Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.402/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1C_402/2015

Urteil vom 10. Februar 2016

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Chaix,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Marc Siegenthaler,

gegen

Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau,
Postfach, 5001 Aarau,
Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse
12, 5001 Aarau.

Gegenstand
Entzug des Führerausweises,

Beschwerde gegen das Urteil vom 3. Juni 2015 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Aargau, 1. Kammer.

Sachverhalt:

A. 
A.________ fuhr am 29. Dezember 2013, um 00.30 Uhr, am Steuer eines Porsche
Cayenne, bei starkem Schneefall von Davos in Richtung Lenzerheide. Vor
Schmitten verlor er in einer starken Rechtskurve die Herrschaft über sein
Fahrzeug: er geriet ins Rutschen, überquerte unkontrolliert die Gegenfahrbahn,
kollidierte mit einer Kurvenleittafel und einem Metallzaun und rutschte die
abfallende Böschung hinunter.
Mit Strafbefehl vom 21. März 2014 verurteilte die Staatsanwaltschaft Graubünden
A.________ wegen Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 32 Abs. 1 SVG und
Art. 4 Abs. 2 VRV (Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die Strassen-,
Verkehrs- und Sichtverhältnisse) i.V.m. Art. 90 Abs. 1 SVG zu einer Busse von
Fr. 400.--. Der Strafbefehl blieb unangefochten.

B. 
Am 21. August 2014 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau A.________
den Führerausweis wegen einer mittelschweren Widerhandlung gegen die
Verkehrsregeln im Sinn von Art. 16b SVG für vier Monate.
Am 29. Oktober 2014 wies das Departement Volkswirtschaft und Inneres des
Kantons Aargau (DVI) die Beschwerde von A.________ gegen diese Entzugsverfügung
ab.
Am 3. Juni 2015 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde
von A.________ gegen diese Departementalverfügung ab, soweit es darauf eintrat.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und ihm den Führerausweis
gestützt auf Art. 16a SVG für maximal einen Monat zu entziehen. Ausserdem
ersucht er, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Verwaltungsgericht, DVI und Strassenverkehrsamt verzichten auf Vernehmlassung
und verweisen auf die vorinstanzlichen Entscheide. Das Bundesamt für Strassen
(ASTRA) beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

D. 
Am 20. Oktober 2015 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen
Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

Erwägungen:

1. 
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über eine
Administrativmassnahme gegen einen Fahrzeuglenker. Dagegen steht die Beschwerde
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein
Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Der Beschwerdeführer ist zur
Beschwerde befugt (Art. 89 Abs. 1 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.

2.1. Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und
schweren Widerhandlung (Art. 16a-c SVG). Gemäss Art. 16a SVG begeht eine
leichte Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe
Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft und ihn dabei nur ein leichtes
Verschulden trifft (Abs. 1 lit. a). Die fehlbare Person wird verwarnt, wenn in
den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht entzogen war und keine andere
Administrativmassnahme verfügt wurde (Abs. 3). Gemäss Art. 16b SVG begeht eine
mittelschwere Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine
Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit.
a). Nach einer mittelschweren Widerhandlung wird der Führerausweis für
mindestens einen Monat entzogen (Abs. 2 lit. a) bzw. für mindestens vier
Monate, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis bereits einmal
wegen einer schweren oder mittelschweren Widerhandlung entzogen war (Abs. 2
lit. b). Leichte und mittelschwere Widerhandlungen werden von Art. 90 Ziff. 1
SVG als einfache Verkehrsregelverletzungen erfasst (BGE 135 II 138 E. 2.4 S.
143). Gemäss Art. 16c SVG begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe
Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer
hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer schweren
Widerhandlung, welche einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90
Ziff. 2 SVG entspricht (BGE 132 II 234 E. 3 S. 237), wird der Führerausweis für
mindestens drei Monate entzogen (Abs. 2 lit. a). Eine Unterschreitung der
gesetzlichen Mindestentzugsdauer ist ausgeschlossen (Art. 16 Abs. 3 SVG; zum
Ganzen: Urteil 1C_424/2012 vom 14. Januar 2013 E 2.1).

2.2. Die mittelschwere Widerhandlung stellt nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG
einen Auffangtatbestand dar. Sie liegt vor, wenn nicht alle privilegierenden
Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG und nicht
alle qualifizierenden Elemente einer schweren Widerhandlung nach Art. 16c Abs.
1 lit. a SVG gegeben sind (Urteil 6A.16/2006 vom 6. April 2006 E. 2.1.1, in:
JdT 2006 I S. 442; Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des
Strassenverkehrsgesetzes, BBl 1999 4487). Die Annahme einer schweren
Widerhandlung setzt kumulativ eine qualifizierte objektive Gefährdung und ein
qualifiziertes Verschulden voraus. Ist die Gefährdung gering, aber das
Verschulden hoch, oder umgekehrt die Gefährdung hoch und das Verschulden
gering, liegt eine mittelschwere Widerhandlung vor (Botschaft a.a.O. 4489;
CÉDRIC MIZEL, Die Grundtatbestände der neuen Warnungsentzüge des SVG und ihre
Beziehung zum Strafrecht, in ZStrR 124/2006, S. 31 ff., insbesondere S. 63 f.;
zum Ganzen: Urteil 1C_456/2011 vom 28. Februar 2012 E. 2.2).

