Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.581/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 1/2}
                   
1C_581/2015

Urteil vom 10. November 2015

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Chaix,
Gerichtsschreiber Uebersax.

Verfahrensbeteiligte
Roy Erismann,
Beschwerdeführer,

gegen

Regierungsrat des Kantons Zürich,
Neumühlequai 10, Postfach, 8090 Zürich,

Bundeskanzlei, Bundeshaus West, 3003 Bern.

Gegenstand
NR/CN-2015 - Erneuerungswahl der zürcherischen Mitglieder des schweizerischen
Nationalrates vom 18. Oktober 2015; Nichteintretensentscheid,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 4. November 2015 des Regierungsrats des
Kantons Zürich.

Sachverhalt:

A. 
Am 18. Oktober 2015 fanden die Erneuerungswahlen der Mitglieder des
schweizerischen Nationalrates für die Amtsdauer 2015-2019 statt. Die
Wahlergebnisse für den Kanton Zürich wurden am 23. Oktober 2015 im Amtsblatt
des Kantons Zürich veröffentlicht (ABl 2015-10-23). Mit Eingabe vom 26. Oktober
2015 erhob Roy Erismann beim Regierungsrat des Kantons Zürich Wahlbeschwerde
und beantragte im Wesentlichen sinngemäss, die Nationalratswahlen 2015 im
Wahlkreis des Kantons Zürich wegen verschiedener Unregelmässigkeiten ungültig
zu erklären und zu wiederholen. Mit Entscheid vom 4. November 2015 trat der
Regierungsrat des Kantons Zürich auf die Beschwerde mit der Begründung nicht
ein, die Beschwerde sei entgegen der gesetzlichen Vorschrift nicht
eingeschrieben, sondern bloss mit A-Post Plus zugestellt worden.

B. 
Mit Beschwerde vom 7. November 2015, eingegangen am 9. November 2015, an das
Bundesgericht beantragt Roy Erismann sinngemäss, den Entscheid des
Regierungsrates aufzuheben und die dafür zuständige Instanz zur inhaltlichen
Behandlung seiner Beschwerde anzuweisen. Zur Begründung beruft er sich unter
anderem auf möglichen Amtsmissbrauch im Wesentlichen durch Postangestellte
sowie auf die Bundesverfassung.

Erwägungen:

1. 
Nach Art. 77 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die
politischen Rechte (BPR; SR 161.1) kann bei der Kantonsregierung unter anderem
Beschwerde geführt werden wegen Unregelmässigkeiten bei der Vorbereitung und
Durchführung der Nationalratswahlen (Wahlbeschwerde; lit. c). Gegen den
Entscheid des kantonalen Regierungsrates steht die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (Art. 80 Abs.
1 BPR in Verbindung mit Art. 82 lit. c und Art. 88 Abs. 1 lit. b BGG). Da die
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.

2.1. Gemäss Art. 77 Abs. 2 BPR ist die Beschwerde an die Kantonsregierung
innert drei Tagen seit Entdeckung des Beschwerdegrundes, spätestens jedoch am
dritten Tag nach Veröffentlichung des Ergebnisses im kantonalen Amtsblatt
eingeschrieben einzureichen. Die Beschwerdeschrift muss zur Begründung eine
kurze Darstellung des Sachverhalts enthalten (Art. 78 BPR). Weitere formelle
Voraussetzungen für die Beschwerde an die Kantonsregierung sieht das
Bundesgesetz nicht vor. Die Kantonsregierung entscheidet innert zehn Tagen nach
Eingang der Beschwerde (Art. 79 Abs. 1 BPR).

