Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.262/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
4A_262/2015

Urteil vom 31. August 2015

I. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Klett, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Kolly, Bundesrichterin Niquille,
Gerichtsschreiberin Marti-Schreier.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Reto Thomas Ruoss,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________AG,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans Nigg,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Forderung,

Beschwerde gegen das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 26.
Februar 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________ (Anwaltskanzlei, Klägerin, Beschwerdeführerin) ist eine im
Handelsregister als Kollektivgesellschaft eingetragene Anwaltskanzlei mit Sitz
in U.________. Die B.________AG (Versicherung, Beklagte, Beschwerdegegnerin)
ist eine im Handelsregister als Aktiengesellschaft mit Sitz in U.________
eingetragene Versicherungs- und Rückversicherungsgesellschaft, die unter
anderem Berufshaftpflichtversicherungen für Rechtsanwälte anbietet.

A.b. Zwischen den Parteien bestand in der Zeit vom 1. Juli 1999 bis zum 30.
November 2008 ein Berufshaftpflichtversicherungsvertrag, für den die
Allgemeinen Vertragsbedingungen der Versicherung (AVB, gültig ab 1. Januar 2001
bzw. 1. Januar 2005) galten. Rechtsanwalt C.________ war bis zum 31. August
2003 Gesellschafter der Anwaltskanzlei und gehörte in dieser Eigenschaft zum
Kreis der Versicherten.

A.c. Rechtsanwalt C.________ hatte eine Klientin im Blick auf eine Vereinbarung
beraten, welche diese nach dem Ableben ihres Ehemannes im September 1999 mit
ihrem Stiefsohn abgeschlossen hatte. In dieser Vereinbarung verzichtete die
Klientin gegen eine Entschädigung von Fr. 36,5 Mio. auf ihre Stellung als
Begünstigte und Protektorin eines Trusts. Nachdem der Stiefsohn der Klientin
diesen Trust mitsamt der Offshore-Konstruktion aufgelöst hatte, wurden
Nachsteuern erhoben, worauf der Stiefsohn die Hälfte der bezahlten Nachsteuern
von der Klientin mit der Begründung forderte, sie habe von der
Offshore-Konstruktion ebenfalls profitiert. Der Stiefsohn erhob am 16. Mai 2002
eine Klage vor einem Schiedsgericht, das die Klientin am 23. April 2007 zur
Bezahlung von Fr. 5'679'887.50 nebst Zins und Verfahrenskosten verpflichtete,
worauf diese am 5. Oktober 2007 Fr. 7'366'894.34 an ihren Stiefsohn zahlte. Die
Klientin stellte sich in der Folge auf den Standpunkt, sie sei schlecht beraten
worden, denn bei gehöriger Beratung hätte sie eine Saldoklausel in die
Vereinbarung mit ihrem Stiefsohn eingefügt, die sie vor den späteren
Forderungen bewahrt hätte. Am 3. Dezember 2009 erhob sie beim Handelsgericht
des Kantons Zürich Klage gegen die Anwaltskanzlei mit dem Begehren, diese habe
ihr den Betrag von Fr. 7'139'216.15 zuzüglich Zins zu bezahlen.

B.

B.a. Mit Klage vom 15. August 2012 stellte die Anwaltskanzlei dem
Handelsgericht des Kantons Zürich das Rechtsbegehren, die Versicherung sei
unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Nachklage zu verpflichten, ihr einen
Betrag von Fr. 136'496.95 nebst Zins zu 5% seit Klageeinreichung zu bezahlen.
Sie fordert damit die für den Prozess zur Abwehr der Klage der Klientin
aufgewendeten Kosten von Fr. 236'496.95, unter Abzug des Selbstbehaltes von Fr.
100'000.--.

