Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.29/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1C_29/2015

Urteil vom 24. April 2015

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Chaix,
Gerichtsschreiberin Pedretti.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Harold Külling,

gegen

Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse
12, 5001 Aarau,

Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau,
Postfach, 5001 Aarau 1 Fächer.

Gegenstand
Entzug des Führerausweises,

Beschwerde gegen das Urteil vom 27. November 2014 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Aargau, 1. Kammer.

Sachverhalt:

A.

 A.________ verfügt seit dem 26. November 1990 über den Führerausweis der
Kategorie B. Ihm gegenüber wurden mehrere Administrativmassnahmen
ausgesprochen, unter anderem zwei Führerausweisentzüge für je zwei Monate in
den Jahren 2007 und 2008 wegen Verursachens von Verkehrsunfällen.

B.

 Am 9. März 2012 ordnete das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau gegenüber
A.________ eine eingehende verkehrspsychologische Begutachtung an, weil er über
einen belasteten automobilistischen Leumund verfüge und zwischen September 2011
und Januar 2012 drei Verkehrsunfälle verursacht habe. Dieser Anordnung kam er
nicht nach.
Daraufhin verfügte das Strassenverkehrsamt mit in Rechtskraft erwachsener
Verfügung vom 25. Mai 2012 einen vorsorglichen Sicherungsentzug des
Führerausweises auf unbestimmte Zeit ab dem 25. Mai 2012 und ordnete erneut
eine verkehrspsychologische Begutachtung an (publiziert im Amtsblatt des
Kantons Aargau vom 13. Juli 2012). Dieser unterzog sich A.________ am 7.
Februar 2013. Das Gutachten vom 14. Februar 2013 ergab, dass er in
charakterlicher Hinsicht zum Lenken eines Motorfahrzeugs ungeeignet sei.
Mit rechtskräftiger Verfügung vom 5. April 2013 ordnete das Strassenverkehrsamt
gestützt auf das Gutachten einen definitiven Entzug des Führerausweises auf
unbestimmte Zeit sowie eine 12-monatige Sperrfrist ab dem 12. Januar 2013 an,
da A.________ am 11. Januar 2013 in Zürich trotz Ausweisentzug ein
Motorfahrzeug führte. Zusätzlich wurde die Wiedererlangung des Führerausweises
von mehreren Bedingungen abhängig gemacht (Ablauf der Sperrfrist; Absolvieren
von mindestens 15 Sitzungen Verkehrstherapie; erneute verkehrspsychologische
Begutachtung mit positivem Ergebnis; Vorbehalt weiterer Abklärungen).

C.

 A.________ führte zwischen dem 4. November 2012 und dem 7. November 2013
mehrfach Motorfahrzeuge trotz rechtskräftig verfügtem Sicherungsentzug auf
unbestimmte Zeit. Dabei verletzte er teilweise weitere Verkehrsregeln. Deshalb
verfügte das Strassenverkehrsamt am 7. März 2014, dass der Führerausweis auf
unbestimmte Zeit entzogen bleibe und auferlegte ihm eine Mindestentzugsdauer
von 24 Monaten ab dem 8. November 2013 bis und mit dem 7. November 2015,
gestützt auf Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG und Art. 33 Abs. 4 lit. a der
Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr
vom 27. Oktober 1976 (VZV, SR 741.51). Die Wiedererlangung des Führerausweises
wurde wiederum vom Erfüllen mehrerer Bedingungen abhängig gemacht.

D.

 Die gegen diese Verfügung erhobene Verwaltungsbeschwerde wies das Departement
Volkswirtschaft und Inneres (DVI) des Kantons Aargau am 20. Juni 2014 ab.
Ebenso wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde gegen den
Departementalentscheid mit Urteil vom 27. November 2014 ab, soweit darauf
eingetreten werden konnte.

E.

 Mit Beschwerde vom 12. Januar 2015 gelangt A.________ an das Bundesgericht und
beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 27. November 2014 sei
aufzuheben und ihm sei der Führerausweis per 25. Mai 2014, eventualiter per 13.
Juli 2014, wiederzuerteilen, eventuell mit Auflagen (verkehrspsychologisches
Gutachten). In prozessualer Hinsicht wird um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsvertretung ersucht.
Das Strassenverkehrsamt und das Bundesamt für Strassen (ASTRA) schliessen auf
Abweisung der Beschwerde. Das Verwaltungsgericht und das DVI verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

 Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über einen
Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben
(Art. 83 BGG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist
auf die Beschwerde einzutreten.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann insbesondere
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht wendet das Bundesrecht - mit Ausnahme der Grundrechte - von Amtes
wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).