2.2. Die aktuelle Fassung von Art. 77 Abs. 2 BPR wurde in der Schlussabstimmung
der Räte vom 21. Juni 2002 beschlossen und ist seit dem 1. Januar 2003 in
Kraft. Sie war Folge eines Entwurfs des Bundesrates vom 30. November 2001,
worin eine Neuformulierung der Bestimmung vorgesehen war, die jedoch das
Erfordernis einer eingeschriebenen Einreichung nicht enthielt (vgl. BBl 2001
6437). Der Bundesrat führte dazu aus, es seien verschiedene Anpassungen bei der
Rechtspflege im Bereich der politischen Rechte nötig, um die zeitgerechte
Abwicklung von Rechtsmittelverfahren zu gewährleisten. Dazu gehöre, jegliche
auf Verzögerung ausgelegte Inanspruchnahme des Beschwerderechts zu
verunmöglichen (BBl 2001 6420 f.). Auszuschliessen sei namentlich die
Einreichung einer Beschwerde per B-Post zum Zwecke des blossen Hinauszögerns
des Ablaufs einer Beschwerdefrist; die Alternative, die Beschwerde persönlich
zu überbringen, solle aber bestehen bleiben (BBl 2001 6421). Im Nationalrat als
Erstrat gab der entsprechende bundesrätliche Entwurf zu keinen Diskussionen
Anlass (AB 2002 N 338). Der Ständerat beschloss in der Folge auf Vorschlag
seiner vorbereitenden Kommission den heutigen Wortlaut. Dieser unterscheidet
sich von der bundesrätlichen Fassung vor allem dadurch, dass das Gesetz
vorsieht, eine Beschwerde sei eingeschrieben einzureichen, und dass die
Einschränkung entfiel, dass die Beschwerde spätestens am vierten Tag nach
Veröffentlichung der Ergebnisse im kantonalen Amtsblatt bei der
Kantonsregierung eintreffen müsse, weil dies die Beschwerdeführenden nach
Auffassung des Ständerates gar nicht selbst verantworten könnten (AB 2002 S
337). Im Differenzbereinigungsverfahren schloss sich der Nationalrat dem
ständerätlichen Beschluss ohne weitere Diskussion an (AB 2002 N 863).

2.3. Die Postaufgabe als eingeschriebene Sendung hat keine eigenständige
Bedeutung. Die Formvorschrift von Art. 77 Abs. 2 BPR bezweckt in erster Linie,
Verzögerungen zu verhindern. Ergänzend dient sie der Beweissicherung, indem
möglichst Unklarheiten darüber, wann eine Beschwerde aufgegeben wurde, und
entsprechende allenfalls aufwändige Abklärungen (vgl. BBl 2001 6421) vermieden
werden sollen. Im Übrigen erscheint es zweifelhaft, ob die Bundesversammlung im
Unterschied zum Bundesrat zusätzlich verhindern wollte, dass ein eventueller
Beschwerdeführer die Beschwerdeschrift persönlich abgibt. Wie es sich damit
verhält, kann hier jedoch offen bleiben. Ist die Beschwerdefrist durch
Postzustellung zweifelsfrei gewahrt und kommt es zu keinen dem Beschwerdeführer
zuzuschreibenden Verzögerungen, so ist es jedenfalls überspitzt formalistisch,
auf einer eingeschriebenen Zustellung zu beharren. Auch eine rechtzeitig
eingegangene Beschwerde, die wie hier mit A-Post Plus aufgegeben wurde, ist
nicht unzulässig. Das in Art. 77 Abs. 2 BPR genannte Erfordernis der Zustellung
per Einschreiben kann in diesem Sinne nicht Gültigkeitsvoraussetzung für eine
Beschwerde sein, sondern stellt lediglich eine Ordnungsvorschrift dar und hat
allenfalls Auswirkungen auf die Verteilung der Beweislast bzw. der
Beweisführungspflicht. Die Möglichkeit des Versandes per A-Post Plus, mit
welcher der Nachweis einer rechtzeitigen Aufgabe der Postsendung wie bei einem
Einschreiben ebenfalls nachträglich einfach erbracht werden kann, existierte im
Übrigen bei Erlass von Art. 77 Abs. 2 BPR noch nicht, so dass der Gesetzgeber
diese Option auch noch gar nicht bewusst ausschliessen konnte.

