Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.400/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
5A_400/2015

Urteil vom 25. Februar 2016

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,
Gerichtsschreiber Möckli.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Ingrid Indermaur,
Beschwerdeführer,

gegen

B.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Michèle Strähl-Obrist,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Gemeinsame elterliche Sorge,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 11.
März 2015.

Sachverhalt:

A.
B.________ und A.________, welche nie zusammengelebt haben, sind die Eltern der
2010 geborenen Tochter C.________. Die Mutter war damals mit einem anderen Mann
verheiratet und ist zwischenzeitlich eine neue Ehe eingegangen. Der Vater ist
abgewiesener Asylant mit einem vorläufigen Bleiberecht und lebt von der
Nothilfe in einer Notschlafstelle. Am Anfang hatte er noch Kontakt zu
C.________; seit Mai 2011 fand kein Kontakt mehr statt.

B.
Auf Gesuch des Vaters hin beschloss die Vormundschaftsbehörde U.________ am 17.
September 2012, dem Vater stehe gegenüber der Tochter im Oktober, November und
Dezember 2012 ein begleitetes Besuchsrecht von jeweils zwei Stunden zu. Eine
dagegen erhobene Beschwerde des Vaters wies das Departement für Justiz und
Sicherheit am 12. Dezember 2012 ab.
Am 19. Dezember 2012 ersuchte der Vater erneut um die Regelung des
Besuchsrechts. Die KESB U.________ räumte ihm mit Entscheid vom 24. April 2013
das Recht ein, seine Tochter jeden ersten und dritten Sonntag im Monat für
jeweils zwei Stunden in Begleitung zu besuchen, unter Errichtung einer
Besuchsbeistandschaft.
Die Beiständin berichtete am 12. November 2013, dass die Mutter sich jeglicher
Kooperation entziehe und sich das Besuchsrecht nicht durchsetzen lasse. Am 19.
Februar 2014 genehmigte die KESB den Bericht, unter Aufrechterhaltung der
Beistandschaft, und wies die Mutter unter Androhung einer Ungehorsamsstrafe
nach Art. 292 StGB an, den persönlichen Verkehr zwischen Vater und Tochter zu
ermöglichen.
Am 16. Juli 2014 berichtete die Beiständin, der Vater suche nach wie vor den
Kontakt zu seiner Tochter, aber die Mutter verweigere jegliche Kooperation; es
sei ihr (Beiständin) unmöglich, ihre Aufgabe wahrzunehmen.

C.
Am 29. Juli 2014 beantragte der Vater, C.________ sei unter die gemeinsame
elterliche Sorge zu stellen und die angedrohte Ungehorsamsstrafe sei zu
vollziehen. Die Mutter erklärte sich damit nicht einverstanden; der Vater könne
keine Verantwortung tragen und sei im Umgang mit einem Kind überfordert. Am 19.
Dezember 2014 ergänzte der Vater sein Gesuch dahingehend, dass die Beiständin
ihn bei seinem ersten Schulbesuch begleiten und soweit erforderlich auch
weitere Begleitungen im Schulbereich gewährleisten solle.
Mit Entscheid vom 21./22. Januar 2015 genehmigte die KESB U.________ den
Bericht der Beiständin vom 16. Juli 2014 und hielt an der alleinigen
elterlichen Sorge der Mutter fest. Ferner verfügte sie die Weiterführung der
Beistandschaft und beauftragte die Beiständin mit der Organisation und
Überwachung der seinerzeit angeordneten Besuche.
Die hiergegen vom Vater erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 11. März 2015 ab, soweit es darauf eintrat.

D.
Gegen den obergerichtlichen Entscheid hat der Vater eine Beschwerde in
Zivilsachen erhoben mit dem Begehren, C.________ sei unter die gemeinsame
elterliche Sorge zu stellen; eventualiter verlangt er die Rückweisung der Sache
an das Obergericht, unter Anweisung zur Errichtung einer Prozessbeistandschaft
und Beigabe einer unentgeltlichen Kinderanwältin. Ferner verlangt er die
unentgeltliche Rechtspflege. Mit Schreiben vom 17. Dezember 2015 hat das
Obergericht die Abweisung der Beschwerde beantragt. Mit Vernehmlassung vom 20.
Januar 2016 verlangt die Mutter die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Sodann verlangt auch sie die unentgeltliche Rechtspflege. Am
25. Februar 2016 wurde die Angelegenheit öffentlich beraten.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Endentscheid in einer nicht
vermögensrechtlichen Zivilsache (Art. 72 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1 und Art. 90
BGG). Die Beschwerde in Zivilsachen steht mithin offen.