B.b. Mit Urteil vom 26. Februar 2015 wies das Handelsgericht des Kantons Zürich
die Klage der Anwaltskanzlei ab. Das Gericht kam zum Schluss, der Anspruch sei
nicht während der Dauer des in Ziffer 2/22 AVB definierten zeitlichen
Geltungsbereichs der Versicherung erhoben worden. Danach ist die Versicherung
gültig für Schäden, für welche während der Vertragsdauer Ansprüche gegen einen
Versicherten erhoben werden (Ziffer 2/21 AVB). Als Zeitpunkt, in dem ein
Anspruch erhoben wird, gilt entweder derjenige, in dem ein Versicherter
erstmals von einem Geschädigten mündlich oder schriftlich die Mitteilung
erhält, dass ein unter die Versicherung fallender Anspruch gestellt werde
(Ziffer 2/22 erster Einzug AVB), oder derjenige, in dem ein Versicherter von
Umständen Kenntnis erhält, nach denen mit der Erhebung eines solchen Anspruchs
gerechnet werden muss (Ziffer 2/22 zweiter Einzug AVB). Eine Minderheit des
Handelsgerichts vertrat die Auffassung, mit der Einleitung des
Schiedsverfahrens gegen die Klientin habe spätestens im Mai 2002 - und damit
vor dem Austritt des Gesellschafters, der die Saldoklausel nicht zur Diskussion
gestellt hatte - gerechnet werden müssen.

C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Anwaltskanzlei, das Urteil des
Handelsgerichts vom 26. Februar 2015 sei aufzuheben und die Klage gutzuheissen.
Die Beschwerdeführerin beantragt die Ergänzung des Sachverhalts in dem Sinne,
dass das Handelsgericht des Kantons Zürich im Urteil vom 16. August 2011 und
das Bundesgericht im Urteil 4A_588/2011 vom 3. Mai 2012 eine
Sorgfaltspflichtverletzung des beratenden Anwalts festgestellt hätten; dies sei
massgeblich für die Frage, ob ein vernünftiger und umsichtiger Rechtsanwalt
aufgrund von Schreiben des Rechtsanwalts des Stiefsohns der Klientin vom
Oktober 2001 bzw. der Schiedsgerichtsklage vom Mai 2002 mit der Erhebung eines
Schadenersatzanspruchs habe rechnen müssen. Die Beschwerdeführerin rügt, die
Vorinstanz habe Art. 18 Abs. 1 OR und Art. 33 VVG verletzt bzw. Ziffer 2/22
zweiter Einzug AVB falsch ausgelegt.

D.
Die Beschwerdegegnerin stellt in der Antwort das Rechtsbegehren, die Beschwerde
sei vollumfänglich abzuweisen. Sie hält namentlich dafür, der erwähnte
Bundesgerichtsentscheid 4A_588/2011 vom 3. Mai 2012, der die Verletzung der
Sorgfaltspflicht bestätigt, beruhe auf Umständen, die dem beratenden
Rechtsanwalt im Zeitpunkt seines Ausscheidens aus der Anwaltskanzlei im Jahre
2003 nicht hätten bekannt sein können, und das Handelsgericht habe sich mit der
Wertung der Schreiben vom Oktober 2001 und dem Schiedsbegehren vom Mai 2002
zutreffend auseinandergesetzt. Die Beschwerdegegnerin hält dafür, die
Vorinstanz habe an die Wahrscheinlichkeit einer Anspruchserhebung im Sinne von
Ziffer 2/22 zweiter Einzug AVB zu Recht hohe Anforderungen gestellt und damit
die Bestimmung nicht rechtsfehlerhaft ausgelegt und angewendet.
Das Handelsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.

 Die formellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Beschwerde in
Zivilsachen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist - unter
Vorbehalt hinreichender Begründung (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) -
einzutreten.

2.

