Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.350/2015
Zurück zum Index I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 2015
Retour à l'indice I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
4A_350/2015

Urteil vom 25. August 2015

I. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Klett, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Hohl, Niquille,
Gerichtsschreiber Widmer.

Verfahrensbeteiligte
A.A.________ und B.A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Fäh,
Beschwerdeführer,

gegen

B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Hans Jörg Werder,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Mieterausweisung, Rechtsschutz in klaren Fällen,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Einzelrichter im
Obligationenrecht,
vom 25. Juni 2015.

Sachverhalt:

A.
Am 21. Oktober 2014 kündigte B.________ (Vermieterin, Gesuchstellerin,
Beschwerdegegnerin) den mit B.A.________ und A.A.________ (Mieter,
Gesuchsgegner, Beschwerdeführer) geschlossenen Mietvertrag betreffend ein
6,5-Zimmer-Einfamilienhaus an der Strasse U.________ in V.________ wegen
Zahlungsverzugs auf den 30. November 2014. Die Mieter fochten daraufhin die
Kündigung bei der Schlichtungsstelle für Miet- und Pachtverhältnisse See-Gaster
an und räumten die Liegenschaft nicht.

B.

B.a. Nach erfolgloser Schlichtung reichten die Mieter beim Kreisgericht
See-Gaster Klage gegen die Vermieterin ein mit dem Begehren, die Kündigung vom
21. Oktober 2014 sei nichtig zu erklären. Gleichzeitig mit der Klageantwort in
diesem Verfahren reichte die Vermieterin gestützt auf Art. 257 ZPO ein
Ausweisungs- und Forderungsbegehren (Verfahren SZ.2015.26) ein.

 Mit Entscheid vom 27. April 2015 fällte der Einzelrichter am Bezirksgericht
See-Gaster - soweit hier von Interesse - im Verfahren nach Art. 257 ZPO
folgenden Entscheid: Er befahl den Gesuchsgegnern, das Einfamilienhaus an der
Strasse U.________ in V.________ unverzüglich zu räumen und der Gesuchstellerin
in ordnungsgemässem Zustand zu übergeben. Die Politische Gemeinde Schänis wurde
angewiesen, diesen Entscheid nach Rechtskraft auf erstes Verlangen der
Gesuchstellerin hin zu vollziehen.

B.b. Gegen diesen Entscheid erhoben die Gesuchsgegner Berufung beim
Kantonsgericht St. Gallen. Sie beantragten im Wesentlichen, das angefochtene
Urteil sei aufzuheben und die Kündigung des Mietvertrages vom 30. November 2014
sei für nichtig zu erklären. Mit Entscheid vom 25. Juni 2015 wies der
Einzelrichter im Obligationenrecht des Kantonsgerichts St. Gallen die Berufung
ab unter Kosten- und Entschädigungsfolge zulasten der Gesuchsgegner.

C.
Die Beschwerdeführer beantragen mit Beschwerde in Zivilsachen, der Entscheid
des Kantonsgerichts St. Gallen vom 25. Juni 2015 sei vollumfänglich aufzuheben
und das Gesuch um Mieterausweisung sei abzuweisen. In verfahrensrechtlicher
Hinsicht ersuchen sie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung.

 Die Beschwerdegegnerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde und des Gesuchs
um Erteilung der aufschiebenden Wirkung, soweit darauf einzutreten sei.
Die Vorinstanz beantragt Abweisung der Beschwerde und des Gesuchs um Erteilung
der aufschiebenden Wirkung.

Erwägungen:

1.
Die Sachurteilsvoraussetzungen der Beschwerde in Zivilsachen sind erfüllt,
namentlich mit einem Streitwert von Fr. 55'800.-- auch das Erfordernis gemäss
Art. 74 Abs. 1 lit a BGG. Unter Vorbehalt einer rechtsgenüglichen Begründung
(Art. 42 Abs. 2 BGG) ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.

2.1. Nach Art. 257d OR kann der Vermieter dem Mieter von Wohnräumen, der sich
mit fälligen Mietzinsen oder Nebenkosten im Zahlungsrückstand befindet, unter
Ansetzung einer Frist von mindestens 30 Tagen schriftlich die Kündigung des
Mietverhältnisses androhen. Wird auch innert dieser Frist nicht bezahlt, kann
er mit einer weiteren Frist von 30 Tagen auf das Ende eines Monats kündigen.
Handelt es sich bei der Mietsache um eine Familienwohnung, ist die
Fristansetzung separat auch dem Ehegatten des Mieters mitzuteilen (Art. 266n
OR).

2.2. Art. 257 Abs. 1 ZPO sieht unter dem Titel "Rechtsschutz in klaren Fällen"
vor, dass das Gericht Rechtsschutz im summarischen (raschen) Verfahren gewährt,
wenn zum einen der Sachverhalt unbestritten oder sofort beweisbar (lit. a) und
zum anderen die Rechtslage klar ist (lit. b).

