Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1031/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_1031/2015

Urteil vom 1. Juni 2016

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Siegenthaler.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Marcus Wiegand,
Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Grobe Verletzung der Verkehrsregeln; Willkür,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 29.
Juni 2015.

Sachverhalt:

A.
X.________ fuhr am 15. Juli 2013 zwischen ca. 21:00 und 21:30 Uhr mit einem
Personenwagen "Ferrari 430" von seiner Autogarage über die A1 auf die A7 in
Richtung U.________. Den Ferrari hatte er zuvor mit einem neuen Bremssystem
ausgestattet, das er nun einem Test nach Vorgabe von Ferrari unterziehen
wollte, der zum Erhalt einer Bewilligung des Strassenverkehrsamts erforderlich
ist. Hierfür führte er auf der Normalspur bei schwachem Verkehr und guten
Sichtverhältnissen auf einer Strecke von gut zehn Kilometern insgesamt 16
Bremsungen von 80 km/h auf 20 km/h und 16 Bremsungen von 120 km/h auf 20 km/h
durch, wonach er das Fahrzeug jeweils wieder auf die Ausgangsgeschwindigkeit
beschleunigte. Ehe er auch die mindestens fünf Bremsungen von 120 km/h auf 0 km
/h vornehmen konnte, wurde er von der Polizei angehalten. Eine Spaziergängerin,
der das Abbremsen und Beschleunigen aufgefallen war, hatte diese alarmiert.

B.
Mit Strafbefehl vom 25. November 2014 verurteilte die Staatsanwaltschaft
Frauenfeld X.________ wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer
Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 150.--.
Auf Einsprache von X.________ erkannte auch das Bezirksgericht Frauenfeld am 2.
Februar 2015 auf eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln und eine Geldstrafe
von 30 Tagessätzen zu Fr. 150.--. Das Obergericht des Kantons Thurgau
bestätigte dieses Urteil am 29. Juni 2015 vollumfänglich.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts vom 29. Juni 2015 sei aufzuheben und er vom Vorwurf der groben
Verkehrsregelverletzung freizusprechen. Eventualiter sei das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Sache zur Sachverhaltsergänzung und neuen
Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Obergericht und Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung sowie
eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" (Beschwerde, S. 8 f. und 15
f.). Zur Begründung führt er aus, für die Beurteilung seines Falles sei
entscheidend, ob durch sein Fahrverhalten überhaupt andere Verkehrsteilnehmer
gefährdet worden seien. Zentral sei in diesem Zusammenhang die Aussage der
Anzeigeerstatterin, die der Polizei am Telefon mitgeteilt habe, er habe zwar
das Tempo verlangsamt, aber keine anderen Verkehrsteilnehmer ausgebremst. Eine
solche Angabe sei für ihn klar entlastend. Trotzdem sei die Augenzeugin nie
förmlich einvernommen worden. Die für ihn entlastende Aussage scheine die
Vorinstanz vollkommen übersehen zu haben. Wenn die Polizei in ihrem Rapport ein
schwaches Verkehrsaufkommen festgehalten habe, sage dies noch nichts darüber
aus, wie die konkrete Verkehrssituation im Augenblick der Bremsungen ausgesehen
habe. Die Polizei habe die Bremsvorgänge selbst nicht beobachtet und nur das
Verkehrsaufkommen in jenem Zeitpunkt festhalten können, als er auf die Ausfahrt
V.________ zugefahren sei und sie ihn erblickt habe. Dem Rapport sei denn auch
nicht zu entnehmen, dass sich im Moment der Bremsungen andere Fahrzeuge hinter
oder neben ihm befunden hätten. Auch seien keine weiteren Meldungen bei der
Polizei eingegangen, was seine eigene Aussage untermauere, dass sich während
der Bremsungen - bis auf die von ihm instruierte Hilfsperson - keine anderen
Verkehrsteilnehmer in der Nähe befunden hätten. Damit sei unklar und
keinesfalls erwiesen, ob überhaupt Dritte gefährdet worden seien. Die
Vorinstanz habe den entsprechenden Sachverhalt unvollständig erhoben. Indem sie
von einer erhöhten abstrakten Gefährdungssituation ausgehe, ohne dass dies
rechtsgenügend nachgewiesen sei, verstosse sie gegen die Unschuldsvermutung.