2.4. Im vorliegenden Fall wird vom Regierungsrat des Kantons Zürich nicht in
Frage gestellt, dass die an ihn gerichtete kantonale Beschwerde des
Beschwerdeführers rechtzeitig aufgegeben bzw. erhoben worden ist. Die
Vorinstanz beruft sich im angefochtenen Entscheid auch gar nicht darauf, die
Frist sei nicht gewahrt. Sie beurteilte die Beschwerde lediglich deshalb als
unzulässig, weil sie nicht per Einschreiben eingereicht worden war. Da es weder
zu Verzögerungen kam noch Zweifel über die Rechtzeitigkeit der Frist bestehen,
die der Beschwerdeführer allenfalls zu verantworten hätte, erweist sich der
angefochtene Entscheid als überspitzt formalistisch. Ein anderer
bundesrechtlicher Unzulässigkeitsgrund ist nicht ersichtlich und wird von der
Vorinstanz auch nicht ergänzend angerufen. Dies gilt insbesondere für die
Vorschrift von Art. 78 BPR, wonach die Beschwerdeschrift zur Begründung eine
kurze Darstellung des Sachverhaltes enthalten muss. Im Übrigen ergibt sich aus
der vom Beschwerdeführer seiner Beschwerde an das Bundesgericht beigelegten
Beschwerdeschrift an den Regierungsrat, dass diese der entsprechenden
Anforderung nachkommt. Der angefochtene Beschluss des zürcherischen
Regierungsrates ist demnach wegen formeller Rechtsverweigerung (gemäss Art. 29
Abs. 1 BV) aufzuheben. Im Übrigen ist nicht erkennbar, dass irgendeine Behörde
Amtsmissbrauch begangen hätte, wie der Beschwerdeführer auch geltend macht.

2.5. Das Bundesgericht kann nicht anstelle des Regierungsrates erstinstanzlich
über die vom Beschwerdeführer behaupteten Unregelmässigkeiten bei der
Durchführung der Wahlen im Kanton Zürich und der ermittelten Wahlergebnisse für
diesen Wahlkreis inhaltlich entscheiden. Es wird der Vorinstanz obliegen, diese
Prüfung gemäss den Rechtspflegevorschriften von Art. 77 ff. BPR vorzunehmen.
Dabei wird insbesondere die Behandlungsfrist von zehn Tagen zu beachten sein,
die in Analogie zu Art. 79 Abs. 1 BPR mit Eingang des bundesgerichtlichen
Urteils zu laufen beginnt. Dieses wird dem Regierungsrat des Kantons Zürich im
Übrigen aus Gründen der Dringlichkeit vorweg per Fax zugestellt.

3. 
Die Beschwerde erweist sich als offensichtlich begründet und ist im Verfahren
nach Art. 109 BGG gutzuheissen. Angesichts der klaren Rechtslage und der
Dringlichkeit des Verfahrens kann von einem Schriftenwechsel und von der
Einholung der kantonalen Akten abgesehen werden (Art. 102 BGG). Die Sache ist
an die Vorinstanz zurückzuweisen zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen
(vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG).
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 BGG). Dem
nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer steht praxisgemäss keine
Parteientschädigung zu.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und der Beschluss des Regierungsrates des
Kantons Zürich vom 4. November 2015 wird aufgehoben. Die Sache wird an den
Regierungsrat des Kantons Zürich zurückgewiesen zu neuem Entscheid im Sinne der
Erwägungen.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Regierungsrat des Kantons Zürich,
der Bundeskanzlei, dem Generalsekretariat der Bundesversammlung und den
Parlamentsdiensten, Generalsekretariat, Bern, und den Parlamentsdiensten,
Rechtsdienst, Bern, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. November 2015

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Uebersax

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