Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.922/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
5A_922/2015

Urteil vom 4. Februar 2016

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,
Gerichtsschreiberin Friedli-Bruggmann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Thomas Bittel,
Beschwerdeführer,

gegen

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Mittelland Nord.

Gegenstand
Anordnung einer Vertretungsbeistandschaft,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts
des Kantons Bern, Zivilabteilung, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, vom 19.
Oktober 2015.

Sachverhalt:

A.
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Mittelland Nord errichtete mit
Kammerentscheid vom 9. September 2015 für A.________ (geb. 1949) eine
Vertretungsbeistandschaft mit Einkommensverwaltung gemäss Art. 394 Abs. 1
i.V.m. Art. 395 Abs. 1 und 3 ZGB, nachdem sich A.________ schriftlich mit
dieser Massnahme und der Person des Beistands Fürsprecher und Notar B.________
einverstanden erklärt hatte. Gleichzeitig wurde ihm der Zugriff auf seine
Konten - mit Ausnahme eines vom Beistand zu bezeichnenden Kontos - entzogen.

B. 
Gegen diesen Entscheid wandte sich A.________ am 8. Oktober 2015 (Postaufgabe)
handschriftlich und ohne anwaltliche Vertretung an das Obergericht des Kantons
Bern. Dieses trat mit Entscheid vom 19. Oktober 2015 nicht auf die Beschwerde
ein, weil sich der Beschwerde weder Antrag noch Begründung entnehmen lasse.
Verfahrenskosten wurden keine erhoben.

C. 
Mit Beschwerde vom 19. November 2015 wendet sich A.________ (Beschwerdeführer)
nun vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Bittel an das Bundesgericht. Er
beantragt die Rückweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz und stellt für
das bundesgerichtliche Verfahren ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung. Die KESB Mittelland Nord und das Obergericht erklärten mit
Eingaben vom 25. resp. 26. Januar 2016, auf eine Vernehmlassung zu verzichten.
Das Obergericht verwies auf den angefochtenen Entscheid.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde richtet sich gegen den Endentscheid (Art. 90 BGG) einer letzten
kantonalen Instanz (Art. 75 BGG) über die Anordnung einer Beistandschaft. Der
Entscheid ist öffentlich-rechtlich, steht aber in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem Zivilrecht (Art. 72 Abs. 2 Bst. b Ziff. 6 BGG). Die Angelegenheit ist
nicht vermögensrechtlicher Natur (Urteile 5A_357/2011 vom 7. Oktober 2011 E. 2;
5A_493/2007 vom 20. August 2008 E. 1). Die Beschwerde ist rechtzeitig
eingereicht worden (Art. 100 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer hat am Verfahren
vor der Vorinstanz teilgenommen. Er ist durch den angefochtenen Entscheid
besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder
Änderung (Art. 76 BGG). Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.

2. 
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen Nichteintretensentscheid.
Die Vorinstanz hat sich demnach (noch) nicht über die Rechtmässigkeit der
angeordneten Beistandschaft ausgesprochen. Zu Recht begnügt sich der
Beschwerdeführer deshalb vor Bundesgericht damit, die Rückweisung der
Angelegenheit an die Vorinstanz zu verlangen, damit diese in der Sache
entscheide (vgl. Urteile 5A_358/2013 vom 7. Oktober 2013 E. 2; 5A_440/2008 vom
19. März 2009 E. 2.2.1).