2.
Strittig ist vorab die Frage, ob C.________ im kantonalen Verfahren eine
Kindesvertretung hätte bestellt werden müssen.

2.1. Das Obergericht hat im Zusammenhang mit Art. 314a bis Abs. 1 und Abs. 2
Ziff. 2 ZGB festgehalten, die blosse Tatsache des Elternkonfliktes genüge
nicht, weil dies auf ein vom Gesetzgeber nicht gewünschtes Obligatorium
hinauslaufen würde. Sodann hat es unter Verweis auf den Basler Kommentar
befunden, Kindesvertretungen seien eine sinnvolle Einrichtung und nützten als
"Übersetzungshilfe" in der manchmal nicht einfachen Kommunikation zwischen
Institutionen und Betroffenen; allerdings könnten zu viele Beteiligte ein
Verfahren auch komplizieren. Anschliessend hat es zum konkreten Fall erwogen,
C.________ sei fünf Jahre alt. Sie kenne ihren Vater nicht und dürfte bei der
Diskussion, ob die gemeinsame elterliche Sorge anzuordnen sei, derzeit die
Tragweite des Entscheides kaum erkennen. Dieser werde für sie im Moment auch
keine direkten Konsequenzen haben. Die KESB sei eine interdisziplinäre Behörde
und es sei nicht davon auszugehen, dass ihr dabei eine Kindesvertretung
angesichts des Alters von C.________ und der Tatsache, dass diese den Vater
nicht kennt, behilflich sein könnte.

2.2. Der Beschwerdeführer sieht darin eine Verletzung von Art. 299 ZPO sowie
von Art. 314a bis ZGB. Er ist der Ansicht, es gebe eine "faktische Vermutung"
zugunsten einer Kindesvertretung, sobald die Eltern unterschiedliche Anträge
stellten. Im Übrigen sei die Mutter aufgrund ihrer verweigernden Haltung nicht
fähig, das Kind zu vertreten.

