Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Subsidiäre Verfassungsbeschwerde 1D.4/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1D_4/2015

Urteil vom 18. September 2015

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler,
Gerichtsschreiberin Pedretti.

Verfahrensbeteiligte
1. A.C.________,
2. B.C.________,
Beschwerdeführerinnen, beide vertreten durch Fürsprecherin Katerina Baumann,

gegen

Einwohnergemeinde Köniz, Direktion Sicherheit und Liegenschaften,
Kanton Bern,
handelnd durch die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern.

Gegenstand
unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren betr. Verweigerung des
Kantonsbürgerrechts,

Verfassungsbeschwerde gegen die Verfügung vom 18. Mai 2015 des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung.

Sachverhalt:

A.

 A.C.________ lebt seit 1999 in der Schweiz; im Juli 2004 kam ihre Tochter
B.C.________ auf die Welt. Im Jahr 2007 wurden beide vorläufig in der Schweiz
aufgenommen. Am 24. Oktober 2012 stellte A.C.________ für sich und ihre Tochter
ein Einbürgerungsgesuch. Ihre Wohnsitzgemeinde Köniz BE sicherte ihr in der
Folge das Gemeindebürgerrecht zu und das (damalige) Bundesamt (heute:
Staatssekretariat) für Migration erteilte die Einbürgerungsbewilligung.

B.

 In der Volksabstimmung vom 24. November 2013 wurde im Kanton Bern die
Verfassungsinitiative "Keine Einbürgerung von Verbrechern und
Sozialhilfeempfängern" angenommen. Danach wird unter anderem nicht
eingebürgert, wer Leistungen von der Sozialhilfe bezieht oder bezogene
Leistungen nicht vollumfänglich zurückbezahlt hat oder wer nicht über eine
Niederlassungsverfügung verfügt (Art. 7 Abs. 3 lit. b und e der Verfassung des
Kantons Bern [KV/BE; SR 131.212]; in Kraft seit dem 11. Dezember 2013). Am 13.
März 2015 wies die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern (POM) das
Gesuch ab. Zur Begründung führte sie an, A.C.________ und B.C.________ seien in
der Schweiz bloss vorläufig aufgenommen und verfügten nicht über die
Niederlassungsbewilligung.

C.

 Gegen diesen Entscheid haben A.C.________ und ihre Tochter beim
Verwaltungsgericht des Kantons Bern am 10. April 2015 Beschwerde erhoben und
geltend gemacht, im Zeitpunkt des Entscheids der POM sei die neue
Verfassungsbestimmung noch nicht anwendbar gewesen. Ausserdem ersuchten sie um
unentgeltliche Rechtspflege. In ihrer Vernehmlassung vom 12. Mai 2015 an das
Verwaltungsgericht hat die POM an der Anwendbarkeit des neuen Rechts
festgehalten und ergänzend ausgeführt, angesichts der Sozialhilfeabhängigkeit
von A.C.________ und ihrer Tochter wäre auch das Einbürgerungserfordernis der
Eingliederung in die schweizerischen Verhältnisse nicht erfüllt.

D.

 Mit Verfügung vom 18. Mai 2015 hat die Instruktionsrichterin des
Verwaltungsgerichts das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege von A.C.________
und ihrer Tochter abgewiesen und sie - unter Androhung des Nichteintretens -
zur Bezahlung eines Kostenvorschusses von Fr. 3'000.-- aufgefordert. Zur
Begründung nahm das Gericht eine Motivsubstitution vor: A.C.________ und ihre
Tochter hätten in der Vergangenheit und bis heute in erheblichem Umfang
Sozialhilfe in Anspruch genommen. Dies könne der Einbürgerung auch nach alter
Rechtslage entgegenstehen. Da sich die Beschwerde mit keinem Wort zum Hindernis
der fehlenden Selbsterhaltungsfähigkeit äussere, erscheine die Einbürgerung bei
summarischer Prüfung deshalb aussichtslos.

E.

 Gegen diese Verfügung führen A.C.________ (Beschwerdeführerin 1) und ihrer
Tochter (Beschwerdeführerin 2) Verfassungsbeschwerde und beantragen im
Wesentlichen die Aufhebung der Verfügung vom 18. Mai 2015 sowie die Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege.