3.
Was den Sachverhalt angeht, so ist zwischen den Parteien Folgendes
unbestritten: Die Beschwerdegegnerin wies die Beschwerdeführer mit Schreiben
vom 8. September 2014 darauf hin, dass die Mietzinse für die Monate August und
September 2014 nicht bezahlt worden seien und setzte ihnen eine Zahlungsfrist
von 30 Tagen ab Erhalt des Schreibens an; für den Unterlassungsfall drohte sie
die Kündigung gestützt auf Art. 257d Abs. 2 OR an. Auf beiden Schreiben befand
sich Name und Adresse der Beschwerdegegnerin, deren getippte Unterschrift sowie
- mindestens auf dem an A.A.________ gerichteten Schreiben - deren eigenhändige
Unterschrift. Umstritten ist, ob auch das an B.A.________ gerichtete Schreiben
eigenhändig unterzeichnet war. Die Vorinstanz liess dies offen, da selbst für
den Fall, dass dieses Schreiben nicht unterzeichnet gewesen wäre, die Kündigung
gültig sei, denn die Berufung auf den Formmangel wäre rechtsmissbräuchlich.
Unbestritten ist weiter, dass die Beschwerdeführer die ausstehenden Mietzinse
innert Frist nicht bezahlten und darüber hinaus die Miete bis (mindestens)
April 2015 nicht bezahlt haben.

4.
Die Beschwerdeführer bestreiten indessen eine klare Rechtslage (Art. 257 Abs. 1
lit. b ZPO). Einerseits sei die Geltendmachung des Formmangels nicht
rechtsmissbräuchlich und andererseits sei es dem Gericht im Verfahren
betreffend Rechtsschutz in klaren Fällen nach Art. 257 Abs. 1 ZPO nicht
gestattet, das Vorliegen von Rechtsmissbrauch zu prüfen.

4.1. Es geht vorliegend nicht darum, dass dem Vermieter eine
rechtsmissbräuchliche Kündigung vorgeworfen wird. Vielmehr steht ein
Rechtsmissbrauch der Mieter durch unzulässige Berufung auf einen Formmangel zur
Diskussion.

4.1.1. Missbräuchlich handelt u.a., wer ein Rechtsinstitut zweckwidrig zur
Verwirklichung von Interessen verwendet, die dieses Rechtsinstitut nicht
schützen will, d. h. wenn der Rückgriff auf das Rechtsinstitut mit dem
angestrebten Zweck nichts zu tun hat oder diesen gar ad absurdum führt.
Besondere Umstände, welche die Berufung auf zwingendes Recht als missbräuchlich
erscheinen lassen, sind auch zu bejahen, wenn die von der angerufenen Norm zu
schützenden Interessen entfallen oder sonst wie gewahrt wurden (BGE 140 III 200
E. 4.2; 138 III 401 E. 2.4.1 mit Hinweisen).

4.1.2. Zweck der Ansetzung einer Zahlungsfrist mit Androhung der Kündigung ist
es namentlich, dem Mieter genügend Zeit einzuräumen, um die Mittel zur Tilgung
der Ausstände zu beschaffen und ihm damit eine letzte Gelegenheit einzuräumen,
den schwerwiegenden Folgen einer ausserordentlichen Vertragsauflösung zu
entgehen, indem ihm klar mitgeteilt wird, welche Beträge innert welcher Frist
zur Abwendung einer (ausserordentlichen) Kündigung bezahlt werden müssen
(Urteile 4A_585/2010 vom 2. Februar 2011 E. 2.1; 4C.124/2005 vom 26. Juli 2005
E. 3.1 und 4C.88/2003 vom 1. Juli 2003 E. 3.2 mit Hinweisen; ferner: Urteil
4A_641/2011 vom 27. Januar 2012 E. 5). Das Bundesgericht hat im Hinblick auf
diesen Zweck in verschiedenen Fällen die Berufung des Mieters auf einen
Formmangel als rechtsmissbräuchlich qualifiziert (zit. Urteile Urteile 4A_585/
2010 E. 3.5, 4C.124/2005 E. 3.1 und 4C.88/2003 E. 3.1/3.2 betr. nicht
eingehaltene Zahlungsfrist von 30 Tagen, wenn anschliessend der Ausstand
trotzdem nicht bezahlt wird). Mit dem Erfordernis der eigenhändigen
Unterschrift sodann soll namentlich vermieden werden, dass die Identität des
Erklärenden unsicher bleibt. Es dient der Befriedigung des Bedürfnisses nach
Zurechnung der Erklärung an eine eindeutig identifizierbare Person (BGE 140 III
54 E. 2.3; 138 III 401 E. 2.4.2 S. 406). Im Hinblick auf diesen Zweck hat das
Bundesgericht die Berufung auf die fehlende eigenhändige Unterschrift
(betreffend eine Mietzinserhöhung) in einem in der amtlichen Entscheidsammlung
publizierten Urteil als rechtsmissbräuchlich qualifiziert, weil kein Zweifel
über die Identität des Erklärenden bestand und beide Parteien der strittigen
Mietzinserhöhung nachgelebt hatten (BGE 138 III 401 E. 2.4 mit Hinweisen.