 Die Beschwerdeführerin beantragt eine Ergänzung des Sachverhalts. Sie will
damit den Schluss erreichen, dass die Schreiben vom 12., 17. und 19. Oktober
2001 des Rechtsanwalts des Stiefsohns der Klientin sowie das Schiedsbegehren
vom Mai 2002 einem vernünftigen und umsichtigen Rechtsanwalt vor Augen führen
mussten, dass er seine Pflichten bei Verhandlung und Abschluss der Vereinbarung
seiner Klientin mit ihrem Stiefsohn verletzt hatte. Sie verkennt damit, dass
sich Sachverhaltsrügen nur gegen tatsächliche Feststellungen, nicht aber gegen
die rechtliche Würdigung richten können. Die Vorinstanz hat sich im
angefochtenen Entscheid mit den erwähnten Schriftsätzen in E. 2.4.4
auseinandergesetzt. Dass sie den Inhalt dieser Schriftstücke dabei falsch bzw.
willkürlich wiedergegeben hätte, behauptet die Beschwerdeführerin nicht. Ob und
inwiefern sich daraus ergibt, dass mit Schadenersatzansprüchen gerechnet werden
muss, ist eine Rechtsfrage.

3.

 Die Beschwerdeführerin hatte vor der Vorinstanz behauptet, ihr vertraglicher
Anspruch gegen die Beklagte sei nach dem in Ziffer 2/22 AVB definierten
zeitlichen Geltungsbereich sowohl nach der ersten wie nach der zweiten Variante
gegeben. In ihrer Beschwerde rügt sie nur noch, die Vorinstanz habe den
Vertrauensgrundsatz verletzt, indem sie die Voraussetzungen des
Versicherungsanspruchs nach Ziffer 2/22 zweiter Einzug AVB verneint hat.

3.1. Ziffer 2/21 und 22 AVB schreiben Folgendes vor:

"Zeitlicher Geltungsbereich
 21. Die Versicherung ist gültig für Schäden, für welche während der
Vertragsdauer Ansprüche gegen einen Versicherten erhoben werden.
 22. Als Zeitpunkt, in welchem ein Anspruch aus einem Schadenereignis gegen
einen Versicherten erhoben wird, gilt derjenige, in welchem
-ein Versicherter erstmals von einem Geschädigten mündlich oder schriftlich die
Mitteilung erhält, dass ein unter diese Versicherung fallender
Schadenersatzanspruch gestellt werde, oder
-ein Versicherter von Umständen Kenntnis erhält, nach welchen damit gerechnet
werden muss, dass ein solcher Anspruch erhoben werde."

3.2. Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen von Ziffer 2/22 zweiter Einzug AVB
in dem Sinne ausgelegt, dass ein Versicherter derart konkrete Anhaltspunkte für
eine Anspruchserhebung haben muss, dass für einen vernünftigen Versicherten die
zu erhebenden Schadenersatzansprüche mit genügender Bestimmtheit absehbar sind.
Dies dürfte nach dem Verständnis der Vorinstanz etwa der Fall sein, wenn
gegenüber dem Versicherten um eine Verjährungsverzichtserklärung ersucht wird.
Die Formulierung "rechnen muss" zeigt nach Ansicht der Vorinstanz, dass die
Schwelle für eine wirksame Anspruchserhebung nicht zu tief anzusetzen ist und
eine spekulativ im Raum stehende theoretische Möglichkeit nicht genügt. Die
Obliegenheit zur unverzüglichen Benachrichtigung des Versicherers macht nach
den Erwägungen im angefochtenen Urteil zudem deutlich, dass die blosse
Möglichkeit einer Anspruchserhebung nicht ausreichend sein kann, würden doch
damit beim Versicherer unzählige Meldungen eingehen, was aufseiten der
Versicherung mit einer vernünftigen Kalkulation des Risikos nicht zu
vereinbaren wäre; es liege auch nicht im Interesse der Versicherten, den
Versicherer schon bei der geringsten Möglichkeit benachrichtigen zu müssen. Aus
systematischer Sicht gelangte die Vorinstanz zum Schluss, in Ziffer 2/22
zweiter Einzug AVB sei das in Ziffer 2/21 AVB enthaltene sog.
Claims-made-Prinzip modifiziert worden. Es handle sich nicht um eine Ausnahme,
sondern um eine Konkretisierung dieses Prinzips, weshalb die Klausel so
auszulegen sei, dass sie dem Prinzip nicht widerspreche, was dafür spreche,
dass konkrete Anhaltspunkte für eine Anspruchserhebung vorliegen müssten. Sie
hält dafür, aus dem Urteil 5C.237/2001 lasse sich zugunsten der
Beschwerdeführerin entgegen deren Ansicht nichts ableiten. Die Vorinstanz
verneinte, dass der Versicherte während der Versicherungsdauer von Umständen
Kenntnis erhalten habe, nach welchen damit hätte gerechnet werden müssen, dass
gegen ihn Ansprüche erhoben würden. Denn in den Schreiben des Rechtsanwaltes
des Stiefsohns vom 12., 17. und 19. Oktober 2001 wie auch im Begehren um
Einleitung eines Schiedsverfahrens im Mai 2002 sei zwar von der fehlenden
Saldoklausel die Rede gewesen; aber die Klientin habe ihre Mandatsbeziehung zum
damaligen Gesellschafter der Klägerin dennoch nicht aufgelöst, sondern ihn
weiterhin mit der Wahrung ihrer Interessen als Parteivertreter im
Schiedsverfahren beschäftigt.