2.3. Ein Strafurteil vermag die Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht zu
binden. Allerdings gebietet der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung,
widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden, weshalb die
Verwaltungsbehörde beim Entscheid über die Massnahme von den tatsächlichen
Feststellungen des Strafrichters nur abweichen darf, wenn sie Tatsachen
feststellt und ihrem Entscheid zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt
waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt oder wenn der Strafrichter bei der
Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt,
namentlich die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat. In der
rechtlichen Würdigung des Sachverhalts - namentlich auch des Verschuldens - ist
die Verwaltungsbehörde demgegenüber frei, ausser die rechtliche Qualifikation
hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser
kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II
447 E. 3.1; 127 II 302 nicht publ. E. 3a; 124 II 103 E. 1c/aa und bb). Auch in
diesem Zusammenhang hat er jedoch den eingangs genannten Grundsatz (Vermeiden
widersprüchlicher Urteile) gebührend zu berücksichtigen (Urteil 1C_424/2012 vom
14. Januar 2013 E 2.3).

3.

3.1. Unbestritten ist, dass dem Beschwerdeführer der Führerausweis bereits am
26. September 2013 wegen einer schweren Widerhandlung für drei Monate entzogen
worden war. Erweist sich der vorliegend zu beurteilende Vorfall entsprechend
der Beurteilung aller Vorinstanzen als mittelschwere Widerhandlung, so
entspricht die gegen den Beschwerdeführer verhängte Entzugsdauer von 4 Monaten
dem gesetzlichen Minimum (Art. 16b Abs. 2 lit. b SVG), das nicht unterschritten
werden kann.

3.2. Sowohl der Strafbefehl als auch die umstrittene Administrativmassnahme
beruhen einzig auf dem Polizeirapport und der polizeilichen Einvernahme des
Beschwerdeführers vor Ort. Weitere Sachverhaltsabklärungen wurden nicht
vorgenommen. Die strafrechtliche und die verwaltungsrechtliche Beurteilungen
des Vorfalls als einfache Verkehrsregelverletzung bzw. als mittelschwere
Widerhandlung decken sich im Grundsatz (oben E. 2.1), auch wenn die
Staatsanwaltschaft, wie sich aus der moderaten Bussenhöhe von Fr. 400.--
ergibt, das Verschulden unter strafrechtlichen Gesichtspunkten weniger streng
beurteilte als dies das Strassenverkehrsamt unter verwaltungsrechtlichen tat.
Das Strassenverkehrsamt ist in der vorliegenden Konstellation allerdings
befugt, das Verschulden eigenständig zu beurteilen und von der Auffassung des
Strafrichters abzuweichen (oben E. 2.2).

3.3. Der Beschwerdeführer fuhr bei Nacht, bei starkem Schneetreiben auf der mit
rund 10 cm Schnee bedeckten Landwasserstrasse talabwärts, als er in einer
scharfen Rechtskurve die Kontrolle über sein Fahrzeug vollständig verlor, über
die Gegenfahrbahn rutschte, einen Leitpfosten und eine Kurvenleitschranke
knickte, einen Drahtzaun durchschlug und die Böschung hinunterschlitterte. Die
Verhältnisse waren zwar offenkundig schlecht, die Strasse nach Einschätzung der
Polizeibeamten vor Ort "sehr rutschig". Sie waren allerdings dem
Beschwerdeführer, der, von Davos kommend, vor dem Unfall bereits mehrere
Kilometer auf der Landwasserstrasse zurückgelegt hatte, auch bekannt.
Offensichtlich hat er sie indessen unterschätzt bzw. die Haftung seines
Fahrzeugs überschätzt und war mit einer den Verhältnissen nicht angepassten,
überhöhten Geschwindigkeit unterwegs. Diesen Vorwurf hat er im Strafverfahren
akzeptiert, und das Verschulden an dieser Fehleinschätzung darf nicht ohne
weiteres bagatellisiert werden. Vor allem aber wurden durch den totalen
Kontrollverlust über das (schwere) Fahrzeug sowohl er als auch andere
Verkehrsteilnehmer stark gefährdet. Er selber hat den Unfall nur deshalb
unbeschadet überstanden, weil die Böschung an der Unfallstelle zufällig wenig
steil abfällt; an anderer Stelle hätte ein solches Ausbrechen des Fahrzeugs
weit schlimmere Folgen für ihn haben können. Keiner weiteren Ausführungen
bedarf zudem, dass zumindest abstrakt auch die anderen Verkehrsteilnehmer
erheblich gefährdet wurden, gerade bei den schwierigen Strassenverhältnissen,
die brüske Ausweichmanöver, um einem unkontrolliert über die Gegenfahrbahn
rutschenden Fahrzeug auszuweichen, nicht erlauben. Seine Behauptung, es habe
für den Gegenverkehr keine Gefahr bestanden, da solcher höchstens im
Schritttempo hätte fahren und dementsprechend rechtzeitig bremsen können,
entbehrt jeder Grundlage. Er selber fuhr nach eigenen Angaben mit rund 20 km/h
talwärts, also mindestens vier bis fünf mal schneller als im Schritttempo. Er
musste daher mit entgegenkommenden Fahrzeugen rechnen, die zumindest gleich
schnell, eher aber - bergwärts - schneller unterwegs waren als er. Das
Verwaltungsgericht hat kein Bundesrecht verletzt, indem es die Einstufung des
Vorfalls als mittelschwere Widerhandlung schützte.

4. 
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt des Kantons
Aargau, dem Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, dem
Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, und dem Bundesamt für
Strassen, Sekretariat Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Februar 2016

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi

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