Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.292/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1C_292/2015

Urteil vom 20. Oktober 2015

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Josef Flury,

gegen

Strassenverkehrsamt des Kantons Luzern,
Abteilung Massnahmen, Arsenalstrasse 45, Postfach 3970, 6002 Luzern.

Gegenstand
Vorsorglicher Führerausweisentzug / Anordnung einer Fahreignungsabklärung,

Beschwerde gegen das Urteil vom 27. April 2015 des Kantonsgerichts Luzern, 4.
Abteilung.

Sachverhalt:

A. 
A.________ verursachte am 16. Januar 2015, um ca. 16 Uhr, mit seinem
Personenwagen in Luzern einen Selbstunfall. Er geriet vor dem Kreisel
Kreuzstutz auf die Gegenfahrbahn, überquerte sie, die angrenzende
Bushaltestelle sowie das Trottoir und kollidierte anschliessend ungebremst mit
einer Geschwindigkeit von ca. 20 km/h mit der Betontreppe der
Fussgängerüberführung. Dabei erlitt er Prellungen an der Brust und eine
Gehirnerschütterung. A.________ gab zu Protokoll, sich an das Unfallgeschehen
nicht erinnern zu können. Die Tests auf Drogen- und Alkoholkonsum verliefen
negativ. A.________ wurde der Führerausweis an Ort und Stelle abgenommen.
Am 24. Februar 2015 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Luzern
A.________ den Führerausweis vorsorglich und ordnete an, dass er sich einer
verkehrsmedizinischen Untersuchung beim Institut für Rechtsmedizin der
Universität Zürich (IRMZ) zur Abklärung seiner Fahreignung zu unterziehen habe.
Einer allfälligen Verwaltungsgerichtsbeschwerde entzog es die aufschiebende
Wirkung.
Am 27. April 2015 wies das Kantonsgericht des Kantons Luzern die von A.________
gegen diese Verfügung erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab. Es wies das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ab und auferlegte ihm
die Gerichtskosten.

B. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 1. Juni 2015
beantragt A.________, dieses Urteil aufzuheben, ihm den Führerausweis für vier
Monate zu entziehen und das Strassenverkehrsamt anzuweisen, ihm diesen sofort
wieder auszuhändigen. Eventuell sei das Urteil aufzuheben, die Sache ans
Kantonsgericht zurückzuweisen und dieses anzuweisen, die aufschiebende Wirkung
zu gewähren. Es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor
der Vorinstanz zu gewähren. Ausserdem ersucht A.________ um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung für das Verfahren vor Bundesgericht.

C. 
Das Kantonsgericht beantragt in seiner Vernehmlassung, die Beschwerde
abzuweisen. Denselben Antrag stellen das Strassenverkehrsamt und das Bundesamt
für Strassen (ASTRA).
A.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1. 
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer
Angelegenheit des öffentlichen Rechts. Dagegen steht die Beschwerde nach Art.
82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Die
kantonalen Instanzen haben eine verkehrsmedizinische Begutachtung des
Beschwerdeführers angeordnet. Der angefochtene Entscheid schliesst das
Verfahren nicht ab; er stellt daher einen Zwischenentscheid dar, der nach der
Rechtsprechung anfechtbar ist, da er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil
im Sinn von Art. 93 Abs. 1 lit a BGG bewirkt. Beim vorsorglichen
Führerausweisentzug handelt es sich um eine vorsorgliche Massnahme nach Art. 98
BGG (Urteile 1C_328/2013 vom 18. September 2013 E. 1.2; 1C_233/ 2007 vom 14.
Februar 2008 E. 1.2; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer kann somit nur die
Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügen (Urteil 1C_264/2014 vom 15. Februar
2015 E. 2). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen
Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.

2.1. Führerausweise werden entzogen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen zur
Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG), u.a. wenn die
körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit einer Person nicht mehr ausreicht,
um ein Motorfahrzeug sicher zu führen (Art. 16d Abs. 1 lit. a SVG). Wecken
konkrete Anhaltspunkte ernsthafte Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen,
ist eine verkehrsmedizinische Abklärung anzuordnen (Art. 15d Abs. 1 SVG, Art.
28a Abs. 1 VZV). Diesfalls ist der Führerausweis nach Art. 30 VZV im Prinzip
vorsorglich zu entziehen (BGE 125 II 396 E. 3 S. 401; Entscheide des
Bundesgerichts 1C_356/2011 vom 17. Januar 2012 E. 2.2; 1C_420/2007 vom 18. März
2008 E. 3.2 und 6A.17/2006 vom 12. April 2006 E. 3.2; vgl. auch 1C_256/2011 vom
22. September 2011 E. 2.5). Diesfalls steht die Fahreignung des Betroffenen
ernsthaft in Frage, weshalb es unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit
grundsätzlich nicht zu verantworten ist, ihm den Führerausweis bis zum
Vorliegen des Untersuchungsergebnisses zu belassen.