3.3. Die Beschwerdeführerin beanstandet, zum Teil unter Hinweis auf die Meinung
der Minderheit des Handelsgerichts, dass dem Wortlaut eine überschiessende
Bedeutung beigemessen werde, wenn aus dem Ausdruck "rechnen mit" auf eine hohe
Wahrscheinlichkeit geschlossen werde. Die Beschwerdeführerin ist sodann mit der
Vorinstanz einig, dass die beiden Einzüge in Ziffer 2/22 den Grundsatz des
"Claims-made-Prinzips" gemäss Ziffer 2/21 AVB gleichwertig konkretisieren. Sie
hält jedoch fest, dass auch die zweite Alternative einen eigenen
Anwendungsbereich habe und die "Anspruchserhebung" über die tatsächliche
Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen hinaus erweitere. Da sich die
Umstände auch in anderer Weise manifestieren könnten, brauche es nach der
zweiten Variante nicht zwingend eine Handlung des Geschädigten - entgegen der
Ansicht der Vorinstanz insbesondere keine Verjährungsverzichtserklärung. Im
Rahmen der systematischen Auslegung ist nach der Beschwerdeführerin sodann die
Harmonisierung der Bestimmungen über den zeitlichen Geltungsbereich mit der
Ausgestaltung der Rückwärtsversicherung in Ziffer 2.23 AVB zu berücksichtigen.
Mit der Minderheitsmeinung der Vorinstanz weist sie darauf hin, dass danach
Schäden nicht gedeckt sind, die vor Beginn des Vertrages verursacht wurden,
"ausser der Versicherungsnehmer könne dartun, dass er bei Vertragsbeginn von
einer Handlung oder Unterlassung, die seine Haftpflicht begründen könnte, keine
Kenntnis hatte oder den Umständen nach hätte haben müssen". Sie vertritt die
Ansicht, es müsse in beiden Fällen der gleiche Massstab gelten, um bei einem
Wechsel der Versicherung keine Lücken entstehen zu lassen. Schliesslich wendet
sie sich dagegen, dass aus den Obliegenheiten des Versicherten nach Eintritt
des Versicherungsfalles etwas zu ihren Lasten abgeleitet werde, zumal eine
möglichst frühe Mitteilung im Interesse beider Parteien liege. Die
Beschwerdeführerin schliesst auf ein eindeutiges Auslegungsergebnis in ihrem
Sinne, hält jedoch dafür, dass andernfalls die Unklarheitenregel greife. Im
konkreten Fall vertritt die Beschwerdeführerin den Standpunkt, ein umsichtiger
Anwalt in der Position ihres ausgeschiedenen Gesellschafters hätte mit einer
Inanspruchnahme gerechnet, nachdem er auf das Fehlen einer Saldo- bzw.
Enthaftungsklausel hingewiesen worden sei. Dass die Klientin ihre
Mandatsbeziehung nicht beendet habe, könne nicht als Verzicht auf
Schadenersatzansprüche gewertet werden. Auch dass im Oktober 2001 bzw. Mai 2002
ein Schadenersatzprozess noch von mehreren unsicheren Umständen abhängig
gewesen sei, schliesse die Versicherungsdeckung nicht aus, zumal diese auch für
Abwehr ungerechtfertigter Ansprüche bestehe.

