Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.751/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
5A_751/2015

Urteil vom 20. Oktober 2016

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Schöbi, Bovey,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Nadia Flury,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________,
vertreten durch Fürsprecher Dr. René Müller,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Abänderung Scheidungsurteil,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau, Zivilgericht, 2. Kammer,
vom 19. August 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. B.________ und A.________ hatten 2006 geheiratet. Aus der Ehe gingen die
Töchter C.________ (geb. 2006) und D.________ (geb. 2009) hervor. D.________
war seit Geburt schwer behindert. Sie verstarb 2013.

A.b. Mit Urteil vom 5. Juli 2012 schied das Bezirksgericht Lenzburg die Ehe von
B.________ und A.________. Es genehmigte die von den Parteien geschlossene
Scheidungskonvention, soweit diese unter anderem einen mit Wirkung ab Juni 2012
monatlich im Voraus zu bezahlenden Unterhaltsbeitrag des Ehemanns an die
Ehefrau von Fr. 5'400.-- vorsah. Dieser Anspruch wurde grundsätzlich bis August
2027 befristet. Sollte die Tochter D.________ das 18. Altersjahr nicht
erreichen, so ende die Unterhaltspflicht per November 2024, also mit dem
vollendeten 18. Altersjahr von C.________. Des Weitern legte das Bezirksgericht
die Kinderunterhaltsbeiträge für die beiden Töchter mit Wirkung ab Juni 2012
auf je Fr. 1'300.-- pro Monat (zuzüglich allfällig bezogener Kinderzulagen)
fest. Dies gelte bis zur Volljährigkeit; im Falle der Tochter C.________
verlängere sich die Unterhaltspflicht gegebenenfalls bis zum Abschluss einer
Erstausbildung.

A.c. Mit Abänderungsklage vom 19. Dezember 2012 verlangte B.________ die
Herabsetzung des Kinder- sowie Ehegattenunterhalts. Das Bezirksgericht änderte
das Scheidungsurteil vom 5. Juli 2012 ab, indem es den Ehemann verpflichtete,
mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 an den persönlichen Unterhalt der Ehefrau
monatlich vorschüssig Fr. 3'600.-- zu bezahlen, dies bis Tochter C.________ im
November 2024 das 18. Altersjahr vollendet haben werde (Urteil vom 13. November
2014).

B. 
B.________ reichte am 19. März 2015 Berufung beim Obergericht des Kantons
Aargau ein. Er beantragte, er sei zu verpflichten, an den Unterhalt der Tochter
C.________ monatlich vorschüssig Fr. 700.-- (einschliesslich Kinderzulagen) zu
bezahlen, bis sie das 18. Altersjahr erreicht hat. Weiter sei er zu
verpflichten, an die Ehefrau monatlich vorschüssig bis November 2016 Fr.
2'300.-- zu bezahlen, danach bis November 2022 Fr. 1'650.--. Die neuen Kindes-
und Ehegattenunterhaltsbeiträge seien mit Wirkung ab dem 1. Januar 2013
festzulegen.
Das Obergericht hiess die Berufung teilweise gut. Es setzte den Beitrag an den
persönlichen Unterhalt der Ehefrau auf Fr. 2'800.-- fest. Im Übrigen wies es
das Rechtsmittel ab. Die Gerichtskosten des obergerichtlichen Verfahrens von
Fr. 2'500.-- auferlegte es dem Ehemann zu drei Vierteln und der Ehefrau zu
einem Viertel, befreite beide Parteien indessen zufolge bewilligter
unentgeltlicher Rechtspflege vorläufig von deren Bezahlung. Den Ehemann
verpflichtete das Obergericht, der unentgeltlichen Rechtsvertreterin der
Ehefrau für das obergerichtliche Verfahren die Hälfte ihrer auf Fr. 1'668.60
(einschliesslich Auslagen und Mehrwertsteuer) festgesetzten Parteientschädigung
zu bezahlen (Urteil vom 19. August 2015).

C. 
A.________ führt Beschwerde in Zivilsachen mit den Rechtsbegehren, der Ehemann
sei zu verpflichten, bis letztmals November 2024 an ihren persönlichen
Unterhalt monatlich vorschüssig Fr. 3'600.-- zu bezahlen. Die vorinstanzlichen
Gerichtskosten seien vollumfänglich dem Ehemann aufzuerlegen. Dieser sei
überdies zu verpflichten, ihr für das obergerichtliche Verfahren die
vorinstanzlich festgesetzten Parteikosten von Fr. 1'668.60 zu bezahlen. Für das
bundesgerichtliche Verfahren ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
B.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Es sei ihm für das
bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Im
Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels halten die Parteien an ihren
Rechtsbegehren fest. Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Angefochten ist der Endentscheid eines oberen Gerichts, das kantonal
letztinstanzlich über die Abänderung eines Scheidungsurteils bezüglich des
nachehelichen Unterhalts und damit in einer Zivilsache entschieden hat (Art.
90, Art. 75 und Art. 72 Abs. 1 BGG). Der Streitwert übersteigt gemäss
obergerichtlicher Feststellung den gesetzlichen Mindestbetrag (Art. 74 Abs. 1
lit. b BGG). Die im Übrigen fristgerecht (Art. 100 Abs. 1 BGG) eingereichte
Beschwerde in Zivilsachen ist grundsätzlich zulässig.

