Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.107/2015
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1C_107/2015

Urteil vom 22. Mai 2015

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Karlen, Chaix,
Gerichtsschreiber Misic.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,

gegen

1. B.________,
2. C.________,
3. D.________,
4. E.________,
alle p.A. Kantonspolizei St. Gallen, Kommando, Klosterhof 12, 9001 St. Gallen,
Beschwerdegegner,

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Altstätten,
Luchsstrasse 11, 9450 Altstätten.

Gegenstand
Ermächtigung zur Eröffnung eines Strafverfahrens,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 27. Januar 2015 der Anklagekammer des
Kantons St. Gallen.

Sachverhalt:

A. 
Im November 2014 reichte A.________ bei der Anklagekammer des Kantons St.
Gallen drei Anzeigen ("Dienstaufsichtsbeschwerde, Strafanzeige und -antrag")
gegen vier Beamte der Kantonspolizei St. Gallen ein. Er beschwerte sich über
eine von Wm B.________ und Gfr C.________ angeblich schikanös durchgeführte
verkehrs- und kriminalpolizeiliche Kontrolle in Buchs/SG (Anzeige vom 6.
November 2014). Bei einem erneuten Zusammentreffen in Sargans hätten ihn die
beiden Polizisten beschimpft und bedroht (Anzeige vom 16. November 2014).
Einige Tage später, anlässlich einer weiteren verkehrspolizeilichen Kontrolle,
sei A.________ von Wm D.________ und von Kpl E.________ "terrorisier[t]" worden
(Anzeige vom 28. November 2014).

 Am 27. Januar 2015 entschied die Anklagekammer, keine Ermächtigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen.

B. 
Mit Beschwerde vom 7. Februar 2015 beantragt A.________ insbesondere die
Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung.

C. 
Die Kantonspolizei, die Staatsanwaltschaft und die Anklagekammer stellen Antrag
auf Abweisung der Beschwerde und verzichten auf eine Stellungnahme. A.________
hat sich am 31. März 2015 vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.

1.1. Streitgegenstand bildet einzig die Frage, ob die Vorinstanz die
Ermächtigung zur Strafverfolgung zu Recht verweigert hat. Nicht einzutreten ist
daher auf den Antrag des Beschwerdeführers, es sei eine Strafuntersuchung gegen
den Präsidenten der Anklagekammer sowie gegen die Polizeibeamten anzuordnen
(vgl. dazu E. 2.1). Seine Forderung nach Abschaffung des
Ermächtigungsverfahrens ist an den Gesetzgeber zu richten. Auch darauf ist
nicht einzutreten.

1.2. Gegen den angefochtenen Entscheid über die Verweigerung der Ermächtigung
zur Strafuntersuchung steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (BGE 137 IV 269 E. 1.3.1 S.272). Die
Beschwerdegegner gehören nicht den obersten kantonalen Vollziehungs- und
Gerichtsbehörden an, weshalb der Ausschlussgrund von Art. 83 lit. e BGG nicht
zur Anwendung gelangt (vgl. BGE 137 IV 269 E. 1.3.2 S. 272 f.).

1.3. Gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG ist in der Begründung in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt. Der Beschwerdeführer
muss sich wenigstens kurz mit den Erwägungen des angefochtenen Entscheids
auseinandersetzen. Rein appellatorische Kritik ohne Bezug zum angefochtenen
Entscheid genügt nicht (vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4 S. 254 f.).

 Die Beschwerdeschrift erschöpft sich in weiten Teilen in unsubstanziierten
Behauptungen und in appellatorischer Kritik, weshalb im Folgenden nur in
beschränktem Umfang darauf einzugehen ist. Dies gilt insbesondere in Bezug auf
den allgemein formulierten Vorwurf, die Vorinstanz betreibe Rechtsbeugung oder
die Beamten der Kantonspolizei würden ihre Macht missbrauchen.

1.4. Bezüglich der Verletzung von verfassungsmässigen Rechten gilt eine
qualifizierte Rügepflicht. Das Bundesgericht tritt auf solche Rügen nur ein,
wenn sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden sind (Art.
42 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG).

 Der Beschwerdeführer hat die sinngemäss gerügte Verletzung des rechtlichen
Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) nicht in rechtsgenüglicher Weise begründet. Aus der
Beschwerdeschrift geht nicht hervor, welche Tatsachen die Anklagekammer
willentlich unberücksichtigt gelassen haben soll und welche Beweismittel nicht
gesichert wurden. Gleiches gilt in Bezug auf den Vorwurf, die Vorinstanz habe
ihre Ermittlungspflichten nicht erfüllt (Art. 3 i.V.m. Art. 13 EMRK) und durch
ihr Vorgehen sogar Beweise vereitelt. Auf diese Rügen ist nicht einzutreten.