3.4. Klauseln in allgemeinen Geschäfts- oder Versicherungsbedingungen sind,
wenn sie in Verträge übernommen werden, grundsätzlich nach denselben Prinzipien
auszulegen wie andere vertragliche Bestimmungen (BGE 133 III 607 E. 2.2 S. 610,
675 E. 3.3 S. 681). Ziel der Vertragsauslegung ist es, in erster Linie den
übereinstimmenden wirklichen Willen der Parteien festzustellen (vgl. Art. 18
Abs. 1 OR). Wenn dieser wie im vorliegenden Fall unbewiesen bleibt, sind zur
Ermittlung des mutmasslichen Parteiwillens die Erklärungen der Parteien
aufgrund des Vertrauensprinzips so auszulegen, wie sie nach ihrem Wortlaut und
Zusammenhang sowie den gesamten Umständen verstanden werden durften und mussten
(vgl. BGE 138 III 659 E. 4.2.1 S. 666; 136 III 186 E. 3.2.1 S. 188; 133 III 406
E. 2.2 S. 409; 132 III 626 E. 3.1 S. 632, 24 E. 4 S. 27 f.). Das Bundesgericht
überprüft diese objektivierte Auslegung von Willenserklärungen als Rechtsfrage,
wobei es an Feststellungen des kantonalen Gerichts über die äusseren Umstände
sowie das Wissen und Wollen der Beteiligten grundsätzlich gebunden ist (Art.
105 Abs. 1 BGG). Die Unklarheitenregel gelangt dann zur Anwendung, wenn die
übrigen Auslegungsmittel versagen. Danach sind mehrdeutige Klauseln gegen den
Verfasser bzw. gegen jene Partei auszulegen, die als branchenkundiger als die
andere zu betrachten ist und die Verwendung der vorformulierten Bestimmungen
veranlasst hat (BGE 133 III 61 E. 2.2.2.3 S. 69, 607 E. .2 S. 610; 124 III 155
E. 1b S. 158; 122 III 118 E. 2a S. 121).