2.

2.1. Die Parteien hatten der Scheidungskonvention im Jahr 2012 ein
Nettoeinkommen des Ehemanns aus selbständiger Tätigkeit von Fr. 14'573.--
zugrundegelegt. Die Vorinstanz erwog nun, sein aktuelles Gehalt sei ungewiss.
Daher ging sie - wie schon das Bezirksgericht - von einem hypothetischen
Einkommen von Fr. 10'500.-- aus. Der im Scheidungszeitpunkt massgebende
Überschuss von Fr. 1'095.-- reduziere sich auf Fr. 451.75 (Einkommen von Fr.
10'500.-- abzüglich Existenzminima von Fr. 4'840.-- [Ehefrau] und Fr. 2'960.25
[Ehemann], Aufwendungen für Altersvorsorge von Fr. 2'000.-- und für eine
Todesfallversicherung von Fr. 248.--). Davon stünden der Ehefrau zwei Drittel
zu, ausmachend einen Betrag von Fr. 301.15. Ihr Unterhaltsanspruch belaufe sich
zusammen mit demjenigen von C.________ auf Fr. 5'641.15 (Existenzminimum von
Fr. 4'840.-- plus Überschussanteil und Vorsorgeunterhalt von Fr. 500.--). Mit
der Begründung, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Ehemanns habe um
27,2 % abgenommen, setzte die Vorinstanz den Unterhaltsanspruch für Ehefrau und
Tochter um diesen Prozentsatz auf Fr. 4'106.75 herab. Der
Kindesunterhaltsbeitrag sei bei Fr. 1'300.-- zu belassen. Für den
Ehegattenunterhalt verbleibe damit ein Betreffnis von Fr. 2'806.75 resp.
gerundet Fr. 2'800.--. Im Übrigen berücksichtigte das Obergericht den Wegfall
der behinderungsbedingten Mehrkosten als relevanten Abänderungsfaktor.

2.2. Zum letzteren Punkt wendet die Beschwerdeführerin ein, die vorinstanzliche
Bemessung der Unterhaltsbeiträge verletze Art. 129 ZGB: Ein Scheidungsurteil
könne nur angepasst werden, wenn die veränderten Tatsachen nicht schon im
Voraus berücksichtigt worden seien. Der Tod von D.________ sei im Zeitpunkt des
Scheidungsurteils voraussehbar gewesen. Entsprechend hätten die Parteien eine
klare Regelung über die Anpassung der Unterhaltsbeiträge für den Fall des
Ablebens von D.________ vorgenommen. Der vereinbarte Unterhalt sei einzig
bezüglich der Dauer des Anspruchs abänderlich, nicht aber, was dessen Höhe
angehe.
Weiter rügt die Beschwerdeführerin, es verstosse gegen Art. 129 ZGB, dass die
Vorinstanz die Einkommensverminderung beim Beschwerdegegner (von im Zeitpunkt
des Scheidungsurteils Fr. 14'573.-- auf Fr. 10'500.--) doppelt veranschlagt
habe. Nachdem das reduzierte Gehalt schon im Rahmen der Neuberechnung des
Unterhaltsanspruchs berücksichtigt worden sei, fliesse dieselbe Veränderung
anschliessend nochmals in Form eines Verlusts an wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit um 27,2 % ein. Das Obergericht habe ihr zu Unrecht
entgegengehalten, sie habe den (doppelten) Abzug im erstinstanzlichen Urteil
akzeptiert. Der vorinstanzliche Entscheid verletze auch Art. 125 ZGB: Die
zugesprochenen persönlichen Unterhaltsbeiträge seien tiefer als ihr
Existenzminimum, obwohl der Beschwerdegegner mit seinem anrechenbaren Einkommen
ohne Weiteres existenzdeckende Unterhaltszahlungen leisten könne. Darin liege
im Übrigen eine unzulässige Korrektur der Unterhaltsvereinbarung.

3.

3.1.

3.1.1. Zur Diskussion stehen im Wesentlichen zwei seit dem Scheidungsurteil
eingetretene tatsächliche Veränderungen und deren Bedeutung für die Bemessung
der laufenden Unterhaltsansprüche der geschiedenen Ehefrau und des gemeinsamen
Kindes (Art. 129 Abs. 1, Art. 134 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 286 Abs. 2 ZGB)
: Zum einen der Rückgang des ursprünglich zugrundegelegten Einkommens aus
selbständigem Erwerb von Fr. 14'573.-- auf das vorinstanzlich angerechnete
hypothetische Monatseinkommen von Fr. 10'500.--; zum andern der mit dem Tod von
D.________ einhergehende Wegfall der behinderungsbedingten Mehrkosten und
dessen Behandlung im Lichte der Scheidungskonvention.