2.

 Nach Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG wird der Führerausweis nach einer schweren
Widerhandlung für unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre entzogen,
wenn in den vorangegangenen zehn Jahren der Ausweis zweimal wegen schweren
Widerhandlungen oder dreimal wegen mindestens mittelschweren Widerhandlungen
entzogen war. Dass diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt sind, ist
unbestritten. Zu prüfen ist einzig die Frage des Zeitpunkts für den Beginn der
mit dem Sicherungsentzug verfügten zweijährigen Mindestentzugsdauer.

2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Mindestentzugsdauer von zwei
Jahren beginne ab dem Zeitpunkt des vorsorglichen Sicherungsentzugs, das heisst
ab dem 25. Mai 2012, allenfalls dem 13. Juli 2012 (s. lit. B hiervor), nicht
jedoch - wie von den Vorinstanz bestätigt - ab dem 8. November 2013 (s. oben
lit. C). Er beruft sich dabei auf Art. 16c Abs. 3 und Abs. 4 SVG. Gemäss Abs. 3
tritt die Dauer des Ausweisentzugs wegen Führens eines Motorfahrzeugs trotz
Ausweisentzug (Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG) an die Stelle der noch verbleibenden
Dauer des laufenden Entzugs. Dagegen bestimmt Abs. 4, dass eine Sperrfrist
verfügt wird, die der für die Widerhandlung vorgesehenen Mindestentzugsdauer
entspricht, wenn die betroffene Person trotz eines Führerausweisentzugs wegen
fehlender Fahreignung (Art. 16d SVG) ein Motorfahrzeug führt. Indem die
Vorinstanz für den Beginn auf den Zeitpunkt der letzten aktenkundigen
Widerhandlung (7. November 2013) abstelle, verletze sie, so der
Beschwerdeführer, die entsprechenden Bestimmungen des SVG. Ausserdem handle sie
ohne gesetzliche Grundlage, womit auch gegen das Legalitätsprinzip in Art. 5
Abs. 1 BV verstossen werde.

2.2. Das Verwaltungsgericht erwog, für die zweijährige Mindestentzugsdauer
liege mit Art. 16c Abs. 2 lit. d i.V.m. Abs. 4 SVG eine gesetzliche Grundlage
vor. Es stellte zudem in Frage, ob das Additionsverbot in Art. 16c Abs. 3 SVG
überhaupt auf den vorliegenden Fall anwendbar sei: Zum einen behandle diese
Bestimmung die gesamthafte Dauer eines Ausweisentzuges und regle nicht den
Beginn eines solchen; zum anderen sei sie auf Warnungsentzüge auf bestimmte
Zeit zugeschnitten und nicht - wie hier - auf Fälle des Führens eines
Motorfahrzeugs trotz Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit. Da dieser
grundsätzlich so lange dauere, bis die betroffene Person wieder fahrgeeignet
sei, könne eine allfällige Wiedererteilung des Führerausweises nur mittels
einer Sperrfrist nach Art. 16c Abs. 4 SVG hinausgezögert werden. Es sei deshalb
sachgerecht, für den Beginn der Mindestentzugsdauer auf den Zeitpunkt der
letzten bekannten Widerhandlung am 7. November 2013, welche (noch) unter die
Kaskade von Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG falle, abzustellen. Dies auch unter
Gleichbehandlungsaspekten, denn sich auf einen früheren Zeitpunkt zu beziehen,
würde bedeuten, dass die mehrfachen Fahrten des Beschwerdeführers trotz
Führerausweisentzug "folgenlos" blieben.