 Die Gemeinde Köniz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das
Verwaltungsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Verfügung über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege
stellt einen Zwischenentscheid dar. Als solcher kann sie selbständig
angefochten werden, falls sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil
bewirkt (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Nach der Praxis ist dies der Fall, wenn -
wie hier - im angefochtenen Entscheid nicht nur die unentgeltliche Rechtspflege
verweigert, sondern zugleich die Anhandnahme des Rechtsmittels von der
Bezahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht wird (Urteil 2C_536/2012 vom
18. September 2012 E. 1.1; 4A_100/2009 vom 15. September 2009 E. 1.3, nicht
publ. in BGE 135 III 603). Auch die Verweigerung der unentgeltlichen
Verbeiständung bewirkt einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil, da der
Betroffene, der sich wegen seiner Bedürftigkeit keinen Anwalt leisten kann, bei
der prozessualen Durchsetzung seiner Rechte benachteiligt ist (vgl. Urteil
2C_230/2009 vom 2. Juli 2009 E. 1.3).

1.2. Prozessuale Entscheide sind nach dem Grundsatz der Einheit des Verfahrens
mit dem gleichen Rechtsmittel anzufechten wie der Entscheid in der Sache
selber. Auf dem Gebiet der ordentlichen Einbürgerung ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ausgeschlossen (Art. 83 lit. b BGG),
weshalb die Beschwerdeführerinnen zu Recht das Rechtsmittel der subsidiären
Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG) ergriffen haben. Da die
Beschwerdeführerinnen zur Beschwerde gegen den negativen Einbürgerungsentscheid
berechtigt wären (Art. 115 BGG; BGE 138 I 305 E. 1 S. 308 ff.), sind sie auch
befugt, dasselbe Rechtsmittel gegen die negative Beurteilung ihres Gesuchs um
unentgeltliche Rechtspflege zu erheben. Auf die form- und fristgerecht
eingereichte Beschwerde (Art. 42 und Art. 100 Abs. 1 BGG) ist daher
einzutreten.

2.

2.1. Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte
notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Dass sich aus dem kantonalen Recht ein weitergehender Anspruch ergeben würde,
behaupten die Beschwerdeführerinnen nicht. Als aussichtslos im Sinne von Art.
29 Abs. 3 BV gelten gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung jene
Prozessbegehren, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer
erscheinen als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft
bezeichnet werden können. Massgeblich ist, ob sich eine vernünftige, nicht
mittellose Partei ebenfalls zur Beschwerde entschlossen hätte. Eine Partei soll
einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht
deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S.
135 f. mit Hinweisen).

2.2. Die POM hat in ihrem abschlägigen Entscheid erwogen, seit dem Einreichen
des Gesuchs sei eine neue kantonalrechtliche Verfassungsbestimmung in Kraft
getreten, die eine Einbürgerung von Personen ausschliesse, welche nicht über
die Niederlassungsbewilligung verfügten. Da dieser Ausschlussgrund bei den
Beschwerdeführerinnen vorliege, müsse ihr Einbürgerungsgesuch abgewiesen
werden. Diese haben in ihrer Beschwerde an das Verwaltungsgericht die
Anwendbarkeit des neuen Rechts bestritten und sich dabei in erster Linie auf
das Rückwirkungsverbot und den Vertrauensgrundsatz berufen.

 Die Vorinstanz hat sich mit diesem Fragenkomplex nicht auseinander gesetzt,
sondern eine Motivsubstitution vorgenommen, was grundsätzlich zulässig ist. Sie
hat erwogen, eine Einbürgerung könne auch in Anwendung des alten Rechts nicht
in Betracht fallen, da die Beschwerdeführerinnen von der Sozialhilfe abhängig
seien und sich aus den Akten keine Hinweise auf besondere Umstände des
Einzelfalls ergäben, wonach sich dieses Kriterium als nicht sachgerecht
erweise. Mit diesem Aspekt würden sich diese in ihrer Rechtsmitteleingabe nicht
auseinandersetzen.