2.3. Der im Bereich des Kindesschutzes anwendbare Art. 314a bis ZGB entspricht
dem in eherechtlichen Verfahren zur Anwendung gelangenden Art. 299 ZPO. Beide
Normen auferlegen der Behörde bzw. dem Gericht, ex officio zu prüfen, ob dem
Kind als Vertretung in Form eines Beistandes eine in fürsorgerischen und
rechtlichen Fragen erfahrene Person zur Seite zu stellen ist; dies ist
insbesondere dann der Fall, wenn die Eltern in Bezug auf das Sorgerecht
unterschiedliche Anträge stellen (Art. 299 Abs. 2 lit. a ZPO bzw. Art. 314a bis
Abs. 2 Ziff. 2 ZGB). Selbst in diesem Fall besteht aber lediglich eine
Prüfungspflicht des Gerichtes und ist die Anordnung einer Kindesvertretung
keineswegs imperativ; die Bezeichnung einer Vertretung steht vielmehr im
Ermessen des Gerichtes (Urteile 5A_465/2012 vom 18. September 2012 E. 4.1.2;
5A_744/2013 vom 31. Januar 2014 E. 3.2.3).
Die Kindesvertretung hat verschiedene Aspekte, welchen je nach Alter des Kindes
und Situation des Einzelfalles unterschiedliches Gewicht zukommt. Ein
Teilgehalt besteht darin, dass die Vertretung den Willen des Kindes gegenüber
dem Gericht zum Ausdruck bringt; insbesondere in diesem Bereich ist der gemäss
Art. 308 Abs. 2 ZGB spezifisch für die Überwachung des Besuchsrechts
eingesetzte Beistand keine Kindesvertretung im Sinn von Art. 299 ZPO bzw. Art.
314a bis ZGB. Der angesprochene Aspekt der Vertretung kann aber nur bei
urteilsfähigen Kindern von Belang sein, mithin nicht bei der erst fünfjährigen
C.________. Aber bereits bei einem fünfjährigen Kind, welches in der Regel noch
nicht gerichtlich angehört wird (vgl. BGE 131 III 553 E. 1.2 S. 555 ff.),
könnte die Kindesvertretung allenfalls die Funktion eines "Dolmetschers" (vgl.
Urteile 5A_465/2012 vom 18. September 2012 E. 4.2; 5A_744/2013 vom 31. Januar
2014 E. 3.3) zwischen Kind und Gericht insofern wahrnehmen, als je nach
konkreter Situation ein kindesgerecht geführtes Gespräch in einem ungezwungenen
Rahmen bereits möglich ist und sich die Vertretung so ein Bild über die
Wahrnehmungen des Kindes machen kann. Wie das Obergericht zutreffend ausgeführt
hat, scheint dies aber in der vorliegenden Situation nicht möglich, weil das
fünfjährige Mädchen den Vater seit Jahren nicht mehr gesehen hat; weder kann es
sich an ihn erinnern noch kann es sich vor diesem Hintergrund eine vage
Vorstellung davon machen, was die anbegehrten Massnahmen für seine Person
bedeuten würden. Folglich gibt es nichts, was eine Vertretung dem Gericht im
Sinn eines "Dolmetschers" übermitteln könnte. Ein weiterer Aspekt der
Kindesvertretung ist, dass sich diese ein Bild von der konkreten Situation
(örtlich, häuslich, schulisch, Interaktion zwischen Kind und Eltern sowie
Geschwistern, etc.) machen und dem Gericht zur Kenntnis bringen kann; auch
solche Informationen sind für die Entscheidfindung wichtig. Ein
elternunabhängiges neutrales Bild über die konkrete Situation des Kindes wird
aber in umfassender Weise bereits durch die Berichte vermittelt, welche die
Beiständin des Kindes im Rahmen der bestehenden Besuchsrechtsbeistandschaft
regelmässig abliefert; es ist nicht ersichtlich, was ein Verfahrensbeistand im
Sinn von Art. 299 ZPO bzw. Art. 314a bis ZGB an zusätzlichen Informationen in
Erfahrung bringen könnte. Es bleibt mithin zu prüfen, ob eine Kindesvertretung
den entscheidbefassten Behörden bzw. Gerichten, für welche die Untersuchungs-
und Offizialmaxime gelten, zusätzliche Unterstützung oder Entscheidungshilfe
bieten könnte bei der Frage, ob im vorliegenden Einzelfall das Kindeswohl einem
gemeinsamen Sorgerecht entgegensteht, so dass vom Grundsatz der gemeinsamen
elterlichen Sorge abzuweichen ist. Dies ist aber ebenfalls nicht zu sehen.

2.4. Nach dem Gesagten hat das Obergericht kein Bundesrecht verletzt, wenn es
C.________ für das vorliegende Verfahren nicht spezifisch verbeiständet hat.

3.
In materieller Hinsicht verlangt der Beschwerdeführer die gemeinsame elterliche
Sorge.

3.1. Das Obergericht hat auf die parlamentarische Diskussion zum neuen
Sorgerecht verwiesen und festgehalten, dass für die Frage der Alleinsorge im
Sinn von Art. 298 ff. ZGB nicht die Kriterien von Art. 311 ZGB zur Anwendung
kämen; insbesondere bei einem unüberwindbaren Dauerkonflikt zwischen den Eltern
könne von einem gemeinsamen Sorgerecht abgesehen werden. Dies stehe in Einklang
mit Stimmen aus der Psychologie, wonach die gemeinsame elterliche Sorge dort
ihre Grenze finden müsse, wo aufgrund eindeutiger und objektiver Kriterien von
einem unauflösbaren Konflikt auszugehen sei und das Kind in einen seine
Entwicklung beeinträchtigenden Loyalitätskonflikt geraten könnte. Ein Problem
liege freilich darin, dass mit einer konsequenten Kooperationsverweigerung die
Alleinsorge erzwungen werden könne. Vorliegend sei aber zu beachten, dass
zwischen Vater und Tochter keine Beziehung bestehe; seit C.________ 16 Monate
alt sei, hätten die beiden keinen Kontakt mehr. Sodann seien die Eltern ausser
Stande, miteinander zu kommunizieren. Selbst mit Hilfe der Beiständin sei es
dem Vater zur Zeit nicht möglich, den Kontakt mit seiner Tochter aufzunehmen.
Die gemeinsame Sorge wäre nicht durchführbar und hätte angesichts des
obstruktiven Verhaltens der Mutter nur vermehrte Rechtsstreitigkeiten zur
Folge. Dies läge weder im Interesse des Kindes noch könnte es die Beziehung
zwischen den Eltern verbessern.