2.2. Der Beschwerdeführer war bei seinem Selbstunfall offensichtlich während
zumindest einiger Sekunden nicht bei klarem Bewusstsein. Das ergibt sich
einerseits aus seiner in diesem Punkt schlüssigen Aussage, anderseits aus dem
Umstand, dass er nach seiner Irrfahrt über die Gegenfahrbahn und das
gegenüberliegende Trottoir ungebremst in die Fussgängerüberführung hineinfuhr,
was bedeutet, dass er die gefährliche Situation entweder gar nicht realisierte
oder ausserstande war, sachgerecht darauf zu reagieren.
Eine plötzlich auftretende, zeitweilige Bewusstseinstrübung kann durch
Krankheit, z.B. Diabetes, Epilepsie oder Narkolepsie (Rolf Seeger in: Handbuch
der verkehrsmedizinischen Begutachtung, Arbeitsgruppe Verkehrsmedizin der
Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin (Hrsg.), Munira Haag/Volker
Dittmann (redaktionelle Bearbeitung), 2005, S. 68, 75 f.) hervorgerufen werden
oder durch eine starke Übermüdung ("Sekundenschlaf"). Der Beschwerdeführer hat
bei seiner ersten polizeilichen Befragung eine Übermüdung ausgeschlossen - er
habe am Vorabend von ca. 23 Uhr bis 05.10 Uhr geschlafen, sich den ganzen Tag
gut gefühlt und auch während der Fahrt "keine aussergewöhnlichen Sachen" an
sich festgestellt - und geltend gemacht, er sei plötzlich geistig abwesend
gewesen, was etwas mit seiner Gesundheit zu tun haben müsse, wobei er nicht
wisse, was. Ein paar Tage später erklärte er gegenüber der Polizei den Unfall
mit einem durch Übermüdung verursachten Sekundenschlaf.
Welche Version zutrifft, steht nicht fest. Beide könnten sowohl zutreffen als
auch Schutzbehauptungen darstellen, die erste mit dem Zweck, sich der
strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen, die zweite, um einen drohenden
Sicherungsentzug abzuwenden. Es muss damit jedenfalls ernsthaft in Betracht
gezogen werden, dass die plötzliche Bewusstseinstrübung, die zum Unfall führte,
krankheitsbedingt war und sich dementsprechend wiederholen könnte. Damit
bestehen ernsthafte Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers. Das
Kantonsgericht hat folglich kein Bundesrecht verletzt, indem es die vom
Strassenverkehrsamt angeordnete Fahreignungsabklärung schützte. Die Rügen des
Beschwerdeführers erschöpfen sich zudem weitgehend in unzulässiger
appellatorischer Kritik, eigentliche Verfassungsrügen fehlen. Das betrifft
neben der Kritik in der Sache insbesondere auch die Rüge, das Kantonsgericht
habe ihm zu Unrecht die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
verweigert.

2.3. Aus dem Strafbefehl vom 1. April 2015, mit dem er "wegen Führens eines
Motorfahrzeugs in übermüdetem Zustand mit Kollisionsfolge" zu einer Busse von
Fr. 1'500.-- verurteilt wurde, kann der Beschwerdeführer nichts zu seinen
Gunsten ableiten. Dies schon deswegen nicht, weil er ihn im Verfahren vor dem
Kantonsgericht nicht einreichte, womit er im bundesgerichtlichen Verfahren ein
unzulässiges Novum darstellt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Zudem war der Strafbefehl am
27. April 2015, an dem das Kantonsgericht sein Urteil fällte, noch gar nicht
rechtskräftig, da der Beschwerdeführer seine Einsprache dagegen erst am 22. Mai
2015 zurückzog. Er wäre daher für den Entscheid des Kantonsgerichts ohnehin
nicht erheblich gewesen.

3. 
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Damit wird
der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat zwar ein
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches
indessen abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und
2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt des Kantons
Luzern, dem Kantonsgericht Luzern, 4. Abteilung, und dem Bundesamt für Strassen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. Oktober 2015

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi

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