Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Klage nach Art. 120 BGG 2E.2/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
2E_2/2015

Urteil vom 22. Mai 2015

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Seiler,
Bundesrichter Stadelmann,
Gerichtsschreiber Feller.

Verfahrensbeteiligte
A.________, Kläger,
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,

gegen

Regierungsrat des Kantons Thurgau,
Beklagter.

Gegenstand
Verantwortlichkeit des Kantons für Mängel bei der Pflegekinderaufsicht,

Klage

Sachverhalt:

 A.________ wurde, nachdem er eine schwere Hirnhautentzündung überstanden
hatte, der Obhut des Vereines St. Iddazell übergeben. Er absolvierte die
Sekundarschule im Kinderheim St. Iddazell in Fischingen. Er ist seit
Jahrzehnten gesundheitlich schwer angeschlagen, was er auf die ihm während des
Heimaufenthalts widerfahrene Behandlung (Demütigungen, sexuelle Übergriffe),
zusätzlich auf an ihm in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen durchgeführte
Experimente zurückführt. Einem vom Kanton Thurgau bestellten Bericht vom 4. Mai
2014 über das betroffene Kinderheim entnahm er, dass der Kanton Thurgau es
unterlassen habe, die Aufsicht über Pflegekinder zu verstärken und namentlich
eine Aufsicht über das Kinderheim St. Iddazell auszuüben. Nach seiner
Auffassung hätten die Garantien von Art. 3 EMRK und Art. 10 BV sowie Art. 8
EMRK das Gemeinwesen verpflichtet, geeignete Massnahmen zur Verhinderung von
deren Verletzung zu treffen. Angesichts der von ihm festgestellten
diesbezüglichen Unterlassung macht er den Kanton Thurgau für seine Leiden
verantwortlich. Gestützt auf Art. 41 EMRK bzw. § 4 des thurgauischen Gesetzes
vom 14. Februar 1979 über die Verantwortlichkeit (Verantwortlichkeitsgesetz,
VerantwG) fordert er im Sinne einer gerechten Entschädigung vom Kanton die
Entrichtung eines Betrags von Fr. 1'389'538.-- zuzüglich 5 % Zins ab dem 12.
Juli 1995. Eventuell will er den Kanton verpflichtet sehen, ihm aus Billigkeit
einen Betrag von Fr. 250'000.-- zu bezahlen.

 Diese Forderungen gegen den Kanton Thurgau hat A.________ am 5. Mai 2015 mit
Klage beim Bundesgericht und zugleich beim Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau geltend gemacht. Letzteres hat er dabei um Sistierung des Verfahrens
ersucht.

Erwägungen:

1. 
A.________ ist direkt mit Klage an das Bundesgericht gelangt.

1.1. Art. 189 BV umschreibt die Zuständigkeit des Bundesgerichts. Absatz 1
bestimmt allgemein, welche Rechtsverletzungen vor Bundesgericht gerügt werden
können. In welcher Form solche Streitfragen dem Bundesgericht zu unterbreiten
sind, legt die Bundesverfassung im Einzelnen nicht fest, vielmehr wird dies
geregelt durch das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht
(Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110). Wenn Art. 189 Abs. 2 BV spezifisch
vorsieht, dass das Bundesgericht Streitigkeiten zwischen Bund und Kantonen oder
zwischen Kantonen beurteilt, legt dies ein Klageverfahren nahe. Gemäss Art. 189
Abs. 3 BV sodann kann ein Bundesgesetz weitere Zuständigkeiten des
Bundesgerichts begründen.