1.2. Die Vorinstanz erwägt (Urteil, S. 7 f.), der Beschwerdeführer habe das von
ihm gelenkte Fahrzeug "Ferrari 430" auf einer Strecke von rund zehn Kilometern
32 Mal brüsk und massiv abgebremst, ohne dass dafür ein äusserer Grund
bestanden hätte. Insbesondere habe sich kein Hindernis auf der Fahrbahn
befunden. Dass der Beschwerdeführer mit seiner Fahrweise eine erhebliche Gefahr
für die weiteren Verkehrsteilnehmer geschaffen habe, sei offensichtlich.
Nachfolgende Automobilisten hätten nicht damit rechnen müssen, dass ein vor
ihnen fahrender Sportwagen ohne ersichtlichen Grund plötzlich stark abbremse.
Es habe somit eine grosse Gefahr für einen Auffahrunfall bestanden. Dies gelte
insbesondere, da Autofahrer - auch auf der Normalspur - bei guten Bedingungen
und schwachem Verkehrsaufkommen auf der Autobahn mit rund 120 km/h unterwegs
seien und daher äusserst rasch auf den Beschwerdeführer hätten aufschliessen
können. Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer ein Fahrzeug mit ausgesprochen
stark wirkenden Bremsen gefahren sei. Daher sei auch bei einem grösseren
Abstand zu einem nachfolgenden Fahrzeug nicht gewährleistet gewesen, dass ein
Auffahrunfall hätte vermieden werden können.

1.3.

1.3.1. Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann vor Bundesgericht nur
gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie
willkürlich ist (BGE 139 II 404 E. 10.1 mit Hinweisen; vgl. zum Begriff der
Willkür BGE 139 III 334 E. 3.2.5; 138 I 49 E. 7.1; je mit Hinweisen). Eine
entsprechende Rüge muss klar und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs.
2 BGG; BGE 138 I 225 E. 3.2; 137 IV 1 E. 4.2.3; je mit Hinweisen). Auf rein
appellatorische Kritik am angefochtenen Urteil tritt das Bundesgericht nicht
ein (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1 mit Hinweisen).
Dem Grundsatz "in dubio pro reo" kommt in seiner Funktion als
Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor Bundesgericht keine Bedeutung zu, die
über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgeht (BGE 138 V 74 E. 7 mit
Hinweisen).

1.3.2. Die vom Beschwerdeführer ins Zentrum gerückte Frage, ob sich im Moment
der jeweiligen Bremsmanöver konkret andere Fahrzeuge in seiner Nähe befanden,
erweist sich als irrelevant (vgl. nachfolgend E. 1.4.2). Mangels Relevanz für
den Verfahrensausgang ist auf seine diesbezügliche Willkürrüge nicht
einzutreten.

1.3.3. Entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers verfällt die Vorinstanz
weder in Willkür noch verletzt sie den Grundsatz "in dubio pro reo", wenn sie
davon ausgeht, auf dem von ihm für seine Bremsmanöver benutzten
Strassenabschnitt seien zur fraglichen Zeit auch andere Fahrzeuge unterwegs
gewesen. Wie der Beschwerdeführer selbst ausführt, stellte die Kantonspolizei
im Zeitpunkt seiner Anhaltung ein schwaches Verkehrsaufkommen fest, und auch
gemäss seinen eigenen Angaben gegenüber der Polizei gab es auf der betreffenden
Strecke andere Verkehrsteilnehmer (vgl. Beschwerde, S. 9 mit Verweis auf den
Polizeirapport und die polizeiliche Befragung). Dass er diese Aussage in
späteren Einvernahmen relativiert haben will, reicht nicht aus, um die
vorinstanzliche Beweiswürdigung als willkürlich erscheinen zu lassen.

1.3.4. Die übrigen Ausführungen des Beschwerdeführers in sachverhaltlicher
Hinsicht (insbesondere zu seinem Motiv für die brüsken Bremsmanöver) sind
appellatorischer Natur. Damit lässt sich keine Willkür begründen, weshalb
darauf nicht einzugehen ist.

1.4.