3.1.2. Der Beschwerdegegner bringt vernehmlassungsweise vor, er habe seit dem
1. März 2016 eine neue Stelle. Die dem Scheidungsurteil zugrunde liegenden
Annahmen über das Einkommen seien überholt. Selbst der obergerichtlich
festgesetzte Unterhaltsbeitrag greife nun in sein Existenzminimum ein. Die
Ausführungen in der Beschwerdeantwort beruhen auf neuen Einkommensdaten. Das
Bundesgericht ist an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt gebunden und
darf schon von daher eine tatsächliche Entwicklung, die sich seit dem
angefochtenen Urteil zugetragen hat, nicht berücksichtigen (vgl. Art. 99 Abs. 1
BGG). Die betreffenden Noven wären allenfalls mit Abänderungsklage geltend zu
machen (Art. 284 ZPO und Art. 129 ZGB).

3.2. Aus der Differenz zwischen dem Überschuss im Scheidungszeitpunkt und
demjenigen bei der aktuellen Beurteilung hatte das Bezirksgericht eine
verminderte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Ehemanns von 27,2 %
abgeleitet. Die Vorinstanz hat, anders als das Bezirksgericht, zuerst eine
Neuberechnung mit dem nunmehr massgeblichen tieferen Lohn vorgenommen und
sodann dieselbe Tatsachenänderung nach der Methodik der ersten Instanz nochmals
verarbeitet. Diese Kombination zweier - allenfalls alternativ zu handhabenden -
Arten, dem Einkommensrückgang (direkt oder indirekt) Rechnung zu tragen, ist
unzulässig; sie verletzt Art. 125 und 129 ZGB. Nach der nicht weiter in Frage
gestellten Berechnung der Vorinstanz resultiert - ohne doppelte
Berücksichtigung des Einkommensrückgangs - neu ein Gesamt-Unterhaltsbetrag von
Fr. 5'641.15. Das Obergericht hat den Kindesunterhalt von C.________ bei Fr.
1'300.-- belassen. Der Anteil des Ehegattenunterhalts betrüge demnach Fr.
4'341.15. Die Beschwerdeführerin hatte die - auf einer einfachen
 Berücksichtigung der Einkommensminderung beruhende - erstinstanzliche
Festlegung des Ehegattenunterhalts auf Fr. 3'600.-- akzeptiert.
Letztinstanzlich beantragt sie dessen Bestätigung. Daran ist das Bundesgericht
gebunden (Art. 107 Abs. 1 BGG). Die von der Beschwerdeführerin als
scheidungskonventionswidrig gerügte Berücksichtigung des Wegfalls von
behinderungsbedingten Mehrkosten durch das Obergericht wirkt sich unter diesen
Umständen nicht zu ihren Ungunsten aus. Die Frage kann folglich offen bleiben.

4. 
Die Beschwerde ist begründet und der beantragte Ehegattenunterhaltsbeitrag von
Fr. 3'600.-- zuzusprechen. Ausführungen zu weiteren Vorbringen der
Beschwerdeführerin (betreffend Auflösung der im Aufwand des Beschwerdegegners
berücksichtigten Lebensversicherung, Wegfall des Vorsorgebeitrages beim
Beschwerdegegner infolge Wechsels des Erwerbsstatus) erübrigen sich.
Ebensowenig ist auf die Frage einzugehen, inwieweit das angefochtene Urteil im
Ergebnis zu einem unzulässigen Rückkommen auf das (auf Parteivereinbarung
beruhende) Scheidungsurteil führen würde (dazu Urteil 5A_187/2013 vom 4.
Oktober 2013 E. 7).

5. 
Das Obergericht wird die Kosten und Entschädigungen für das kantonale
Berufungsverfahren neu verlegen (Art. 68 Abs. 5 BGG). Für das
bundesgerichtliche Verfahren ist den Parteien antragsgemäss die unentgeltliche
Rechtspflege zu gewähren, unter Beigabe der jeweiligen Rechtsvertreter (Art. 64
Abs. 1 und 2 BGG). Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdegegner aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 BGG); sie werden einstweilen aber auf die Bundesgerichtskasse
genommen. Ferner sind für das bundesgerichtliche Verfahren beide
Rechtsvertreter aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 64 Abs. 2
BGG; vgl. Urteil 5A_945/2015 vom 7. Juli 2016 E. 6).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 19. August 2015 wird mit Bezug auf die Höhe des
Ehegattenunterhaltsbeitrages aufgehoben. Der Beschwerdegegner wird
verpflichtet, der Beschwerdeführerin einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von
Fr. 3'600.-- zu bezahlen.

2. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der kantonalen Gerichts- und Parteikosten an
das Obergericht zurückgewiesen.

3. 
Die Gesuche der Parteien um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren werden gutgeheissen. Der Beschwerdeführerin wird
Rechtsanwältin Nadia Flury und dem Beschwerdegegner Fürsprecher Dr. René Müller
je als amtlicher Rechtsbeistand bestellt.

4. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt,
einstweilen aber auf die Bundesgerichtskasse genommen.

5. 
Die Rechtsvertreter der beiden Parteien werden für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Bundesgerichtskasse je mit Fr. 2'500.-- entschädigt.

6. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Zivilgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. Oktober 2016
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Der Gerichtsschreiber: Traub

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