 Das Bundesgerichtsgesetz weist dem Bundesgericht im Wesentlichen die Aufgabe
eines Rechtsmittelgerichts zu. In Streitigkeiten des öffentlichen Rechts
beurteilt es gemäss Art. 86 Abs. 1 BGG insbesondere Beschwerden gegen
Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts (lit. a) und letzter kantonaler
Instanzen (lit. d). Als einzige Instanz beurteilt es Klagen ausschliesslich in
den in Art. 120 BGG genannten Fällen. Art. 120 Abs. 1 lit. a und b BGG sehen
das Klageverfahren entsprechend der Vorgabe von Art. 189 Abs. 2 BV vor. Gemäss
Art. 120 Abs. 1 lit. c BGG sodann beurteilt das Bundesgericht Ansprüche auf
Schadenersatz und Genugtuung aus der Amtstätigkeit von Personen im Sinne von
Art. 1 Abs. 1 lit. a - c des Verantwortlichkeitsgesetzes vom 14. März 1958 (VG;
SR 170.32); es sind dies die Mitglieder des Bundesrats, der Bundeskanzler, die
Mitglieder und Ersatzmitglieder der eidgenössischen Gerichte sowie die
Mitglieder der Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft. Weitere direkte
Zuständigkeiten des Bundesgerichts werden durch das Bundesgerichtsgesetz nicht
installiert. Auch keine andere bundesrechtliche Norm ermächtigt Privatpersonen
ausdrücklich zur Haftungsklage gegen kantonale Gemeinwesen.

1.2. Für die Haftung des Kantons oder anderer Gemeinwesen für das Handeln ihrer
Behördemitglieder und Mitarbeitenden und das dabei einzuschlagende Verfahren
ist im Kanton Thurgau dessen Verantwortlichkeitsgesetz massgeblich. Gemäss § 12
Abs. 1 VerantwG entscheidet das Verwaltungsgericht über Ansprüche Dritter aus
diesem Gesetz im Verfahren der verwaltungsrechtlichen Klage. Laut § 12 Abs. 2
VerantwG beurteilt das Bundesgericht Ansprüche Dritter gegen den Staat, die mit
Verrichtungen des Regierungsrates oder des Obergerichtes begründet werden.
Diese kantonalrechtliche Regelung genügt nicht, um eine vom Bundesrecht nicht
vorgesehene Klage an das Bundesgericht einzuführen. Sie beruht noch auf der
Rechtslage gemäss dem per 1. Januar 2007 durch das Bundesgerichtsgesetz
abgelösten Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege
(Bundesrechtspflegegesetz, OG; BS I 3) in Verbindung mit Art. 114bis der alten
Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 in der Fassung vom 25. Oktober 1914 (aBV).
Gemäss Art. 114bis Abs. 4 aBV waren Kantone mit Genehmigung der
Bundesversammlung befugt, Administrativstreitigkeiten, die in ihren Bereich
fallen, dem eidgenössischen Verwaltungsgericht zur Beurteilung zuzuweisen.
Davon machten verschiedene Kantone namentlich im Bereich der Staatshaftung
Gebrauch. Gemäss Art. 121 OG waren die in dieser Weise dem Bundesgericht
zugewiesenen Streitigkeiten in dem für dieses als Beschwerde- oder einzige
Instanz der Verwaltungsrechtspflege vorgesehenen Verfahren zu erledigen;
derartige Streitigkeiten behandelte des Bundesgericht im Klageverfahren analog
zu den Streitigkeiten gemäss Art. 116 Abs. 1 lit. c OG, der dem heutigen Art.
120 Abs. 1 lit. c BGG entsprach (vgl. Urteil 2A.350/2003 vom 5. August 2004 E.
1.2, publ. in: Pra 2005 Nr. 17 S. 116). In das Bundesgerichtsgesetz ist keine
Art. 121 OG entsprechende Regelung aufgenommen worden. Auf den Zeitpunkt des
Inkrafttretens des Bundesgerichtsgesetzes am 1. Januar 2007 ist auch die -
bereits in der Volksabstimmung vom 12. März 2000 angenommene - Modifikation der
Bundesverfassung in Kraft getreten und damit Art. 190 Abs. 2 BV aufgehoben
worden, welcher bis dahin die Regelung der kantonalen Überweisungskompetenz
gemäss Art. 114bis Abs. 4 aBV weitergeführt hatte.

 Heute besteht keine rechtliche Handhabe mehr, Schadenersatz- und
Genugtuungsansprüche von Privaten gegen Kantone oder kantonale Gemeinwesen
direkt beim Bundesgericht geltend zu machen (s. auch Urteil 2C_430/2010 vom 5.
Juli 2010).

2. 