1.5. Nach Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO können die Kantone vorsehen, dass die
Strafverfolgung der Mitglieder ihrer Vollziehungs- und Gerichtsbehörden wegen
im Amt begangener Verbrechen oder Vergehen von der Ermächtigung einer nicht
richterlichen Behörde abhängt. Diese Bestimmung bietet den Kantonen die
Möglichkeit, die Strafverfolgung sämtlicher Mitglieder ihrer Vollziehungs- und
Gerichtsbehörden von einer Ermächtigung abhängig zu machen. Als
Vollziehungsbehörden gelten alle Organisationen, die öffentliche Aufgaben
wahrnehmen (Urteil 1C_775/2013 vom 15. Januar 2014 E. 3.1).

 Der Kanton St. Gallen hat von seiner gesetzlichen Kompetenz Gebrauch gemacht
und ein Ermächtigungsverfahren eingeführt (Art. 17 Abs. 2 lit. b des
Einführungsgesetzes des Kantons St. Gallen vom 3. August 2010 zur
Schweizerischen Straf- und Jugendstrafprozessordnung [EG-StPO]; sGS 962.1). Die
hier angezeigten Beschwerdegegner fallen in den Anwendungsbereich des
Ermächtigungserfordernisses.

1.6. Mit dem angefochtenen Entscheid hat die Anklagekammer die Ermächtigung zur
Strafverfolgung gegen die vier angezeigten Personen verweigert. Damit fehlt es
an einer Prozessvoraussetzung für die Durchführung des Strafverfahrens, womit
das Verfahren abgeschlossen ist. Angefochten ist ein Endentscheid (Art. 90 BGG)
einer letzten kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG), gegen den die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig ist. Der
Beschwerdeführer, der am kantonalen Verfahren beteiligt war und dessen
Strafanzeige nicht mehr weiter behandelt werden kann, ist zu deren Erhebung
berechtigt (Art. 89 Abs. 1 BGG).

1.7. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.

2.

2.1. Im Ermächtigungsverfahren dürfen - ausser bei obersten Vollziehungs- und
Gerichtsbehörden - nur strafrechtliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden (
BGE 137 IV 269 E. 2.4 S. 277 f.). Das Ermächtigungserfordernis dient namentlich
dem Zweck, Behördenmitglieder und Beamte vor mutwilliger Strafverfolgung zu
schützen und damit das reibungslose Funktionieren staatlicher Organe
sicherzustellen. Ein Strafverfahren soll daher erst durchgeführt werden können,
wenn die Anklagekammer vorher ihre Zustimmung dazu erteilt hat. Gestützt darauf
kann die Staatsanwaltschaft dann die Untersuchung eröffnen. Der förmliche
Entscheid über die Eröffnung oder die Nichtanhandnahme obliegt Kraft
ausdrücklicher bundesrechtlicher Regelung (Art. 309 und 310 StPO) in jedem Fall
der Staatsanwaltschaft (BGE 137 IV 269 E. 2.3 S. 277).

2.2. Nach der Rechtsprechung ist für die Erteilung der Ermächtigung ein
Mindestmass an Hinweisen auf strafrechtlich relevantes Verhalten zu verlangen
(Urteil 1C_438/2014 vom 19. März 2015 E. 2.2 mit Hinweis). Dabei muss eine
Kompetenzüberschreitung oder eine gemessen an den Amtspflichten missbräuchliche
Vorgehensweise oder ein sonstiges Verhalten, das strafrechtliche Konsequenzen
zu zeitigen vermag, in minimaler Weise glaubhaft erscheinen und müssen
genügende Anhaltspunkte für eine strafbare Handlung vorliegen (vgl. statt
vieler Urteil 1C_633/2013 vom 23. April 2014 E. 2.3 mit Hinweis). Der Entscheid
über die Erteilung der Ermächtigung zur Strafuntersuchung ist demjenigen über
die Anhandnahme eines Strafverfahrens bzw. über die Einstellung eines
eröffneten Strafverfahrens vorangestellt. Es ist daher zwangsläufig, dass die
Ermächtigung bereits bei einer geringeren Wahrscheinlichkeit einer
strafrechtlichen Verantwortlichkeit erteilt werden muss, als sie für die
Einstellung eines schon eröffneten Strafverfahrens erforderlich ist. Während
für die Anklageerhebung die Wahrscheinlichkeiten einer Verurteilung und eines
Freispruchs zumindest vergleichbar zu sein haben, genügt bereits eine geringere
Wahrscheinlichkeit für strafbares Verhalten, um die Ermächtigungserteilung
auszulösen (Urteil 1C_438/2014 vom 19. März 2015 E. 2.2 mit Hinweis).

3.

