Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.729/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
5A_729/2015

Urteil vom 17. Juni 2016

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
1. A.A.________,
2. B.A._ _______,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans M. Weltert,
Beschwerdeführerinnen,

gegen

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Nidwalden (KESB).

Gegenstand
Errichtung einer Beistandschaft,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden,
Verwaltungsabteilung, vom 1. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 

A.a. A.A.________ (geb. 1921) und ihre Tochter B.A.________ führen gemeinsam
einen Prozess vor dem Obergericht Nidwalden. Gegenparteien sind die beiden
Söhne von A.A.________. Strittig ist, ob der inzwischen verstorbene Ehemann von
A.A.________ urteilsfähig war, als er am 6. März 2002 einen Ehe- und Erbvertrag
unterzeichnete.
A.A.________ leidet an schwerer Demenz (Zeugnis von med. pract. C.________ vom
12. Dezember 2013). Daher ersuchte der Präsident des Obergerichts die Kindes-
und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Nidwalden am 16. Dezember 2013, für sie
einen Prozessbeistand einzusetzen. Die KESB informierte B.A.________ über ihre
Absicht, als Vertretungsbeiständin Rechtsanwältin D.________ einzusetzen
(Schreiben vom 18. Juni 2014). Am 10. Juli 2014 lehnte B.A.________ diesen
Vorschlag ab. Das Mandat sei an einen ausserkantonalen Juristen zu vergeben;
nur ein solcher sei unabhängig genug. Am 8. September 2014 ergänzte sie,
Rechtsanwältin D.________ sei nicht die richtige Person, um die Interessen
ihrer Mutter zu vertreten, weil sie in den Jahren 2004 bis 2010
Stellvertreterin des Obergerichtspräsidenten gewesen sei; diesem wiederum sei
wegen der Art der Verfahrensleitung im hängigen Prozess Befangenheit
vorzuwerfen. Zudem ersuchte B.A.________ um (weitere) Erstreckung der Frist zur
Benennung einer Vertrauensperson als Prozessbeistand bis 31. Oktober 2014.

A.b. Die KESB entschied am 16. September 2014, zur Vertretung von A.A.________
im hängigen Prozess eine Beistandschaft nach Art. 394 Abs. 1 ZGB anzuordnen.
Die beantragte Fristerstreckung lehnte die Behörde ab. Sie ernannte
Rechtsanwältin D.________ zur Vertretungsbeiständin.

B. 
B.A.________ erhob am 17. Oktober 2014 in ihrem und im Namen ihrer Mutter
Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden. Sie beantragte,
soweit letztinstanzlich noch von Belang, die Aufhebung des angefochtenen
Entscheids bzw. der Vertretungsbeistandschaft durch Rechtsanwältin D.________.
Ausserdem erneuerte sie den bereits im Verwaltungsverfahren gestellten Antrag,
die KESB habe ein Anhörungsgespräch durchzuführen. Ferner ersuchte sie um
Ansetzung einer achtwöchigen Frist, um der Behörde einen anderen
Prozessbeistand vorzuschlagen. Im Verlauf des kantonalen Beschwerdeverfahrens
schlug B.A.________ vor, Rechtsanwalt Dr. E.________ als Vertretungsbeistand
einzusetzen.
Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat (Urteil
vom 1. Juni 2015).

C. 
A.A.________ und B.A.________ liessen am 14. September 2015 Beschwerde in
Zivilsachen erheben. Sie beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.
Die Vertretungsbeistandschaft durch Rechtsanwältin D.________ sei aufzuheben
und die Sache zur korrekten Durchführung des Verfahrens und neuen Beurteilung
an die KESB zurückzuweisen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das
Verwaltungsgericht zurückzuweisen.
Mit Präsidialverfügung vom 9. Oktober 2015 erkannte das Bundesgericht der
Beschwerde antragsgemäss die aufschiebende Wirkung zu, nachdem es die KESB und
das Verwaltungsgericht angehört hatte.
In der Sache holte das Bundesgericht keine Vernehmlassungen ein.

Erwägungen:

1. 
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid (Art. 75 Abs. 1
und 2 BGG, Art. 90 BGG). Dieser betrifft den Erwachsenenschutz und damit einen
öffentlich-rechtlichen Entscheid, der in unmittelbarem Zusammenhang mit
Zivilrecht steht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG). Die Frist ist eingehalten
(Art. 100 Abs. 1 BGG). Die Beschwerde in Zivilsachen ist damit grundsätzlich
gegeben.

2. 
Näherer Betrachtung bedarf die Frage, ob die beiden Beschwerdeführerinnen
persönlich zur Erhebung des Rechtsmittels berechtigt sind.

2.1. 