2.1. Der Kläger verweist indessen auf den Justizgewährleistungsanspruch bzw.
die Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV und Art. 6 EMRK. Er macht geltend, im
Fall, da der Kanton Thurgau gestützt auf § 12 Abs. 2 VerantwG die Zuständigkeit
zur Beurteilung der Verantwortlichkeit seines Regierungsrats verneinen sollte,
entstünde ein Kompetenzkonflikt, den das Bundesgericht gemäss Art. 120 Abs. 1
lit. a BGG im Klageverfahren zu entscheiden habe. Parteien in Streitigkeiten
gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. a und lit. b BGG können nur der Bund, Kantone oder
interkantonale Organe sein, nicht jedoch Private ( BERNHARD WALDMANN, in:
Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2. Auflage, Basel 2011, N. 22 zu
Art. 120; Commentaire de la LTF, ALAIN WURZBURGER, in: Commentaire de la LTF,
2. Auflage, Bern 2014, N. 8 zu Art. 120). Abgesehen davon, dass bis jetzt kein
(negativer) Kompetenzkonflikt aktuell ist, wäre die Klage gemäss Art. 120 Abs.
1 lit. a BGG schon allein aus diesem Grunde unzulässig.

2.2. Hinzuweisen ist hingegen auf Art. 191b BV, welcher in Konkretisierung von
Art. 29a BV den Kantonen vorschreibt, namentlich für die Beurteilung von
zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten richterliche
Behörden zu bestellen. Ebenso wurde den Kantonen mit Art. 130 Abs. 3 BGG
aufgetragen, innert zwei Jahren nach Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes
Ausführungsbestimmungen über die Zuständigkeit, die Organisation und das
Verfahren der Vorinstanzen im Sinne der Art. 86 Abs. 2 und 3 BGG zu erlassen,
einschliesslich die Bestimmungen, die zur Gewährleistung der Rechtsweggarantie
nach Art. 29a BV erforderlich sind. Ein vom Kläger befürchtetes
Rechtsschutzdefizit wäre im Kanton zu beheben.

 Der Kläger hat denn auch beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau Klage
eingereicht. Da bis anhin offenbar § 12 Abs. 2 VerantwG entgegen den Vorgaben
von Art. 130 Abs. 3 BGG nicht den Anforderungen von Art. 29a BV bzw. Art. 86
Abs. 2 BGG angepasst worden ist, steht zwar nicht definitiv fest, welche
kantonale Behörde über die Forderungen des Klägers zu befinden hat. Angesichts
von § 12 Abs. 1 VerantwG fällt indessen am ehesten das Verwaltungsgericht in
Betracht; nötigenfalls obliegt es ihm, für eine provisorische Regelung im Sinne
von Art. 130 Abs. 4 BGG besorgt zu sein bzw. entsprechende Schritte in die Wege
zu leiten (vgl. Urteil 2C_1183/2012 vom 30. Dezember 2013 E. 3.8). Eine
Überweisung der Sache an diese Gerichtsbehörde erübrigt sich allerdings,
nachdem der Kläger auch bei ihr Klage erhoben hat.

 Gegen den zu fällenden Entscheid des zuständigen kantonalen oberen Gerichts
wird der Kläger nach Massgabe von Art. 82 ff. BGG Beschwerde führen können.
Gegebenenfalls könnte das Bundesgericht auch gestützt auf Art. 94 BGG angerufen
werden.

3. 
Auf die vorliegende Klage kann nicht eingetreten werden. Eine
Verfahrenssistierung erübrigt sich angesichts der eindeutigen Unzuständigkeit
des Bundesgerichts.

4. 
Der Kläger hat um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersucht.
Obwohl die Klage von vornherein unzulässig erschien, rechtfertigen es die
Umstände, ausnahmsweise auf die Erhebung von Kosten zu verzichten (Art. 66 Abs.
1 zweiter Satz BGG); insofern wird das Gesuch gegenstandslos. Hingegen kann für
das bundesgerichtliche Verfahren kein unentgeltlicher Rechtsanwalt beigegeben
werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die Klage wird nicht eingetreten.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird, soweit nicht
gegenstandslos, abgewiesen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Mai 2015

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Der Gerichtsschreiber: Feller

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