3.1. Der Beschwerdeführer wirft den Beschwerdegegnern 1 und 2 in nicht
abschliessender Weise ("und aus allen weiteren rechtlichen Gründen")
Amtsmissbrauch, Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung, Unterschlagung,
(rassistisch motivierte) Beleidigungen, Bedrohung und den Verstoss gegen das
Brief- und Anwaltsgeheimnis vor.

3.2. Den Akten ist zu entnehmen, dass die beiden Polizisten den
Beschwerdeführer am 3. November 2014 zur Mittagszeit in Buchs/SG für eine
verkehrs- und kriminalpolizeiliche Kontrolle angehalten haben. Dabei sei der
Beschwerdeführer gegenüber den Beamten verbal und mit Gesten ausfällig geworden
(er wurde dafür bei der Staatsanwaltschaft verzeigt). In Bezug auf die
Behauptung des Beschwerdeführers, er sei von einem der Polizisten beschimpft
worden, liegt eine "Aussage gegen Aussage"-Situation vor. Es ist nicht
ersichtlich, wie dieser Vorwurf anhand weiterer Abklärungen belegt werden
könnte. Der Beschwerdeführer verweist zwar in seiner Beschwerdeschrift und in
der Vernehmlassung vom 31. März 2015 auf offenbar anwesende Buschauffeure; er
benennt aber keine konkreten Zeugen. Dass die Beamten dem Beschwerdeführer ein
Headset und Bargeld entwendet haben sollen, entbehrt jeder Grundlage. Der
Vorwurf, er sei von einem der Beamten auf die Brust geschlagen und weggestossen
worden, wird lediglich pauschal erhoben und ist nicht glaubhaft. Gleiches gilt
für den Vorwurf der Sachbeschädigung der Hutablage und an den Kleidern.

 In Bezug auf den Vorfall vom 7. November 2014 in Sargans soll der
Beschwerdeführer die beiden Beamten, die in der Nähe des Bahnhofs allfällige
Betäubungsmittelkonsumenten kontrollierten, mit Gesten und verbalen
Unflätigkeiten beleidigt haben (weshalb er bei der Staatsanwaltschaft verzeigt
wurde). Es fehlen Anhaltspunkte, dass die Polizisten den Beschwerdeführer als
"Drecksäckel verdammter" oder als "Verbrecher" bezeichnet haben sollen. Weitere
beweiskräftige und einen Tatverdacht begründende Abklärungsmöglichkeiten sind
hier nicht ersichtlich.

 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ergeben sich keine (auch bloss
minimale) Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten seitens der
Beschwerdegegner 1 und 2.

3.3. Der Beschwerdeführer wirft den Beschwerdegegner 3 und 4 Amtsmissbrauch und
falsche Anschuldigungen vor. Dabei verkennt er, dass die Strafbehörden
verpflichtet sind, ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen auf
Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden (Art. 7 Abs. 1 StPO). Bei
dem von ihm beanstandeten Vorfall vom 26. November 2014 handelte es sich nicht
um eine Schikane, sondern um eine routinemässige Polizeikontrolle, deren Grund
im Verhalten des Beschwerdeführers zu erblicken ist. Gemäss den Stellungnahmen
der Beschwerdegegner 3 und 4 vom 5. Dezember 2014 habe der Beschwerdeführer,
ohne einen Sicherheitsgurt zu tragen, seinen Personenwagen in zügiger und
auffälliger Fahrweise gelenkt. Insbesondere habe er sich in einem Kreisel an im
Stau stehenden Autos vorbei gedrängelt. Spätestens nachdem der Beschwerdeführer
auf die eingeschaltete Leuchtmatrix des streckenweise unmittelbar hinter ihm
fahrenden Polizeiautos ("Stop Polizei") nicht reagierte, mussten die Beamten
die Verfolgung aufnehmen. Dabei ist nicht zu beanstanden, dass sie ihm zu Fuss
in ein Einkaufszentrum folgten, wo sie ihn schliesslich anhalten konnten und
ihm Vorhalt machten. Inwiefern hier den Beschwerdegegnern 3 und 4 ein
strafbares Verhalten, namentlich Amtsmissbrauch, vorgeworfen werden kann, wird
vom Beschwerdeführer nicht dargetan und ist auch nicht ersichtlich.

4. 
Im Ergebnis liegen keine Anhaltspunkte für eine strafbare Handlung gegen den
Beschwerdeführer vor. Die Verweigerung der Ermächtigung zur Strafverfolgung
hält vor Bundesrecht stand.

5. 
Damit ist d ie Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art.
66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung kann ihm
wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde nicht gewährt werden (Art. 64 Abs. 1
und Abs. 2 BGG), doch rechtfertigt es sich umständehalber, auf Verfahrenskosten
zu verzichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
Untersuchungsamt Altstätten, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Mai 2015

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Misic

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben