Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.623/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
5A_623/2015

Urteil vom 7. September 2015

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Schöbi,
Gerichtsschreiber Möckli.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,

gegen

B.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Susanne Crameri,
Beschwerdegegnerin,

betroffenes Kind:
C.________,
verbeiständet durch Rechtsanwältin Daniela Langenauer.

Gegenstand
Rückführung eines Kindes,

Beschwerde gegen das Urteil vom 6. August 2015 und den Beschluss vom 7. August
2015 des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer.

Sachverhalt:

A. 
B.________ (1962) und A.________ (1954), welche sich in U.________
(Deutschland) kennengelernt haben, sind die nicht miteinander verheirateten
Eltern von C.________ (geb. 2002). Alle drei Personen sind deutsche
Staatsbürger.
Von Mai 2007 bis Herbst 2008 lebte die Familie gemeinsam und ab da getrennt in
Norwegen, wobei gemäss Entscheid des Amtsgerichts Sø r-Trø ndelag vom 25.
Februar 2010 den Eltern das Sorgerecht gemeinsam zukommt und sich der
gewöhnliche Aufenthaltsort von C.________ am Domizil der Mutter befindet;
ferner wurde im Entscheid eine umfassende Kontaktregelung für den Vater
getroffen.
Der Vater verliess Norwegen im Jahr 2011, hielt sich für ein Sabbatical in den
Niederlanden auf und arbeitet seit 2012 in der Schweiz als Psychiater (zuerst
in der Klinik V.________; seit dem 1. Juli 2015 in der W.________; zudem
verrichtet er ein kleines Pensum in einer Privatpraxis in X.________). Die
Mutter kehrte mit C.________ im August 2013 aus Norwegen nach U.________
zurück, wo sie am Uniklinikum als Psychologin im Bereich Psychoonkologie
arbeitet. C.________ ist seither in U.________ eingeschult.
Am 11. Juni 2015 reiste C.________ ohne Wissen der Mutter mit dem Zug nach
Schaffhausen, wo ihn der Vater abholte. In der Folge hielt sich C.________ beim
Vater in V.________ auf.

B. 
Mit Beschluss vom 12./16. Juni 2015 wies das Amtsgericht U.________ das vom
Vater eingebrachte Begehren um Abänderung des im Entscheid des Amtsgerichts
Sør-Trøndelag vom 25. Februar 2010 angeordneten gemeinsamen Sorgerechts und
Zuteilung der alleinigen Sorge an ihn ab; das Gericht erklärte den Entscheid
für sofort wirksam. Der Vater hat ihn beim Oberlandesgericht Stuttgart
angefochten, wo das Verfahren auf Abänderung des Sorgerechts zur Zeit hängig
ist.

C. 
Am 16. Juni 2015 stellte die Mutter beim Bundesamt für Justiz in Bonn einen
Antrag auf Rückführung von C.________.
Mit Gesuch vom 1. Juli 2015 beantragte sie beim Obergericht des Kantons Zürich
die unverzügliche Rückführung des Kindes nach Deutschland.
Die vom Obergericht angeordnete Mediation scheiterte.
Am 4. August 2015 hörte das Obergericht das Kind und an der Hauptverhandlung
vom 5. August 2015 hörte es beide Elternteile an.
Mit Urteil vom 6. August 2015 ordnete das Obergericht die Rückführung von
C.________ nach Deutschland an. Den Vollzug regelte es dahingehend, dass
C.________ der Mutter übergeben wird, unter Ermächtigung der Kantonspolizei
Zürich zu allfällig notwendigen Zwangsmassnahmen.
Im Rahmen der Fortsetzungsverhandlung vom 7. August 2015 wurde das Urteil den
Parteien eröffnet. Sodann wurde es C.________ im Beisein der Beiständin in
einem separaten Raum eröffnet. Anschliessend wurde die Verabschiedung von Vater
und Sohn unter Beisein einer Fachperson von der Gewaltprävention organisiert.
In der Folge wollte der Vater in Eigenregie einen Notfallpsychiater aufbieten
und stellte schliesslich einen förmlichen Antrag auf Begutachtung des Sohnes im
Zusammenhang mit der Reisefähigkeit. Dazu konnten die Mutter und die Beiständin
mündlich Stellung nehmen. Die Mutter erklärte, als Fachperson in der Lage zu
sein und über das notwendige Instrumentarium zu verfügen, um sich C.________ in
der schwierigen Situation anzunehmen; es brauche einen klaren Schnitt, um die
für C.________ belastende Situation zu unterbrechen. Die Beiständin war
ebenfalls der Ansicht, dass der Aufenthalt von C.________ in der konkreten
Situation nicht verlängert werden sollte, zumal die Mutter notfalls auch in
U.________ kinderpsychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen könne und die etwa
zweistündige Rückreise nach U.________ für C.________ keine Gefahr darstelle.
Darauf wies das Obergericht den Antrag des Vaters mit Beschluss ab. Nach
definitiver Verabschiedung zwischen Vater und Sohn wurde dieser der Mutter
übergeben, welche mit ihm und ihrem Vater (Grossvater von C.________) im Auto
nach U.________ zurückfuhr, bis zur Grenze in Begleitung einer Patrouille der
Kantonspolizei.