3. 
Im ordentlichen Beschwerdeverfahren sind vor Bundesgericht in rechtlicher
Hinsicht alle Rügen gemäss Art. 95 f. BGG zulässig. Das Bundesgericht wendet
das Recht grundsätzlich von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und urteilt
mit freier Kognition. Es kann die Beschwerde daher auch aus anderen als den
geltend gemachten Gründen gutheissen oder den Entscheid mit einer Begründung
bestätigen, die von jener der Vorinstanz abweicht (zu den Voraussetzungen der
Motivsubstitution BGE 136 III 247 E. 4 S. 252 mit Hinweis). Es ist allerdings
nicht gehalten, wie ein erstinstanzliches Gericht alle sich stellenden
rechtlichen Fragen von sich aus zu untersuchen, wenn der Beschwerdeführer diese
nicht mehr thematisiert (BGE 140 III 86 E. 2 S. 88 f.; 137 III 580 E. 1.3 S.
584; 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Deshalb ist in der Beschwerde in gedrängter
Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2
BGG). Der Beschwerdeführer muss auf den angefochtenen Entscheid eingehen und
aufzeigen, worin eine Verletzung von Bundesrecht liegt; er soll im Schriftsatz
mit seiner Kritik an den Erwägungen der Vorinstanz ansetzen, die er als
rechtsfehlerhaft erachtet (vgl. BGE 121 III 397 E. 2a S. 400). Allgemein
gehaltene Einwände, die ohne aufgezeigten oder erkennbaren Zusammenhang mit
bestimmten Entscheidungsgründen vorgebracht werden, genügen nicht. Für
Vorbringen betreffend die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gilt ausserdem
das strenge Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254
mit Hinweisen).

4. 
Das Obergericht trat mit der Begründung nicht auf die Beschwerde des
Betroffenen ein, dass dessen Eingabe "weder klare Anträge noch eine Begründung"
enthalte.
Der Beschwerdeführer hält der Vorinstanz entgegen, dass er rechtsunkundig und
der deutschen Sprache nicht mächtig sei, weshalb von einer typischen
Laienbeschwerde auszugehen sei. Anders als die Vorinstanz behaupte, habe die
Beschwerde an die Vorinstanz sehr wohl eine Begründung enthalten. Er, der
Beschwerdeführer, habe in seiner Beschwerde ausdrücklich festgehalten, dass er
den Entscheid der KESB Mittelland Nord nicht verstehe und damit nicht
einverstanden sei, weil er die Zahlungen für Wohnung, Krankenversicherung,
Strom und andere Rechnungen alleine erledige, sein Bankkonto selber verwalte
und dafür von niemandem Hilfe benötige. Sinngemäss habe er zudem, weil er nicht
bezahlen könne, die unentgeltliche Rechtspflege verlangt. Seien seine
Formulierungen in der Beschwerde an die Vorinstanz auch unvollkommen, so ergebe
sich daraus sowie aus dem Zusammenhang bei sinngemässer Interpretation und
Auslegung nach Treu und Glauben mit hinreichender Klarheit, was er gewollt habe
(keinen Entzug des Zugriffs auf seine Bankkonten) und warum (weil er seine
Zahlungen und Bankkontoverwaltung selber erledigen könne).

5. 
Gemäss Art. 450 Abs. 1 ZGB kann gegen Entscheide der Erwachsenenschutzbehörde
beim zuständigen Gericht Beschwerde erhoben werden. Die Beschwerde ist beim
Gericht "schriftlich und begründet" einzureichen (Art. 450 Abs. 3 ZGB; im
französischen Gesetzestext: "dûment motivé et interjeté par écrit"; im
italienischen Gesetzestext: "per scritto e motivato"). Anders als bei
Beschwerden gegen eine fürsorgerische Unterbringung, wo die Beschwerde ohne
Begründung erfolgen kann (Art. 450e Abs. 1 ZGB), bedarf die Beschwerde gegen
eine Verbeiständung also einer Begründung.
Im zu beurteilenden Fall ist umstritten, ob die Beschwerde an die Vorinstanz
ausreichend begründet war resp. ob sich der Beschwerde überhaupt eine
Begründung entnehmen lässt.

