Ausübung der gefahrbehafteten
Dacharbeiten auf ein haftungsreduzierendes Selbstverschulden. Ein solches
könnte erst dann angenommen werden, wenn B.A.________ ein unangemessenes,
pflichtwidriges Verhalten an den Tag gelegt hätte. Ein derartiges Verhalten
ergibt sich aus den vorinstanzlichen Erwägungen nicht. Das Dacharbeiten
inhärente Risiko für Leib und Leben soll aufgrund der vorgeschriebenen
Sicherheitsvorschriften soweit möglich minimiert werden. Vorliegend hätte ein
korrekt gespanntes Auffangnetz das Einbrechen des Daches nicht verhindert,
jedoch den tödlichen Sturz aus 8 Meter Höhe. Die fehlerhafte Montage des
Auffangnetzes war laut Vorinstanz für B.A.________ nicht erkennbar. Warum
B.A.________ letztlich durch die Eternitplatten stürzte, lässt sich den
vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen nicht entnehmen und ist vorliegend
von untergeordneter Bedeutung. Ein sorgfaltswidriges, zum Einbrechen führendes
Verhalten hätte hinsichtlich einer Genugtuung für Körperverletzung
anspruchsmindernd berücksichtigt werden können, berührt jedoch die fehlerhafte
Montage des Auffangnetzes als Todesursache nicht. Die Kürzung der
Genugtuungsansprüche wegen Selbstverschulden erweist sich als
bundesrechtswidrig.

1.4.2. Auch wenn ein haftungsreduzierendes Selbstverschulden von B.A.________
nicht vorliegt, erweist sich die Beschwerde in Bezug auf die
Genugtuungsbegehren der Beschwerdeführer 4 und 5 als unbegründet, soweit sie
den Begründungsanforderungen gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG genügt. Die
Beschwerdeführer setzen sich mit den vorinstanzlichen Erwägungen nicht
auseinander und legen nicht dar, inwieweit die Vorinstanz Bundesrecht verletzt
und das ihr zustehende Ermessen überschritten haben soll. Die Beschwerdeführer
verkennen, dass sie auch im Rahmen der von ihnen adhäsionsweise geltend
gemachten Zivilklage hinsichtlich aller anspruchsbegründenden Tatsachen
beweispflichtig sind. Dieser Verpflichtung sind sie gemäss den vorinstanzlichen
Ausführungen nicht nachgekommen. Sie begründen und belegen nicht, aufgrund
welcher Umstände sich die gemäss Rechtsprechung und Lehre für die Zusprechung
einer Genugtuung bei in getrennten Haushalten lebenden erwachsenen Geschwistern
erforderliche enge persönliche Bindung ergeben soll. Die Vorinstanz verletzt
kein Bundesrecht, indem sie die Genugtuungsbegehren der Beschwerdeführer 4 und
5 abweist.

2.
Die Beschwerdeführer beantragen, ihnen sei die unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung gemäss Art. 136 Abs. 2 StPO zu gewähren. Deren Voraussetzungen
ergeben sich im Verfahren vor Bundesgericht aus Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; die
StPO findet keine Anwendung. Das Gesuch der Beschwerdeführer um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung wird im Umfang ihres Obsiegens gegenstandslos;
soweit sie unterliegen ist es infolge Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren
abzuweisen. Die Parteien werden im Umfang ihres Unterliegens kostenpflichtig
(Art. 66 Abs. 1 BGG), wobei den finanziellen Verhältnissen der Beschwerdeführer
angemessen Rechnung zu tragen ist. Dem Kanton Aargau sind keine
Verfahrenskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG).
Der Beschwerdegegner und der Kanton Aargau haben der Rechtsvertreterin der
Beschwerdeführer eine angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG). Dem Beschwerdegegner ist keine Entschädigung zuzusprechen, da ihm
im vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahren keine Umtriebe entstanden sind.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Aargau vom 3. September 2015 aufgehoben und die Sache zu neuer
Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung der
Beschwerdeführer wird abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist.

3.
Den Beschwerdeführern werden unter solidarischer Haftung Verfahrenskosten von
Fr. 500.- auferlegt, dem Beschwerdegegner in Höhe von Fr. 1'200.-.

4.
Der Beschwerdegegner und der Kanton Aargau haben die Rechtsvertreterin der
Beschwerdeführer, Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler, jeweils mit Fr. 750.- zu
entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. August 2016

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Held

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