D. 
Am 17. August 2015 hat der Vater, nunmehr ohne anwaltliche Vertretung, gegen
das Urteil vom 6. August 2015 und gegen den Beschluss vom 7. August 2015 eine
Beschwerde eingereicht mit dem Begehren um Abweisung (gemeint: Aufhebung) des
Urteils und des Beschlusses. Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt, aber
die kantonalen Akten beigezogen.

Erwägungen:

1. 
Bei Rückführungsentscheiden nach dem Haager Übereinkommen über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ, SR
0.211.230.02) geht es um die Regelung der Rechtshilfe zwischen den
Vertragsstaaten (BGE 120 II 222 E. 2b S. 224), die in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Respektierung und Durchsetzung ausländischen Zivilrechts
steht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 1 BGG; BGE 133 III 584). Gegen das Urteil
und den Beschluss des Obergerichtes, welches als einzige kantonale Instanz
entschieden hat (Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes über internationale
Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und
Erwachsenen, BG-KKE, SR 211.222.32), ist die Beschwerde in Zivilsachen
grundsätzlich gegeben.
Das Beschwerderecht ist indes daran geknüpft, dass der Beschwerdeführer ein
schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des Entscheides hat
(Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG). Ein solches besteht grundsätzlich nur dann, wenn
im Zeitpunkt des bundesgerichtlichen Entscheides nach wie vor ein aktuelles und
praktisches Interesse an der Gutheissung der Beschwerde besteht (BGE 139 I 206
E. 1.1 S. 208; 140 III 92 E. 1.1 S. 93 f.). Vorliegend fragt sich, ob ein
solches Interesse noch gegeben ist, weil C.________ am 7. August 2015 nach
Deutschland an seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthaltsort zurückgekehrt
ist, wo im Übrigen das materielle Sorgerechtsverfahren läuft.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG
erschöpft sich das schutzwürdige Interesse nicht darin, dasseinzelnen Begehren
nicht oder nicht voll entsprochen wurde; erforderlich ist vielmehr, dass der
Entscheid über die Beschwerde geeignet ist, dem Beschwerdeführer den
angestrebten Erfolg zu verschaffen (BGE 114 II 189 E. 2 S. 190; 127 III 41 E.
2b S. 42). Dies ist ausgeschlossen, wenn den schweizerischen Gerichten die
internationale Zuständigkeit dafür fehlt, bei Gutheissung der Beschwerde die
Rückführung eines Kindes, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland
hat, in die Schweiz anzuordnen (Urteil 5A_210/2014 vom 19. Juni 2014 E. 2).