3.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, es bestehe gar kein Konflikt, und
schon gar kein Dauerkonflikt, sondern einfach Funkstille. Insofern bestünden
für das Kind gar keine Schwierigkeiten; dass sich die gemeinsame elterliche
Sorge negativ auf das Kindeswohl auswirken würde, sei eine blosse Hypothese.
Sodann seien nicht die Eltern kooperationsunfähig, sondern bloss die Mutter.
Diese verhalte sich mithin rechtsmissbräuchlich. Eine allfällige Unzumutbarkeit
für den einen Elternteil sei kein Grund, von der gemeinsamen Sorge abzusehen.
Insgesamt habe das Obergericht somit Art. 296 Abs. 2 und Art. 298b Abs. 2
i.V.m. Art. 311 ZGB verletzt.

3.3. Nach der per 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Sorgerechtsnovelle steht den
Eltern die Sorge über ihre Kinder gemeinsam zu (Art. 296 Abs. 2, Art. 298a Abs.
1, Art. 298b Abs. 2 und Art. 298d Abs. 1 ZGB). Indes sind Ausnahmen zulässig,
wenn das Kindeswohl solche gebietet (vgl. Art. 298 Abs. 1 und Art. 298b Abs. 2
ZGB). Vorliegend ist die Frage zu entscheiden, ob ein solcher Fall gegeben ist;
dabei ist gestützt auf Art. 12 Abs. 4 SchlT ZGB der Art. 298b Abs. 2 ZGB
sinngemäss zur Anwendung zu bringen.

3.4. Das Bundesgericht hat sich mit der Frage, welche Kriterien für die
Alleinzuteilung der elterlichen Sorge massgebend sind, neulich an einer
öffentlichen Sitzung eingehend auseinandergesetzt. Es ist zum Schluss gekommen,
dass für die Frage der Alleinzuteilung nicht die gleichen Voraussetzungen
gelten wie für den Entzug im Sinn einer Kindesschutzmassnahme gestützt auf Art.
311 ZGB (dazu im Einzelnen Urteil 5A_923/2014 vom 27. August 2015 E. 4, worauf
verwiesen wird). Mit der gegenteiligen Behauptung lässt sich keine Verletzung
von Bundesrecht begründen.