2.1.1. Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, A.A.________ leide an schwerer
Demenz. Daher sei sie nicht mehr imstande, sich zur Frage der Beistandsperson
zu äussern oder selber einen Vorschlag zu machen. Nach der Rechtsprechung gelte
eine im Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung umfassend verbeiständete Person mit
Bezug auf die Frage nach ihrer eigenen Handlungs- und Prozessfähigkeit indessen
als prozessfähig (Urteil 5A_101/2014 vom 6. März 2014 E. 1.2). Diese Überlegung
sei hier sinngemäss einschlägig. Der vom Verwaltungsgericht zitierte Grundsatz
bezieht sich auf die besondere Situation, dass Eintretens- und materielle
Streitfrage identisch sind. Hier ist indessen nicht die Einschränkung der
Handlungsfähigkeit im Erbschaftsprozess strittig, sondern allein die Person des
Prozessbeistandes. Entscheidend ist daher die Feststellung der Vorinstanz, dass
die Betroffene selber nicht mehr in der Lage ist, sich über die Person der
Prozessbeiständin einen Willen zu bilden und diesen zu äussern. B.A.________
bestreitet nicht, dass ihre Mutter an einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung
leidet. Was deren Auswirkungen betrifft, so wird in der Beschwerde nicht
substantiiert dargetan, inwiefern das kantonale Gericht die betreffenden
Verhältnisse willkürlich festgestellt habe (Art. 97 Abs. 1 sowie 105 Abs. 1 und
2 BGG; BGE 140 III 16 E. 1.3.1 S. 18).
Somit war und ist A.A.________ im erwachsenenschutzrechtlichen Verfahren nicht
prozessfähig. Unter diesen Umständen könnte sie ihre Tochter B.A.________ auch
nicht mehr bevollmächtigen, damit sie das Verfahren in ihrem Namen führe (vgl.
Urteil 5A_785/2011 vom 6. Januar 2012 E. 1.2.3). Im Übrigen hat das
Verwaltungsgericht zu Recht festgehalten, dass die am 21. Oktober 2005
aufgesetzte öffentliche Urkunde ("Altersverfügung"), mit welcher B.A.________
von ihrer Mutter ermächtigt wird, ihre administrativen Angelegenheiten zu
besorgen, darunter die Vertretung "im Verkehr mit Gerichten", nicht auch die
Befugnis einschliesst, darüber zu entscheiden, ob und mit welchen Begehren im
Namen der Vollmachtgeberin der Rechtsweg beschritten werden soll.

2.1.2. Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde nicht einzutreten, soweit sie
im Namen von A.A.________ erhoben worden ist.

2.2. Zu prüfen bleibt die Beschwerdelegitimation von B.A.________.

2.2.1. Nach Art. 76 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in Zivilsachen berechtigt,
wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur
Teilnahme erhalten hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid oder Erlass
besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder
Änderung hat (lit. b). Ein praktisches und aktuelles Interesse an der Aufhebung
oder Änderung des angefochtenen Entscheids genügt (Klett, Basler Kommentar zum
BGG, 2. Aufl. 2011, N. 4 zu Art. 76 BGG). Gemäss revidierter, seit 1. Januar
2011 gültiger Fassung von Art. 76 BGG ist ein rechtlich geschütztes Interesse
nicht mehr erforderlich (von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG],
Seiler et al. [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 8 f. zu Art. 76 BGG).

2.2.2. Vor Bundesgericht wird grundsätzlich ein eigenes schutzwürdiges
Interesse der beschwerdeführenden Person vorausgesetzt (URTEILE 5A_911/2015 VOM
21. JANUAR 2016 E. 3.1, 5A_649/2015 VOM 2. OKTOBER 2015 E. 3, 5A_674/2015 VOM
29. SEPTEMBER 2015 E. 1.2, 5A_399/2015 VOM 27. JULI 2015 E. 2). Soweit
B.A.________ Interessen ihrer Mutter geltend macht, ist sie nicht legitimiert,
im eigenen Namen Beschwerde zu führen; ein Fall von Prozessstandschaft (vgl.
BGE 137 III 293 E. 3.2 S. 29) ist nicht gegeben. Die Ausnahmebestimmung von
Art. 450 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB, wonach Personen, welche der betroffenen Person
nahestehen, befugt sind, gegen Entscheide der Erwachsenenschutzbehörde
Beschwerde zu führen, gilt für den kantonalen Rechtsweg. Vor Bundesgericht
richtet sich die Beschwerdebefugnis einzig nach Art. 76 Abs. 1 BGG (Urteile
5A_295/2015 vom 29. Juni 2015 E. 1.2.1 und 5A_345/2015 vom 3. Juni 2015 E.
1.2.2).

2.2.3. Gemäss Art. 401 Abs. 2 ZGB berücksichtigt die Erwachsenenschutzbehörde,
soweit tunlich, Wünsche der Angehörigen oder anderer nahestehender Personen.
Aus dieser als verletzt gerügten Gesetzesbestimmung als solcher ergibt sich
ebenfalls kein eigenes schutzwürdiges Interesse der Angehörigen B.A.________.
Vorschläge oder Einwendungen nach Art. 401 Abs. 2 ZGB dienen dem öffentlichen
Interesse an einem funktionierenden Erwachsenenschutz und dem individuellen
Interesse der zu verbeiständenden Person, einen geeigneten Beistand zu erhalten
(Ruth E. Reusser, Basler Kommentar, ZGB I, 5. Aufl. 2014, N. 19 zu Art. 401
ZGB).