A.________ hatte vor seinem Zurückhalten - er ist offenbar selbst in die
Schweiz gereist, so dass nicht ein Verbringen, sondern die Variante des
Zurückhaltens im Sinn von Art. 3 HKÜ vorliegt - durch den Vater in der Schweiz,
wodurch das auch der Mutter zustehende Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht
widerrechtlich verletzt wurde (Art. 3 und 5 HKÜ; vgl. im Übrigen zu den
Rückführungsvoraussetzungen die Ausführungen im angefochtenen Urteil, S. 13
f.), seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in U.________. Folglich waren die
deutschen Behörden gestützt auf das Haager Kindesschutzübereinkommen (HKsÜ, SR
0.211.231.011) nicht nur vor der Einreise des Kindes in die Schweiz (vgl. Art.
5 Abs. 1 HKsÜ), sondern auch nach dem widerrechtlichen Zurückhalten in der
Schweiz für das materielle Sorgerechtsverfahren ausschliesslich zuständig (vgl.
Art. 7 HKsÜ). Die schweizerischen Gerichte sind mithin in keinem Zeitpunkt für
materielle Belange zuständig gewesen und C.________ konnte in der Schweiz nie
gewöhnlichen Aufenthalt im Rechtssinn begründen, weshalb keine gesetzliche
Grundlage bestünde, um den nach Deutschland zurückgekehrten C.________ bei
einem gutheissenden Beschwerdeentscheid in die Schweiz zurückzuholen. Daher
fehlt nach dem Gesagten ein schützenswertes Interesse an der Behandlung der
Beschwerde.
Ausnahmsweise verzichtet die Rechtsprechung auf das Erfordernis des
fortdauernden Interesses, wenn sich die gerügte Rechtsverletzung jederzeit
wiederholen könnte und eine rechtzeitige gerichtliche Überprüfung kaum je
möglich wäre (sog. virtuelles Interesse, vgl. BGE 139 I 206 E. 1.1 S. 208; 140
III 92 E. 1.1 S. 94). Der Vater macht kein solches Interesse geltend und ein
solches wäre im Zusammenhang mit Rückführungen auch kaum zu sehen, weil diese
stark einzelfallbasiert sind und sich schlecht verallgemeinern lässt, wie der
Rückführungsentscheid am kindesgerechtesten vollzogen werden kann. Ohnehin kann
aber nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung von vornherein kein virtuelles
Interesse bestehen, wenn in Deutschland das materielle Sorgerechtsverfahren
hängig ist, so dass sich der Vater an die dort zuständigen deutschen Behörden
wenden kann und muss (Urteil 5A_210/2014 vom 19. Juni 2014 E. 3). Vorliegend
hat er dies denn auch getan.
Nach dem Gesagten ist kein schützenswertes Interesse im Sinn von Art. 76 Abs. 1
lit. b BGG an einem Beschwerdeentscheid gegeben. Rechtsfolge ist, dass auf die
Beschwerde nicht eingetreten werden kann (BGE 137 I 23 E. 1.3.1 S. 24; 139 I
206 E. 1.1 S. 208).