3.5. Was die Gründe für eine Alleinzuteilung im Sinn von Art. 298 Abs. 1 oder
Art. 298b Abs. 2 ZGB anbelangt, hat das Bundesgericht im Urteil 5A_923/2014 vom
27. August 2015 E. 4.6 festgehalten, dass insbesondere ein schwerwiegender
elterlicher Dauerkonflikt oder anhaltende Kommunikationsunfähigkeit eine
Alleinzuteilung des Sorgerechts gebieten kann, wenn sich der Mangel negativ auf
das Kindeswohl auswirkt und die Alleinzuteilung diesem besser Rechnung trägt.
Nicht gefolgt werden kann der Ansicht des Beschwerdeführers, dass das
Kindeswohl nicht tangiert werde, wenn gar keine Kooperation stattfinde. Für das
Kind macht es in der Regel wenig Unterschied, welcher Art der Mangel bei der
elterlichen Interaktion ist, und ein gemeinsames Sorgerecht lässt sich
offensichtlich nicht zu seinem Wohl ausüben, wenn zwischen den
entscheidbefugten Eltern nicht ansatzweise ein Austausch möglich ist.
Bei der elterlichen Sorge handelt es sich um ein sog. Pflichtrecht (BGE 136 III
353 E. 3.1 S. 356; Urteil 5A_198/2013 vom 14. November 2013 E. 4.1). Es hat das
Recht und die Pflicht zum Gegenstand, über die wesentlichen Belange des Kindes
zu entscheiden. Dies erfordert vorab, dass der Sorgerechtsinhaber Zugang zu
aktuellen Informationen über das Kind hat. Für eine sinnvolle Ausübung des
Sorgerechts wird aber in der Regel auch der persönliche Kontakt zum Kind
unabdingbar sein; es ist nur schwer vorstellbar, dass ein Sorgerechtsinhaber
pflichtgemäss Entscheidungen zum Wohl des Kindes treffen kann, wenn über lange
Zeit kein irgendwie gearteter Austausch zwischen ihm und dem Kind stattfindet.
Wo das Sorgerecht den Eltern gemeinsam zusteht oder zustehen soll, ist
schliesslich erforderlich, dass diese in Bezug auf die grundsätzlichen
Kinderbelange ein Mindestmass an Übereinstimmung aufweisen und wenigstens im
Ansatz einvernehmlich handeln können (in diesem Sinn das deutsche
Bundesverfassungsgericht, Entscheid 1 BvR 738/01 vom 1. März 2004 Rz. 9). Ist
dies nicht der Fall, führt ein gemeinsames Sorgerecht fast zwangsläufig zu
einer Belastung des Kindes, welche anwächst, sobald dieses das fehlende
Einvernehmen der Eltern selbst wahrnehmen kann. Im Übrigen drohen auch Gefahren
wie die Verschleppung wichtiger Entscheidungen, beispielsweise im Zusammenhang
mit notwendiger medizinischer Behandlung.

3.6. Im vorliegenden Fall fehlt es nach den kantonalen Feststellungen in jeder
Hinsicht an den Voraussetzungen, wie sie für eine effektive Ausübung des
Sorgerechts gegeben sein müssen. Trotz den anhaltenden Bemühungen der
Beiständin hat der Beschwerdeführer das inzwischen bald sechsjährige Mädchen
kein einziges Mal mehr gesehen, seit es 16 Monate alt war. Dabei handelt es
sich zwar in erster Linie um einen Aspekt des Besuchsrechts. Indem der
Beschwerdeführer aber keinerlei physischen Zugang zum Kind hat und er
weitgehend auch vom Informationfluss über das Kind abgeschnitten sein dürfte,
wäre das gemeinsame Sorgerecht eine bloss formale Hülse, welche er inhaltlich
nicht zu füllen wüsste. Er wäre überdies nicht in der Lage, aus eigener Kraft
vom Sorgerecht Gebrauch zu machen, soweit es ein Recht ist, und im Interesse
des Kindes zu wirken, soweit es sich um eine Pflicht handelt. Selbst mit der
Hilfe der Beiständin vermöchte er das Sorgerecht nicht in einer effektiven
Weise auszuüben, wie die chronische Unterbindung der Besuchsrechtsausübung
trotz mannigfaltiger Hilfestellung durch die Beiständin eindrücklich
dokumentiert. Vielmehr wäre er als Mitinhaber des Sorgerechts darauf
angewiesen, in allen Belangen, welche einen gemeinsamen Entscheid erfordern,
stets von neuem die Kindesschutzbehörde oder gar den Richter anzurufen und um
autoritative Entscheidung zu bitten.
Es liegt offensichtlich nicht im Kindeswohl, wenn für jede Einzelfrage ein
Verfahren zu eröffnen wäre, in welches das Kind mit zunehmendem Alter
hineingezogen würde. Es würde dadurch fast zwangsläufig in einen unnötigen
Loyalitätskonflikt geraten oder aber eine eigene Abwehrhaltung gegen den
Beschwerdeführer entwickeln, welche auch das bislang bestehende Defizit bei der
Besuchsrechtsausübung verstärken und auf die persönliche Ebene des Kindes
ziehen würde. Abhilfe könnte auch die Alleinzuweisung bestimmter
Entscheidbefugnisse im Rahmen der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht schaffen;
dies kann nur dort zu Gebote stehen, wo sich der elterliche Konflikt auf
einzelne Probleme beschränkt, im Grundsatz aber ein einvernehmliches
Zusammenwirken möglich ist (vgl. Urteil 5A_923/2014 vom 27. August 2015 E.
4.7).