5.1. Da es sich bei Art. 450 ZGB um eine Vorschrift des Bundesrechts handelt,
prüft das Bundesgericht deren Anwendung frei (vorstehend E. 3).
Aus der Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches
(Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) vom 28. Juni 2006 ergeben
sich Hinweise zur Auslegung der Bestimmung. So wird zum Erfordernis von
Schriftlichkeit und Begründung explizit ausgeführt, in formeller Hinsicht
dürften keine hohen Anforderungen an die Begründung und an die Form gestellt
werden. Ein von einer betroffenen urteilsfähigen Person unterzeichnetes
Schreiben, aus dem das Anfechtungsobjekt ersichtlich sei und kurz hervorgehe,
warum sie mit der getroffenen Anordnung ganz oder teilweise nicht einverstanden
sei, solle hinreichend sein (vgl. BBl 2006 7001 ff., S. 7085). Diese
Formulierung wird in der Lehre übernommen (vgl. Hermann Schmid, Kommentar
Erwachsenenschutz, 2010, N. 27 zu Art. 450 ZGB; Daniel Steck, in: Basler
Kommentar, 5. Aufl. 2014; N. 42 zu Art. 450 ZGB; derselbe, in: Büchler/Häfeli/
Leuba/Stettler, FamKomm Erwachsenenschutz, 2013, N. 31 zu Art. 450 ZGB;
derselbe, in: Breitschmid/Rumo-Jungo, Handkommentar zum Schweizer Privatrecht,
2. Aufl. 2012, N. 27 zu Art. 450 ZGB; Patrick Fassbind, Erwachsenenschutz,
2012, S. 140). Demnach sind an die Begründung gemäss Art. 450 Abs. 3 ZGB
grundsätzlich keine überhöhten Anforderungen zu stellen.

5.2. Die Vorinstanz setzte sich im Nichteintretensentscheid vom 19. Oktober
2015 in keiner Weise mit den einzelnen Formulierungen der Beschwerde
auseinander. Sie hielt lapidar fest, die Eingabe enthalte "weder klare Anträge
noch eine Begründung" (E. 4). Der Beschwerdeführer habe keine Möglichkeit mehr,
seine Eingabe innerhalb der Beschwerdefrist zu ergänzen. Das Gericht trete
deshalb auf die Eingabe nicht ein.
Die Lektüre der Eingabe des Beschwerdeführers ergibt indes ein anderes Bild.
Vorab erklärt er ausdrücklich, dass er "mit dem Papier Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde KESB Mittelland Nord nicht gut nicht einverstanden"
sei. Das Anfechtungsobjekt ist damit klar. Ebenso klar ist, dass der
Beschwerdeführer mit der getroffenen Anordnung zumindest teilweise nicht
einverstanden ist. Aus dem nachfolgenden Satz ergibt sich sodann wörtlich, dass
er seine Zahlungen (er erwähnt beispielhaft die Rechnungen für die Wohnung, die
Krankenkasse C.________ und den Strom) selber mache und dafür keine Hilfe
benötige. Gleichzeitig geht aus dem Schreiben eindeutig hervor, dass der
Beschwerdeführer den ihm als Beistand bezeichneten Fürsprecher B.________ als
Menschen schätzt und dieser ihm bei Problemen helfe, wofür er dankbar ist. Ein
eigentlicher Antrag lässt sich der Beschwerde zwar nicht entnehmen. Angesichts
der Begründung (er mache seine Zahlungen selber und brauche niemanden für die
Kontoführung) ist das Anliegen des Beschwerdeführers aber offensichtlich: es
sei nämlich auf den Entzug seiner Vollmacht über die Konten zu verzichten.
Hingegen wendet er sich nicht grundsätzlich gegen eine Beistandschaft oder die
Person des Beistands. Der Begründungspflicht nach Art. 450 Abs. 3 ZGB ist damit
genüge getan.
Die Vorinstanz hat Bundesrecht verletzt, indem sie nicht auf die Beschwerde
eintrat.

5.3. Die Beschwerde ist gutzuheissen und die Vorinstanz aufzufordern, auf die
Beschwerde einzutreten und darüber zu befinden. Dabei wird die Vorinstanz auch
über das im kantonalen Verfahren sinngemäss gestellte Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege des Beschwerdeführers entscheiden. Vor diesem Hintergrund erübrigt
sich eine Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Rüge des
Beschwerdeführers.

6. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art.
66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Bern hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG), wobei die
Entschädigung direkt an den Anwalt des Beschwerdeführers zu leisten ist. Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird
damit gegenstandslos (Art. 64 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Bern vom 19. Oktober 2015 aufgehoben und die Angelegenheit zum Entscheid in der
Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird als gegenstandslos abgeschrieben.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Der Kanton Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. Die Entschädigung ist an den Rechtsvertreter
des Beschwerdeführers Fürsprecher Thomas Bittel auszurichten.

5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Mittelland Nord und dem Obergericht des Kantons
Bern, Zivilabteilung, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 4. Februar 2016
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Die Gerichtsschreiberin: Friedli-Bruggmann

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