 Angesichts dieser Rechtsprechung hat die Vorinstanz offensichtlich zu Recht
eine missbräuchliche Anrufung des behaupteten Formmangels bejaht. Auch wenn die
Ansetzung der Zahlungsfrist mit Kündigungsandrohung an beide Ehegatten zu
richten war, ist vorliegend von Bedeutung, dass jedenfalls das Schreiben an den
Ehemann unterzeichnet war und die Mieter daher - wie die Vorinstanz zutreffend
festhielt - keine Zweifel darüber haben konnten, dass auch das Schreiben an die
Ehefrau von der Vermieterin stammte und deren Willen enthielt. Sinn und Zweck
von Art. 257d Abs. 1 OR waren damit ohne weiteres erfüllt.

4.2. Nicht zu folgen ist den Beschwerdeführern sodann, wenn sie geltend machen,
im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 257 Abs. 1 ZPO sei der Vorwurf des
Rechtsmissbrauchs von vornherein unbehelflich, weil damit Ermessen ausgeübt
werde.

 Die Rechtslage ist klar, wenn sich die Rechtsfolge bei der Anwendung des
Gesetzes unter Berücksichtigung der Lehre und Rechtsprechung ohne Weiteres
ergibt und damit die Rechtsanwendung zu einem eindeutigen Ergebnis führt.
Dagegen ist die Rechtslage in der Regel nicht klar, wenn die Anwendung einer
Norm einen Ermessens- oder Billigkeitsentscheid des Gerichts mit wertender
Berücksichtigung der gesamten Umstände erfordert, wie dies namentlich bei der
Beurteilung von Treu und Glauben zutrifft (BGE 141 III 23 E. 3.2 S. 26; 138 III
123 E. 2.1.2, 728 E. 3.3; je mit Hinweisen).

 Die beispielhafte Erwähnung der Beurteilung von Treu und Glauben in der
zitierten Rechtsprechung ist nicht so zu verstehen, dass ein klarer Fall in
rechtlicher Hinsicht verneint werden muss, sobald eine missbräuchliche
Rechtsausübung geltend gemacht wird. Denn das Rechtsmissbrauchsverbot setzt
keine wertende Berücksichtigung aller Umstände im Sinn der zitierten
Rechtsprechung voraus, wenn das Verhalten der betroffenen Partei  offenkundig
einen Missbrauch darstellt, was namentlich der Fall ist, wenn dieses in eine
der in Rechtsprechung und Lehre anerkannten Fallgruppen einzuordnen ist (vgl.
Urteil 4A_329/2013 vom 10. Dezember 2013 E. 6.1 unter Hinweis auf BGE 138 III
425 E. 5.2; zur Abgrenzung vgl. BGE 138 III 123 E. 2.5 S. 129). Das ist hier
wie dargelegt der Fall (zweckwidrige Verwendung eines Instituts).

5.
Offensichtlich unbehelflich ist schliesslich der Einwand der Verwirkung, weil
die Beschwerdegegnerin die Ausweisung erst mit der Klageantwort am 23. März
2015 beantragt habe. Er wird auch nicht rechtsgenüglich begründet (Art. 42 Abs.
1 und 2 BGG), weshalb darauf nicht einzutreten ist. Im Übrigen ergänzen die
Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang mit ihrem Hinweis auf die Einreichung
wahrheitswidriger Beweismittel durch die Gegenpartei den von der Vorinstanz
festgestellten und für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlichen (Art. 105
Abs. 1 BGG) (Prozess-) sachverhalt unzulässig (BGE 140 III 16 E. 1.3.1 S. 17
f.); darauf ist ebenfalls nicht einzutreten.

6.
Die Beschwerde ist demzufolge abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

 Bei diesem Ausgang werden die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren kosten- und entschädigungspflichtig, unter solidarischer Haftbarkeit
(Art. 66 Abs. 1 und 5 und Art. 68 Abs. 2 und 4 BGG).

 Mit diesem Entscheid wird das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung
gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden den Beschwerdeführern unter
solidarischer Haftbarkeit auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführer haben die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren unter solidarischer Haftbarkeit mit Fr. 2'394.70 zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen,
Einzelrichter im Obligationenrecht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. August 2015

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Klett

Der Gerichtsschreiber: Widmer

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben