Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.542/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1C_542/2015

Urteil vom 28. Januar 2016

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André Largier,

gegen

Kanton Zürich, vertreten durch die Direktion der Justiz und des Innern des
Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle.

Gegenstand
Opferhilfe,

Beschwerde gegen das Urteil vom 31. August 2015 des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich, II. Kammer, Einzelrichter.

Sachverhalt:

A.
A.________ wurde am 1. Januar 2012 von B.________ mit einem Klappmesser durch
zwei Stiche in den Bauch verletzt. Das Bezirksgericht Winterthur sprach
B.________ mit Urteil vom 19. September 2013 der schweren Körperverletzung
(Art. 122 Abs. 1 StGB) und weiterer Delikte schuldig. Den zivilrechtlichen
Anspruch von A.________ auf Schadenersatz hiess es im Grundsatz gut, zudem
verpflichtete es den Täter, ihm eine Genugtuung von Fr. 25'000.-- zuzüglich 5 %
Zins seit dem 1. Januar 2012 zu bezahlen.
Am 13. Januar 2014 stellte A.________ bei der Opferhilfestelle des Kantons
Zürich ein Gesuch um eine Genugtuung von Fr. 25'000.-- zuzüglich 5 % Zins seit
dem 1. Januar 2012. Mit Verfügung vom 24. April 2014 sprach ihm die
Opferhilfestelle eine Genugtuung im Betrag von Fr. 8'000.-- zu (ohne Zins). Im
Mehrbetrag wies sie das Gesuch ab.
Dagegen erhob A.________ Beschwerde ans Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich. Er beantragte eine Genugtuung von mindestens Fr. 16'667.--. Mit Urteil
vom 31. August 2015 wies das Sozialversicherungsgericht das Rechtsmittel ab.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht vom
14. Oktober 2015 beantragt A.________ sinngemäss, das Urteil des
Sozialversicherungsgerichts sei aufzuheben und die Opferhilfestelle zu
verpflichten, ihm eine Genugtuung von mindestens Fr. 16'667.-- zuzusprechen.
Das Sozialversicherungsgericht und das ebenfalls zur Vernehmlassung eingeladene
Bundesamt für Justiz haben auf eine Stellungnahme verzichtet. Die kantonale
Opferhilfestelle hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid stellt einen kantonal letztinstanzlichen
Endentscheid (vgl. Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie Art. 90 BGG) im
Bereich der Opferhilfe dar. Dagegen steht die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gemäss Art. 82 lit. a BGG offen. Bei der
Opferhilfe geht es nicht um Staatshaftung, weshalb die Streitwertgrenze gemäss
Art. 85 Abs. 1 lit. a BGG nicht anwendbar ist (BGE 132 II 117 E. 2.2.4 S. 121;
Urteil 1C_326/2014 vom 16. Januar 2015 E. 1.1; je mit Hinweisen). Die weiteren
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die
Beschwerde ist vorbehältlich einer hinreichenden Begründung der Beschwerde
(vgl. Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) einzutreten.

2.

2.1. Bei der Bemessung der Genugtuung berücksichtigte das
Sozialversicherungsgericht die körperliche und psychische Beeinträchtigung des
Beschwerdeführers. Die Verletzung sei zwar bis auf eine Narbe und eine
Sensibilitätsstörung oberhalb der Narbe vollständig abgeheilt. Zudem gebe es
gemäss dem Entscheid der Opferhilfestelle keine Hinweise auf einen
ausserordentlich langen Heilungsverlauf oder auf Komplikationen. Indessen habe
aufgrund der Verletzung eine akute Lebensgefahr bestanden und sei eine
situationsbedingte erhöhte psychische Verletzlichkeit zurückgeblieben. Laut dem
Bericht des Kantonsspitals Winterthur vom 8. Februar 2012 hätten die
Messerstiche zu einer Eviszeration (Heraustreten) von Dünndarm geführt. Während
der Operation hätten sich weiter eine Verletzung des Bauchfells, eine
Verletzung einer Dünndarmarterie, zwei Löcher im Dickdarm und eine
oberflächliche Dünndarmverletzung gezeigt. Ohne ärztliche Versorgung wäre der
Beschwerdeführer verblutet und es wäre wegen der Darmverletzung zu einer
Entzündung mit möglicherweise ebenfalls tödlichen Folgen gekommen. Dr. med.
C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, habe in seinem Bericht
vom 27. November 2012 eine Anpassungsstörung diagnostiziert. Im Laufe des
Jahres habe der Beschwerdeführer seine Arbeitsstelle verloren und es sei zur
Trennung von seiner Ehefrau gekommen. Beides sei durch die psychische Störung
nach dem 1. Januar 2012 bedingt. Am 9. September 2013 habe Dr. C.________
berichtet, aufgrund des bisherigen Verlaufs könne damit gerechnet werden, dass
die Symptomatik weiter abklingen werde, sodass die Diagnose der
Anpassungsstörung nicht mehr gerechtfertigt sei. Es werde jedoch vermutlich
eine erhöhte psychische Verletzlichkeit gegenüber Situationen, die
zwischenmenschliche Konflikte oder aggressive Auseinandersetzungen
beinhalteten, zurückbleiben.
Das Sozialversicherungsgericht kam nach einem Vergleich mit Präjudizien zum
Schluss, dass eine zivilrechtliche Genugtuungssumme von Fr. 13'000.--
angemessen sei. Dieser Betrag sei aufgrund des tieferen Bemessungsrahmens im
Opferhilferecht um 40 % zu kürzen, was Fr. 7'800.-- ergebe. Es sei demzufolge
nicht zu beanstanden, wenn die Opferhilfestelle dem Beschwerdeführer Fr.
8'000.-- als Genugtuung zugesprochen habe.

2.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, es habe kein Anlass bestanden, von den
Sachverhaltsfeststellungen und rechtlichen Erwägungen des Strafgerichts
abzuweichen. Das Sozialversicherungsgericht behaupte solches denn auch nicht.
Trotzdem habe es das Strafurteil ignoriert und die Höhe der Genugtuung nach
einer eigenen Würdigung der einschlägigen Rechtsprechung festgesetzt. Indessen
würden auch die entsprechenden Präjudizien keinen Anlass geben, die vom
Strafgericht festgesetzte Genugtuung um nahezu die Hälfte zu kürzen. Auszugehen
sei somit von einer Genugtuung von Fr. 25'000.--. Diese könne gemäss den
Gesetzesmaterialien um einen Drittel gekürzt werden, um der spezifischen
Zwecksetzung der Opferhilfe Rechnung zu tragen. Dies ergebe einen Betrag von
Fr. 16'667.--.

3.

3.1. Bereits unter Geltung des alten Opferhilfegesetzes vom 4. Oktober 1991 in
der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung (aOHG) galt gemäss konstanter
Rechtsprechung, dass bei der Prüfung der Angemessenheit einer Genugtuung die
Opferhilfebehörde nicht an das Erkenntnis des Strafgerichts gebunden ist
(Urteil 1C_286/2008 vom 1. April 2009 E. 4 mit Hinweisen). Das Bundesgericht
hielt zudem fest, dass die opferhilferechtliche Genugtuung nicht gleich hoch
wie die zivilrechtliche zu sein habe. Sie dürfe tiefer angesetzt werden, da sie
nicht vom Täter, sondern - als Akt der Solidarität - von der Allgemeinheit
bezahlt wird. Indessen bezeichnete es das Bundesgericht als sinnvoll, wenn sich
die Bemessung der Genugtuung nach Opferhilfegesetz nicht zu weit von den
zivilrechtlichen Grundsätzen, wie sie die Strafgerichte im Adhäsionsverfahren
(vgl. Art. 9 aOHG) anwenden, entferne (BGE 132 II 117 E. 2.2.4 S. 121 mit
Hinweisen).

3.2. Im Rahmen der Revision des Opferhilfegesetzes bildete die Genugtuung einen
der zentralen Punkte. Im Vernehmlassungsverfahren sprach sich eine überwiegende
Mehrheit für deren Beibehaltung aus. Der Bundesrat schrieb dazu in der
Gesetzesbotschaft, der Genugtuung komme eine wichtige symbolische Rolle zu,
denn mit ihr anerkenne das Gemeinwesen die schwierige Situation des Opfers
(Botschaft vom 9. November 2005 zur Totalrevision des Opferhilfegesetzes, BBl
2005 7223 Ziff. 2.3.2). Dementsprechend hat das Opfer auch nach dem
revidierten, am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Opferhilfegesetz Anspruch
auf eine Genugtuung, wenn die Schwere der Beeinträchtigung es rechtfertigt. Die
Art. 47 und 49 OR sind gemäss Art. 22 Abs. 1 OHG sinngemäss anwendbar, wie dies
bereits nach der Praxis zum aOHG galt. Ebenso ist die Genugtuung weiterhin nach
der Schwere der Beeinträchtigung zu bemessen (Art. 23 Abs. 1 OHG). Neu ist
indessen, dass die Genugtuung der Opferhilfe durch Höchstbeträge beschränkt
wird. Für das Opfer beträgt sie gemäss Art. 23 Abs. 2 lit. a OHG höchstens Fr.
70'000.--, für Angehörige Fr. 35'000.--.
Die Festlegung von Höchstbeträgen führte zu einer klaren Abkoppelung der
opferhilferechtlichen von der zivilrechtlichen Genugtuung (vgl. PETER GOMM, in:
Opferhilfegesetz, 3. Aufl. 2009, N. 4 zu Art. 23 OHG). Sie bringt den
gesetzgeberischen Willen zum Ausdruck, bei der Bemessung klar tiefer anzusetzen
als die zivilrechtliche Praxis (BBl 2005 7226 Ziff. 2.3.2). Die nach
Privatrecht üblicherweise gewährten Beträge können jedoch einen Hinweis darauf
geben, welche Beeinträchtigungen höhere Genugtuungen rechtfertigen. Die
Höchstsummen sind für die schwersten Verletzungen vorbehalten (a.a.O.).

3.3. Den kantonalen Behörden steht bei der Festsetzung der Höhe der Genugtuung
ein weiter Ermessensspielraum zu, in den das Bundesgericht nur eingreift, wenn
grundlos von den in Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen
abgewichen wird, wenn Tatsachen berücksichtigt werden, die für den Entscheid im
Einzelfall keine Rolle spielen dürfen oder wenn umgekehrt Umstände ausser
Betracht geblieben sind, die hätten beachtet werden müssen, oder wenn sich der
Entscheid als offensichtlich ungerecht erweist (BGE 132 II 117 E. 2.2.5 S. 121
mit Hinweisen).

4.

4.1. Wenn der Beschwerdeführer kritisiert, die Vorinstanz sei von der im
Strafurteil adhäsionsweise festgesetzten zivilrechtlichen Genugtuung
abgewichen, übersieht er, dass die Opferhilfebehörde bei der Prüfung der
Angemessenheit einer Genugtuung nicht an das Erkenntnis des Strafgerichts
gebunden ist (vgl. das bereits erwähnte Urteil 1C_286/2008 vom 1. April 2009 E.
4 mit Hinweisen). Festzuhalten ist in dieser Hinsicht zudem, dass sich das
Sozialversicherungsgericht zwar nicht direkt auf die Genugtuungsbemessung durch
das Strafgericht bezogen, jedoch ausgehend von den Sachverhaltsfeststellungen
im Strafurteil und gestützt auf vergleichbare Fälle dargelegt hat, weshalb eine
zivilrechtliche Genugtuungsumme von Fr. 13'000.-- als angemessen erscheine. Das
Verschulden des Täters berücksichtigte es dabei, im Unterschied zum
Strafgericht, zu Recht nicht (vgl. BGE 132 II 117 E. 2.2.4 S. 121, wonach
täterbezogene Merkmale unberücksichtigt bleiben, zumal die Genugtuung nicht vom
Täter, sondern von der Allgemeinheit bezahlt wird). Der Beschwerdeführer bringt
vor, die Präjudizien würden eine derartige Abweichung nicht rechtfertigen,
begründet seine Auffassung jedoch nicht weiter. Mit den ausführlichen
Erwägungen im angefochtenen Entscheid setzt er sich ebenfalls nicht
auseinander. Darauf ist nicht weiter einzugehen (Art. 42 Abs. 2 BGG).

4.2. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist nach dem Ausgeführten, dass das
Sozialversicherungsgericht die opferhilferechtliche Genugtuung deutlich tiefer
ansetzte als die zivilrechtliche. Der Beschwerdeführer fordert in dieser
Hinsicht unter Hinweis auf die Botschaft, dass die zivilrechtlich angemessene
Genugtuung nur um einen Drittel gekürzt werden dürfe. Aus der Botschaft geht
indessen lediglich hervor, dass der Betrag von Fr. 70'000.-- ungefähr zwei
Dritteln des üblichen haftpflichtrechtlichen Grundbetrags bei dauernder
Invalidität, der bei Fr. 100'000.-- angesetzt werde, entspricht (BBl 2005 7225
Ziff. 2.3.2). Ein zwingender Automatismus im Sinne einer "Zwei-Drittel-Regel"
ergibt sich daraus nicht. Vielmehr wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
es der Praxis überlassen werden solle, einen Tarif zu entwickeln (BBl 2005 7226
Ziff. 2.3.2; vgl. auch MERET BAUMANN/BLANCA ANABITARTE/SANDRA MÜLLER GMÜNDER,
Genugtuungspraxis Opferhilfe, Jusletter vom 1. Juni 2015, Rz. 4).

4.3. Das Sozialversicherungsgericht ist aufgrund eines Vergleichs des
Höchstbetrags von Fr. 70'000.-- mit den im Haftpflichtrecht zugesprochenen
Höchstsummen zum Schluss gekommen, dass eine Herabsetzung um 40 %
gerechtfertigt sei. Angesichts des weiten Ermessensspielraums der kantonalen
Behörden sowie des Umstands, dass der genannte Höchstbetrag den schwersten
Fällen vorbehalten sein soll, und unter Berücksichtigung des
Rechtsgleichheitsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV) ist ein derartiges Vorgehen nicht zu
beanstanden (vgl. BBl 2005 7226 Ziff. 2.3.2; vgl. auch Bundesamt für Justiz,
Leitfaden zur Bemessung der Genugtuung nach Opferhilfegesetz, 2008, S. 5,
«https:// www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/opferhilfe/hilfsmittel.html»
[besucht am 22. Januar 2016]). Die pauschale Kritik des Beschwerdeführers ist
schliesslich auch nicht geeignet aufzuzeigen, dass der angefochtene Entscheid
im Ergebnis offensichtlich ungerecht ist (vgl. E. 3.3 hiervor). Die sinngemäss
vorgetragene Rüge der Verletzung von Art. 23 OHG ist somit unbegründet.

5.
Die Beschwerde ist aus den genannten Gründen abzuweisen, soweit darauf
einzutreten ist.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 30 Abs. 1 OHG). Eine
Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Kanton Zürich, dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, Einzelrichter, und
dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. Januar 2016

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Dold

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