2.3. Die Argumentation des Beschwerdeführers, der Zeitpunkt des Beginns der
zweijährigen Mindestentzugsdauer ergebe sich aus Art. 16c Abs. 3 SVG, ist aus
den vom Verwaltungsgericht genannten Gründen unbehelflich. Zudem wäre das vom
Beschwerdeführer gewünschte Resultat nicht herbeizuführen, selbst wenn man
diese Bestimmung anwenden würde: Art. 16c Abs. 3 SVG erlaubt lediglich, die
verbleibende durch die neue Ausweisentzugsdauer zu ersetzen, ab dem Tag der
Feststellung der Verkehrsregelverletzung (vgl. Cédric Mizel, Les nouvelles
dispositions légales sur le retrait du permis de conduire, RDAF 2004 N. 62).
Eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Anordnung des vorsorglichen
Sicherungsentzugs ist somit ausgeschlossen.
Die Erwägung des Verwaltungsgerichts, die zweijährige Mindestentzugsdauer
ergebe sich aus Art. 16c Abs. 2 lit. d i.V.m. Abs. 4 SVG, bringt zutreffend zum
Ausdruck, dass sich nicht die Art des Sicherungsentzugs per se, sondern
lediglich die Grundlage für die Mindestentzugsdauer aufgrund der
Kaskadenwirkung in Art. 16c Abs. 2 SVG geändert hat. Der am 5. April 2013
rechtskräftig verfügte definitive Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit wurde
gestützt auf eine Fahreignungsabklärung aufgrund des Charakters des
Beschwerdeführers im Sinne von Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG angeordnet. Dieser
ist vom Sicherungsentzug nach Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG zu unterscheiden, bei
welchem die charakterliche Fahrungeeignetheit unwiderlegbar gesetzlich vermutet
wird, wenn die betroffene Person innerhalb einer gewissen Zeitspanne rückfällig
wird, nachdem sie bereits mehrere schwere oder mittelschwere Widerhandlungen
gegen Verkehrsvorschriften begangen hat (BGE 139 II 95 E. 3.4.2 f. S. 103 f.;
RÜTSCHE/D'AMICO, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 50 zu
Art. 16d). Der Beschwerdeführer führte unbestrittenermassen mehrfach trotz
Sicherungsentzug nach Art. 16d SVG ein Motorfahrzeug und beging damit, zuletzt
am 7. November 2013, eine schwere Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG).
Da ein solches Verhalten nicht ohne Folgen bleiben soll, ist gemäss Art. 16c
Abs. 4 SVG eine Sperrfrist zu verfügen, die der Mindestentzugsdauer für die
begangene Widerhandlung entspricht. Diese beträgt hier aufgrund des
Kaskadensystems zwei Jahre gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG (und nicht mehr
nur 12 Monate nach Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG). Dadurch wird die allfällige
Wiedererteilung des Führerausweises hinausgeschoben (vgl. Art. 17 Abs. 3 SVG;
BBl 1999 4491).
Damit wird aber noch kein genauer Zeitpunkt für den Beginn der
Mindestentzugsdauer bestimmt. Der Vorinstanz ist zuzustimmen, wenn sie hierfür
auf den Zeitpunkt der letzten aktenkundigen (schweren) Widerhandlung abstellt:
Bereits aus Art. 16c Abs. 2 SVG ergibt sich, dass der Führerausweis nach einer
schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften entzogen wird.
Die Anlasstat für die Anordnung der zweijährigen Sperrfrist ist somit der
Vorfall vom 7. November 2013, weshalb es gerechtfertigt ist, auf diesen
Zeitpunkt abzustellen. Dieser fällt in die mit dem definitiven Sicherungsentzug
verfügte 12-monatige Sperrfrist mit Wirkung ab dem 12. Januar 2013. Die
Vorinstanz hat dabei diese (bestehende) Sperrfrist durch die neue ersetzt und
Art. 16c Abs. 3 SVG analog angewendet, welcher eine Addition ausschliesst (so
auch CÉDRIC MIZEL, Droit et pratique illustrée du retrait du permis de
conduire, 2015, S. 609). Dies wirkt sich zugunsten des Beschwerdeführers aus
und ist deshalb vorliegend nicht zu überprüfen.

3.

 Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist
abzuweisen.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung. Da er seine finanzielle Bedürftigkeit ausreichend glaubhaft
macht, die Beschwerde nicht zum Vornherein aussichtslos erschien und er auf die
Vertretung durch einen Anwalt angewiesen war, ist dem Gesuch stattzugeben (Art.
64 BGG). Es werden deshalb keine Kosten erhoben und dem Vertreter des
Beschwerdeführers wird eine Entschädigung ausgerichtet.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Fürsprecher Harold Külling, wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'000.-- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Departement Volkswirtschaft und
Inneres, dem Strassenverkehrsamt, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1.
Kammer, und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. April 2015

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Die Gerichtsschreiberin: Pedretti

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