2. 
Nur mit kurzen Worten sei festgehalten, dass der Beschwerde ohnehin auch in der
Sache kein Erfolg hätte beschieden sein können.
Von vornherein nicht mit Beschwerde in Zivilsachen vorgebracht werden könnte
die Pauschalkritik an den schweizerischen und ausländischen Behörden sowie der
Vorwurf, mit dem konkreten Vorgehen hätten diese Straftaten begangen; abgesehen
davon, dass die Vorwürfe haltlos sind, hätte die II. zivilrechtliche Abteilung
des Bundesgerichtes weder eine disziplinarische Aufsicht über die betreffenden
Behörden noch irgendwelche strafrechtlichen Kompetenzen.
Soweit der Vater sachverhaltsmässige und inhaltliche Kritik am angefochtenen
Urteil vom 6. August 2015 und Beschluss vom 7. August 2015 übt, ist
festzuhalten, dass das Obergericht den Sachverhalt umfassend abgeklärt,
insbesondere ausführlich das Kind (7 Seiten sinngemässe Zusammenfassung
Anhörung C.________) und die Parteien (23 Seiten Wortprotokoll Anhörung Mutter;
35 Seiten Wortprotokoll Anhörung Vater) angehört und sich intensiv mit dem
breit angelegten Sorgerechtsverfahren von U.________ auseinandergesetzt hat
(vgl. Urteil, S. 15 und 16 sowie 18 und 19). Sodann hat es in seinem
25-seitigen Entscheid die Rückführungsvoraussetzungen wie auch die
Ausschlussgründe eingehend geprüft und korrekt dargestellt. Eine Verletzung von
Bundesrecht ist nicht ansatzweise ersichtlich; insbesondere hat das Obergericht
entgegen der Behauptung des Vaters weder an der Thematik vorbei entschieden
noch die Dyslexie und Dyskalkulie, an welcher C.________ leidet und die zu
behandeln ist, unbeachtet gelassen.
Soweit der Vater die Umstände des Vollzuges der Rückführung in Frage stellt,
ist Folgendes festzuhalten: Wie aus dem Rückführungsurteil, in welchem auf die
eigenen Wahrnehmungen des Gerichtes und auf die (umfassend protokollierten)
Aussagen der Beiständin verwiesen wird, hervorgeht, ist C.________ zwischen den
Elternteilen buchstäblich zerrissen (vgl. Urteil, S. 9) und steht er unter
enormem Druck, welcher sich insbesondere aus der ausgeprägten väterlichen
Dominanz ergibt, mit welcher C.________ überfordert ist (vgl. Urteil, S. 11),
was auch bei der gerichtlichen Anhörung und bei den Aussagen von C.________
gegenüber der Beiständin zum Ausdruck kam (vgl. Urteil, S. 21). Die
ungewöhnliche Dominanz des Vaters und die schädliche Druckausübung auf den Sohn
erachtete das Obergericht u.a. auch aufgrund des unangemessenen väterlichen
Verhaltens bei der Anhörung von C.________ durch das Gericht in U.________
(dazu Urteil, S. 11 f.) und bei den vom Obergericht organisierten Besuchen der
Mutter (dazu Urteil, S. 12) als erstellt. Vor diesem Hintergrund verstiess die
Übergabe von C.________ an die Mutter am 7. August 2015 weder in formeller
Hinsicht - zum einen war das Obergericht nicht nur befugt, sondern
verpflichtet, den Vollzug der Rückführung zu regeln (Art. 11 Abs. 1 BG-KKE) und
zum anderen sind die Vollzugsanordnungen grundsätzlich sofort umsetzbar, weil
der Beschwerde in Zivilsachen grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung zukommt
(Art. 103 Abs. 1 BGG) - noch von der Sache her gegen Bundesrecht, war es doch
im Kindesinteresse, den für C.________ geradezu lähmenden Loyalitätskonflikt
nicht länger andauern zu lassen. Solange der Elternkonflikt - um die Worte des
Obergerichtes zu verwenden (vgl. Urteil, S. 11) - für C.________ derart
dominierend ist und sein Leben bestimmt, wird er kaum in der Lage sein, sich
auf das, was ihn angeht und was er zu üben und zu lernen hat, einzulassen
(Überwindung der Dyslexie und Dyskalkulie). Angesichts der klar erstellten
Rückführungssituation war ein Andauern der für den fragilen C.________ kaum
tragbaren Ungewissheit nicht zumutbar und seine umgehende Rückkehr in
Begleitung der Mutter und des Grossvaters in seinem besten Interesse, mithin
auch im Sinn von Art. 12 Abs. 2 BG-KKE.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben (Art. 26 Abs. 2 HKÜ). Der
Beschwerdeführer ist vor Bundesgericht nicht mehr anwaltlich vertreten, weshalb
keine Vertretungskosten entstanden sind.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2. 
Es werden weder Kosten erhoben noch Entschädigungen gesprochen.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, C.________, dem Bundesamt für Justiz,
Zentralbehörde für Kindesentführungen und dem Obergericht des Kantons Zürich,
II. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. September 2015
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Der Gerichtsschreiber: Möckli

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