1.4.1. Der qualifizierte Tatbestand der groben Verletzung von Verkehrsregeln im
Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG ist objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige
Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die
Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefahr für die
Sicherheit anderer ist nicht erst bei einer konkreten, sondern bereits bei
einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Ob eine konkrete, eine erhöhte
abstrakte oder nur eine abstrakte Gefahr geschaffen wird, hängt von der
Situation ab, in welcher die Verkehrsregelverletzung begangen wird.
Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefahr ist die
Nähe der Verwirklichung. Die allgemeine Möglichkeit der Verwirklichung einer
Gefahr genügt zur Erfüllung des Tatbestands von Art. 90 Abs. 2 SVG demnach nur,
wenn in Anbetracht der Umstände der Eintritt einer konkreten Gefährdung oder
gar einer Verletzung nahe liegt (BGE 131 IV 133 E. 3.2 mit Hinweisen).
Subjektiv erfordert der Tatbestand gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG ein
rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten, d.h. ein
schweres Verschulden, mindestens grobe Fahrlässigkeit. Dies ist immer zu
bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner
verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist (BGE 130 IV 32 E. 5.1 mit Hinweisen).

1.4.2. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer sein Fahrzeug nicht nur einmal,
sondern mehr als dreissig Mal bei hoher Geschwindigkeit äusserst brüsk
abbremste, lässt den Eintritt einer konkreten Gefährdung anderer
Verkehrsteilnehmer trotz eines lediglich geringen Verkehrsaufkommens als nahe
liegend erscheinen - unabhängig davon, ob sich im jeweiligen Bremszeitpunkt
konkret ein anderes Fahrzeug in seiner Nähe befand. Die Vorinstanz bejaht eine
erhöhte abstrakte Gefahr zu Recht.
Dass der Beschwerdeführer sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner
verkehrswidrigen Fahrweise bewusst war, zeigt bereits der Umstand, dass er
einen Kollegen engagierte, der ihm hinterherfahren und den Verkehr
kontrollieren sollte, um die Gefährdung von Drittpersonen möglichst gering zu
halten.
Ein Rechtfertigungsgrund nach Art. 14 StGB liegt entgegen der Argumentation des
Beschwerdeführers nicht vor. Insbesondere ist nicht ersichtlich, gestützt auf
welches Gesetz sein Verhalten geboten oder erlaubt gewesen sein soll. Der
Beschwerdeführer vermag kein solches zu nennen. Die von ihm herangezogene
Rechtsprechung gemäss BGE 113 IV 4 ist nicht einschlägig. Der übergesetzliche
Rechtfertigungsgrund einer Pflichtenkollision liegt vor, wenn zwei
Rechtspflichten in derselben Situation so zusammentreffen, dass der
Verpflichtete keine von ihnen ohne Verletzung der anderen erfüllen kann (BGE
130 IV 7 E. 7 mit Hinweisen). Mit der Miete einer privaten Teststrecke oder
eines Flughafengeländes nennt der Beschwerdeführer gleich selber Möglichkeiten,
die ihm zur rechtskonformen Durchführung der vom Fahrzeughersteller
vorgeschriebenen Einbremsvorgänge offen gestanden hätten. Er befand sich somit
nicht in einer Situation, in der er die eine Rechtspflicht nicht ohne
Verletzung einer anderen erfüllen konnte. Dass ihm die zur Verfügung stehenden
Optionen "in zeitlicher, ökologischer und auch ökonomischer Hinsicht als
unverhältnismässig" erschienen, ändert daran nichts.
Der vorinstanzliche Schuldspruch wegen grober Verkehrsregelverletzung erweist
sich als bundesrechtskonform.

1.5. Der Vorwurf des Beschwerdeführers, die Vorinstanz verletze den
Untersuchungsgrundsatz, indem sie die konkrete Verkehrssituation im genauen
Zeitpunkt der Bremsmanöver nicht abgeklärt habe, ist somit haltlos. Die
entsprechende Frage ist wie aufgezeigt für die Beurteilung der Tat nicht von
Bedeutung, weshalb eine Pflicht zur weiteren Untersuchung nicht bestand (vgl.
Art. 6 StPO).

2.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die
Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Mit
dem Entscheid in der Sache wird sein Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Juni 2016

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Siegenthaler

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