3.7. Es bleibt die Frage, ob und wie einer einseitigen elterlichen Blockade -
welche in den Augen des Beschwerdeführers Rechtsmissbrauch bedeutet -
beizukommen ist (vgl. spezifisch zu diesem Thema FELDER/HAUSHEER/AEBI-MÜLLER/
DESCH, Gemeinsame elterliche Sorge und Kindeswohl, in: ZBJV 2014, S. 897 ff.,
insb. S. 899).
Bei einer einseitigen Blockade stehen meist nicht Aspekte des Rechtsmissbrauchs
im Vordergrund. Vielmehr handelt es sich vorab um ein Problem tatsächlicher
Natur. Den Eltern obliegt zwar im Rahmen des Sorgerechts namentlich auch die
Pflicht zu einträchtigem Zusammenwirken bei dessen Ausübung. Ferner stehen bei
Verletzung dieser Pflicht durchaus verschiedene Behelfe zur Verfügung
(insbesondere auf Art. 307 ZGB gestützte Mahnungen und Weisungen, wozu auch die
Möglichkeit gehört, eine Therapie, eine psychologische Begleitung oder eine
Mediation anzuordnen, vgl. Urteile 5A_457/2009 vom 9. Dezember 2009 E. 4;
5A_411/2014 vom 3. Februar 2015 E. 3.3.2). Dies darf aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass all diese Massnahmen unter Umständen wenig fruchten,
jedenfalls soweit die Blockade grundsätzlich ist und womöglich in der
Persönlichkeitsstruktur oder der besonderen Familiengeschichte der Beteiligten
begründet liegt.
In rechtlicher Hinsicht ist zu beachten, dass sich die Zuteilung der
Sorgerechte weder an der "Schuldfrage" auf Elternebene orientieren (Urteil
5A_923/2014 vom 27. August 2015 E. 5.1) noch von Sanktionsgedanken gegenüber
dem nicht kooperationswilligen Elternteil leiten lassen darf (vgl. COESTER, in:
J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Berlin 2015, N. 101
zu § 1626a BGB). Eine über die Ausgestaltung des Sorgerechts erfolgende
Massregelung des für den Elternkonflikt verantwortlich gemachten Elternteils
würde unweigerlich auf dem Buckel des Kindes geschehen. Bereits aus dem
Wortlaut von Art. 296 ff. ZGB ergibt sich, dass das Kindeswohl die einzige
Maxime für die Sorgerechtszuteilung sein kann. Freilich darf die Alleinsorge
nicht schon dort ausgesprochen werden, wo sie dem Kindeswohl am besten gerecht
würde. Das Parlament hat durch Ablehnung eines entsprechenden
Minderheitsantrages das Konzept der freien richterlichen Sorgerechtszuteilung
ausdrücklich verworfen (AB 2012 N 1635). Die gemeinsame elterliche Sorge stellt
nach dem Willen des Gesetzgebers den Grundsatz dar und die Zuteilung oder
Belassung der Alleinsorge muss die eng begrenzte Ausnahme bleiben (Urteil
5A_923/2014 vom 27. August 2015 E. 4.7) für den Fall, dass das Kindeswohl bei
gemeinsamer Sorge erheblich beeinträchtigt wäre und die Alleinzuteilung eine
Verbesserung der Lage - bzw. die Belassung der Alleinsorge die Abwendung einer
zu befürchtenden Verschlechterung - verspricht, wie dies vorliegend der Fall
ist.
In Bezug auf die Frage, wem die Alleinsorge, wenn diese aufgrund des
Kindeswohls angezeigt ist, zustehen soll, wurde im Urteil 5A_923/2014 von 27.
August 2015 E. 5.1 festgehalten, dass bei einer einseitigen Blockade die
Zuteilung an den kooperativen Elternteil zu prüfen ist, insbesondere wenn
dieser eine gute Bindungstoleranz aufweist, während die Kooperations- oder
Kommunikationsunfähigkeit des anderen Teils mit der Tendenz einhergeht, das
Kind dem anderen Elternteil zu entfremden. Vorliegend würde die Alleinzuteilung
der elterlichen Sorge an den Vater jedoch bereits am formellen Umstand
scheitern (Art. 99 Abs. 2 und Art. 107 Abs. 1 BGG), dass er weder im kantonalen
noch im vorliegenden Verfahren einen entsprechenden Antrag gestellt, sondern
sich darauf beschränkt hat, die gemeinsame elterliche Sorge zu verlangen. Sie
könnte aber auch von der Sache her nicht in Frage kommen. Der Beschwerdeführer
ist augenfällig nicht fähig, das Kind bei sich aufzunehmen und für dieses zu
sorgen. Nicht zur Debatte stehen kann aufgrund des Subsidiaritätsprinzips
ferner die (ebenfalls nicht beantragte) Fremdplatzierung des Kindes, soweit es
beim betreuenden Elternteil an sich gut aufgehoben ist (vgl. GEISER, Wann ist
Alleinsorge anzuordnen und wie ist diese zu regeln?, in: ZKE 2015, S. 243).
Die vorliegende, relativ atypische Situation gebietet, dass die alleinige
elterliche Sorge der Mutter zu belassen ist. Zwar scheint die in der Literatur
verschiedentlich angesprochene Gefahr, der hauptbetreuende Elternteil könnte
bewusst eine Eskalation herbeiführen, um das alleinige Sorgerecht zu erlangen
oder zu behalten, im Allgemeinen klein zu sein und sind solche Handlungsmotive
jedenfalls vorliegend nicht ersichtlich. Dennoch erscheint das rechtliche
Ergebnis insofern wenig billig, als die gemeinsame elterliche Sorge, wie sie
als Grundsatz gesetzlich vorgesehen ist, an der einseitigen mütterlichen
Blockade scheitert und die Mutter mit ihrer Verweigerungshaltung auch gegen die
Interessen des Kindes handelt. Die unbefriedigende Lage ist aber letztlich
hinzunehmen, weil in der konkreten Situation ein gemeinsames Sorgerecht das
Kind anhaltenden behördlichen Interventionen bei der Ausübung dieses Rechtes
aussetzen würde, welche seinem Wohl offensichtlich abträglich wären.