2.2.4. Die Beschwerdeführerin benennt ein eigenes Interesse an der Aufhebung
der strittigen Verfügung: Sie prozessiere im Streit um die Gültigkeit des Ehe-
und Erbvertrages vor Obergericht an der Seite ihrer Mutter. Demnach müsse sie
nach dem Willen der Vorinstanzen mit einer Prozessbeiständin zusammenarbeiten,
deren Unabhängigkeit sie bestreite.
Es stellt sich die Frage, ob die Beschwerdeführerin mit diesen Ausführungen
eine im Sinne von Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG gesteigerte Beziehungsnähe zur
Streitsache dargetan hat, das heisst, ob ein schutzwürdiges Interesse vorliegt
in Form des praktischen Nutzens, den sie aus der Aufhebung oder Änderung des
angefochtenen Entscheids zöge (vgl. BGE 141 II 307 E. 6.2 S. 312 [zu Art. 89
BGG]). Dieser Nutzen läge aus Sicht der Beschwerdeführerin darin, dass sie den
erbrechtlichen Prozess vor Obergericht nicht gemeinsam mit einer
Prozessvertreterin der Mutter führen müsste, zu welcher sie kein
Vertrauensverhältnis aufbauen könne.
Die beantragte Änderung oder Aufhebung des Entscheids muss den angestrebten
Vorteil  direkt bewirken. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn der
gewünschte Verfahrensausgang die Erreichung dieses Ziels nur indirekt
begünstigt (vgl. Klett, a.a.O., N. 4a und 5 zu Art. 76 BGG). So ist etwa die
Vermutung von beschwerdeführenden Eltern, ein anderer Beistand ihrer Tochter
werde sich bei der Frage des Entgelts für Betreuungsleistungen der Eltern
grosszügiger zeigen, nicht legitimationsbegründend (erwähntes Urteil 5A_295/
2015 vom 29. Juni 2015 E. 1.2.3.1). Auch im vorliegenden Fall träte der
angestrebte Vorteil bei einer Gutheissung nicht unmittelbar ein: Weder steht
fest, dass die Interessenlagen von Mutter und Tochter im erbrechtlichen Prozess
effektiv deckungsgleich sind und bleiben, noch ist vorhersehbar, wie sich die
bezeichnete Beiständin tatsächlich verhalten würde. Die Beschwerdeführerin ist
daher auch unter den geltend gemachten besonderen Umständen nicht aus eigenem
Interesse beschwerdelegitimiert.

2.3. Weiter bringt die Beschwerdeführerin vor, KESB und Verwaltungsgericht
hätten ihre Mitwirkungsbefugnisse willkürlich beschnitten: So habe die
Verwaltung das ihr als Angehöriger in Art. 401 Abs. 2 ZGB eingeräumte Recht zur
Beteiligung am Verfahren abgeschnitten, indem sie die Beiständin ernannt habe,
ohne ihr Gesuch um eine Frist für einen eigenen Vorschlag abzuwarten. Die
Vorinstanz wiederum habe verkannt, dass die Verfügung der KESB vom 16.
September 2014 auf einem rechtsfehlerhaften Verfahren beruhe.
Damit macht sie sinngemäss eine formelle Rechtsverweigerung geltend (vgl.
Reusser, a.a.O., N. 27 und 30 zu Art. 401 ZGB). Nachdem Art. 401 Abs. 2 ZGB
einer Angehörigen per se nicht ein schützenswertes Interesse an der
Beschwerdeführung verleiht (oben E. 2.2.3), bliebe nur noch zu prüfen, ob sich
die Legitimation allenfalls aus einer Verletzung von Verfahrensteilnahmerechten
ergibt, deren Missachtung einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt (vgl.
BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 5; 138 IV 78 E. 1.3 S. 80; 136 II 383 E. 3 S. 388).
Diese Frage kann hier offen bleiben: Die Vorinstanz hat sich mit den
Argumenten, welche die Beschwerdeführerin im Rahmen einer Mitwirkung nach Art.
401 Abs. 2 ZGB einbringen will, bereits befasst. Würde die Legitimation bejaht
- und die Sache folglich zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen
-, so wäre das kantonale Gericht angehalten, sich zu den bereits beurteilten
Fragen erneut zu äussern. Die zitierte Praxis kann indessen nur den Weg zu
einer Verfahrensteilnahme eröffnen und nicht die Wiederanhandnahme schon
behandelter Fragen bewirken. Andernfalls würde der Beschwerdeführerin im
Ergebnis eine Legitimation in der Sache selber eingeräumt.

2.4. Nach dem Gesagten ist auch auf die Beschwerde der B.A.________ unter
keinem der in Frage kommenden Gesichtspunkte einzutreten.

3. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Beschwerdeführerinnen
kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie haften solidarisch für die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 5 BGG). Parteientschädigungen sind keine zu
sprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden den Beschwerdeführerinnen unter
Solidarhaft auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde
Nidwalden (KESB) und dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden,
Verwaltungsabteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. Juni 2016
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Der Gerichtsschreiber: Traub

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