2.3. Diese Feststellung trifft zu. Allerdings hatten die Beschwerdeführerinnen
angesichts der Begründung des Entscheids der POM auch keinen Anlass, sich in
ihrer Beschwerde mit den Umständen ihrer Sozialhilfeabhängigkeit näher
auseinander zu setzen und namentlich auf allfällige Umstände hinzuweisen, die
der Beschwerdeführerin 1 die Aufnahme einer (allenfalls teilzeitlichen)
Erwerbstätigkeit verunmöglicht hätten. Diesen Aspekt hatte die POM in ihrem
Entscheid nicht thematisiert, sondern hat einzig auf das Fehlen der
Niederlassungsbewilligung abgestellt. Erst in ihrer Vernehmlassung an das
Verwaltungsgericht hat sie auf die langjährige Sozialhilfeabhängigkeit der
Beschwerdeführerinnen hingewiesen. Die Vorinstanz hat diesen die Vernehmlassung
zwar zugestellt, aber keine Replik eingeholt und das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege wenige Tage später abgewiesen.

2.4. Insofern kann man sich fragen, ob das Verwaltungsgericht das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege mit der obigen Begründung abweisen durfte.
Allerdings machen die Beschwerdeführerinnen keine Verletzung ihres
Gehörsanspruchs geltend und es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin 1
keiner Erwerbstätigkeit nachgeht; aufgrund dessen hat sie auch vor
Bundesgericht um unentgeltliche Prozessführung und Beiordnung einer Anwältin
ersucht. In ihrer Verfassungsbeschwerde - in Kenntnis der vorinstanzlichen
Vorhaltung hinsichtlich der Sozialhilfeabhängigkeit - machen die
Beschwerdeführerinnen ebenfalls nicht in substanziierter Weise geltend, in
ihrem Fall dürfe aufgrund spezifischer Umstände nicht auf dieses Kriterium
abgestellt werden, etwa weil sich dieses als diskriminierend erweisen würde.
Sie bringen zwar vor, unter Anwendung des bisherigen Rechts hätte die
Vorinstanz prüfen müssen, ob der Bezug von Sozialhilfe selbstverschuldet sei
und "die Frage einer indirekten Diskriminierung von Frauen (alleinerziehende
Mutter!) abwägen" müssen. Sie äussern sich aber auch vor Bundesgericht nicht
näher zu dieser Problematik, obwohl die Vorinstanz in der angefochtenen
Zwischenverfügung erwogen hat, aus den verfügbaren Akten würden sich keine
Hinweise auf besondere Umstände ergeben, die das Kriterium des
Sozialhilfebezugs als Einbürgerungshindernis als unzulässig erscheinen liesse.
Insbesondere wird in der Beschwerde nicht ausgeführt, weshalb es für die
Beschwerdeführerin 1 gänzlich unmöglich sein soll, mit einem über zehnjährigen
Kind zumindest einer teilzeitlichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Damit genügen
sie ihrer qualifizierten Begründungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht.

2.5. Insgesamt fehlt es somit an Hinweisen, wonach die Prozesschancen der
Beschwerdeführerinnen zumindest bei Anwendung des alten Rechts intakt gewesen
wären, weil in ihrem konkreten Fall aus dem Bezug von Sozialhilfe nicht auf
eine mangelhafte Integration geschlossen werden könnte. Bei der gebotenen
summarischen Prüfung der Rechtslage durfte die Vorinstanz daher ohne
Verfassungsverletzung (Art. 29 Abs. 3 BV) davon ausgehen, dass die Beschwerde
ungeachtet der intertemporalrechtlichen Fragen voraussichtlich klarerweise
hätte abgewiesen werden müssen und das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
abzuweisen sei.

3.

 Damit erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen.

 Bei diesem Prozessausgang werden die Beschwerdeführerinnen grundsätzlich
kostenpflichtig. Allerdings haben sie auch im Verfahren vor dem Bundesgericht
um unentgeltliche Rechtspflege ersucht. Da sich die Beschwerde insgesamt nicht
als aussichtslos erweist und die Beschwerdeführerinnen bedürftig sind, kann dem
Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

 Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird abgewiesen.

2.

 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

2.1. Es werden keine Kosten erhoben.

2.2. Den Beschwerdeführerinnen wird Fürsprecherin Katerina Baumann als
unentgeltliche Rechtsvertreterin beigegeben. Dieser wird aus der Gerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet.

3.

 Dieses Urteil wird den Beschwerdeführerinnen, der Einwohnergemeinde Köniz, dem
Kanton Bern und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche
Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. September 2015

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Die Gerichtsschreiberin: Pedretti

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