3.8. Vor dem geschilderten Hintergrund ist in der vorliegenden konkreten
Situation der gestützt auf Art. 12 Abs. 4 SchlT ZGB analog anwendbare Art. 298b
Abs. 2 ZGB nicht verletzt, wenn das Obergericht keine gemeinsame elterliche
Sorge zugesprochen hat.
Wo das Gericht nach umfassender Prüfung der Voraussetzungen und Abwägung der
auf dem Spiel stehenden Interessen sowie insbesondere in Beobachtung des
Kindeswohles ohne Verletzung von Art. 298b ZGB zu einem Ergebnis gekommen ist,
sind Verfassungsrügen konsumiert.

4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist, soweit auf sie
eingetreten werden kann. Zufolge offensichtlicher Prozessarmut ist beiden
Parteien die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen, je unter Beigabe der
sie vertretenden Rechtsanwältin (Art. 64 BGG). Die Gerichtskosten sind
ausgangsgemäss dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG), jedoch
einstweilen auf die Bundesgerichtskasse zu nehmen. Sodann ist beiden
Rechtsvertreterinnen ein reduziertes Honorar aus der Bundesgerichtskasse
auszurichten (Art. 64 Abs. 2 BGG sowie Art. 6 und 10 Reglement SR
173.110.210.3).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.

2. 
Die Gesuche der Parteien um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren werden gutgeheissen. Dem Beschwerdeführer wird
Rechtsanwältin Ingrid Indermaur und der Beschwerdegegnerin Rechtsanwältin
Michèle Strähl-Obrist je als amtlicher Rechtsbeistand bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, aber
einstweilen auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Den amtlichen Rechtsbeiständen wird je ein reduziertes Honorar von Fr. 2'000.--
aus der Bundesgerichtskasse entrichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Februar 2016
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Der Gerichtsschreiber: Möckli

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