3.5. Die Parteien sind sich grundsätzlich einig darüber, dass die beiden
Alternativen in Ziffer 2/22 AVB den Grundsatz von Ziffer 2/21 AVB
konkretisieren, wonach die Versicherung gültig ist für Schäden, für welche
während der Versicherungsdauer Ansprüche gegen einen Versicherten erhoben
werden (sog. Claims-made-Prinzip). Versichert sind danach
Schadenersatzansprüche, welche gegen den Versicherten geltend gemacht bzw.
angemeldet werden. Die Vorinstanz leitet aus dem Wortlaut der zweiten
Alternative von Ziffer 2/22 zu Unrecht sinngemäss ab, dass danach schon
konkrete Ansprüche in Aussicht gestellt werden müssen, wie dies bei einem
Begehren um Abgabe einer Verjährungsverzichtserklärung zutrifft. Denn nach
dieser zweiten Alternative besteht der Versicherungsschutz (auch) in dem
Zeitpunkt, in dem ein Versicherter von Umständen Kenntnis erhält, nach welchen
damit gerechnet werden muss, dass ein solcher Anspruch erhoben werde. Mit einer
Anspruchserhebung muss "gerechnet werden", wenn eine Sorgfaltswidrigkeit
bekannt wird, die einen Schaden verursachen kann. Die zweite Alternative in
Ziffer 2/22 AVB kann nach Treu und Glauben nicht als blosse Konkretisierung der
ersten Alternative aufgefasst werden, sondern konkretisiert das
Claims-made-Prinzip gemäss Ziffer 2/21 AVB selbständig, wie sich schon aus der
Systematik der Bestimmung ergibt. Insofern überzeugt die Erwägung im
Minderheitsvotum der Vorinstanz, dass mit der zweiten Alternative grundsätzlich
die Fälle erfasst werden, die aufgrund des Verbots der Rückwärtsversicherung
(Art. 9 VVG, vgl. dazu etwa BGE 127 III 21 E. 2b/aa S. 23, Urteil 4A_580/2011
vom 2. April 2012 E. 4.2.2 mit Hinweisen) bei einem allfälligen Wechsel der
Versicherung nicht mehr versichert werden könnten bzw. welche nach den eigenen
AVB von der Versicherung selbst nicht mehr versichert würden. Denn auch wenn
(erst) die Erhebung bzw. Anmeldung eines konkreten Anspruchs die Pflicht zur
Versicherungsleistung auslöst (Claims-made), ist dieser Anspruch regelmässig
Folge früheren Fehlverhaltens. Als versichertes Ereignis gilt denn auch nicht
die vom subjektiven Verhalten des geschädigten Dritten abhängige
Anspruchsanmeldung selbst; vielmehr ist objektiv massgebend der Zeitpunkt, in
dem der Versicherte in der Lage ist, aus den ihm bekannten Umständen
abzuleiten, dass er mit Ansprüchen konfrontiert werden wird (Urteil 5C.237/2001
vom 11. Januar 2002 E. 2b). Es kann offenbleiben, ob für Ansprüche, die zwar
vom geschädigten Dritten erst nach Abschluss der Versicherung angemeldet
werden, mit deren Erhebung der Versicherte aber aufgrund der ihm bekannten
Umstände schon vorher rechnen musste, das allgemeine
Rückwärtsversicherungsverbot nach Art. 9 VVG Anwendung findet. Denn im
vorliegenden Fall lehnt die Beschwerdegegnerin ihre Haftung (in Ziff. 2/23
"Rückwärtsversicherung") für Schäden ab, die vor Beginn des Vertrages
entstanden sind, sofern der Versicherungsnehmer nicht nachweist, dass er von
haftungsbegründenden Handlungen oder Unterlassungen keine Kenntnis haben
musste. Bei folgerichtiger und kohärenter Auslegung der AVB kann die zweite
Alternative von Ziffer 2/22 AVB nur so verstanden werden, dass die Versicherung
- spiegelbildlich - leistungspflichtig ist für Schadenersatzansprüche, die
während der Dauer des Vertrages aufgrund der Umstände objektiv erkennbar sind
(mit deren Geltendmachung aufgrund dieser Umstände daher objektiv gerechnet
werden muss) und für die sie selbst ihre Haftung ablehnen würde, wenn der
Vertrag erst geschlossen worden wäre, nachdem objektiv erkennbar war, dass
Schadenersatzansprüche erhoben würden. Der Versicherungsnehmer darf nach Treu
und Glauben davon ausgehen, dass die Beschwerdegegnerin folgerichtig in Ziffer
2/22 zweite Alternative AVB die entsprechenden Schäden übernimmt, die während
der Geltungsdauer des Vertrages entstanden sind. Die Frage, ob dem
Versicherungsnehmer - wie die Beschwerdegegnerin in der Antwort vorbringt -
zumutbar ist, eine besondere "Nachhaftpflichtversicherung" abzuschliessen,
stellt sich hier nicht.

3.6. Im vorliegenden Fall hatte die Klientin des per 31. August 2003
ausgeschiedenen Gesellschafters der Beschwerdeführerin ihre
Schadenersatzansprüche damit begründet, dass ihr damaliger Anwalt bei der
Vertragsverhandlung mit ihrem Stiefsohn das Thema einer Saldo- bzw.
Enthaftungsklausel nicht angesprochen hatte. Da sich die Diskussion einer
solchen Klausel nach den Umständen aufgedrängt hätte, lag darin eine
Sorgfaltspflichtverletzung (wie im Urteil 4A_588/2011 vom 3. Mai 2012 und im
Handelsgerichtsurteil des Kantons Zürich vom 16. August 2011 festgestellt;
inwiefern diese Beurteilung auf Umständen beruhen sollte, welche dem
ausgeschiedenen Gesellschafter Ende 2001 bzw. anfangs 2002 nicht bekannt waren,
wie die Beschwerdegegnerin in der Antwort behauptet, ist nicht erkennbar). Dass
eine Saldoklausel fehle, wurde in den Schreiben vom Oktober 2001 gegenüber dem
ausgeschiedenen Gesellschafter der Beschwerdeführerin thematisiert; weil eine
solche Klausel fehlte, leitete der Stiefsohn der Klientin denn auch am 16. Mai
2002 ein Schiedsgerichtsverfahren ein, in dem er obsiegte. Die
Sorgfaltspflichtverletzung, die schliesslich zur Schadenersatzklage der
Klientin gegen die Beschwerdeführerin vom 3. Dezember 2009 führte, war aufgrund
der Schreiben vom Oktober 2001 und der Klage des Stiefsohns beim Schiedsgericht
objektiv erkennbar. Die Beschwerdeführerin macht zu Recht geltend, dass an
dieser objektiven Erkennbarkeit das Verhalten der Klientin des ausgeschiedenen
Gesellschafters nichts ändert. Dass sie ihren damaligen Anwalt mit der Wahrung
ihrer Interessen im Streit über die Auslegung der Vereinbarung mit ihrem
Stiefsohn beauftragte, kann objektiv nicht als Verzicht auf allfällige
Schadenersatzansprüche angesehen werden. Spätestens mit der Klage des
Stiefsohns gegen die Klientin auf Beteiligung an den Nachsteuern war für den
ausgeschiedenen Gesellschafter objektiv erkennbar, dass seine Klientin bei
Unterliegen im Schiedsverfahren Schadenersatzansprüche gegen ihn bzw. gegen die
Beschwerdeführerin als Vertragspartnerin stellen würde. Die Beschwerdeführerin
bzw. ihr damaliger Gesellschafter mussten daher Ende 2001 bzw. spätestens
anfangs Mai 2002 damit rechnen, dass gegen sie Ansprüche erhoben würden (Ziffer
2/22 zweite Alternative AVB). Dass der hier massgebende Vertrag, auf den die
Beschwerdeführerin ihre Ansprüche gegen die Beschwerdegegnerin stützt, in
diesem Zeitpunkt galt, ist unbestritten.

3.7. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Die Vorinstanz musste sich im
angefochtenen Urteil zur Höhe der eingeklagten Forderung und zu allfälligen
weiteren Voraussetzungen einer Klagegutheissung nicht äussern. Auch wenn die
Beschwerdegegnerin die Höhe der Forderung nicht bestreitet und auch die im
angefochtenen Urteil offengelassene Frage der Aktivlegitimation nicht mehr
aufgreift, kann das Bundesgericht aufgrund der Sachverhaltsfeststellungen im
angefochtenen Entscheid die eingeklagte Forderung nicht endgültig beurteilen.

4.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und die Sache ist zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG). Die Gerichtsgebühr ist bei
diesem Verfahrensausgang der Beschwerdegegnerin zu auferlegen und diese hat der
Beschwerdeführerin deren Parteikosten für das bundesgerichtliche Verfahren zu
ersetzen (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Handelsgerichts des Kantons
Zürich vom 26. Februar 2015 wird aufgehoben und die Sache wird zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 5'000.-- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 6'000.-- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Zürich
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 31. August 2015

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Klett

Die Gerichtsschreiberin: Marti-Schreier

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