Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 922/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_922/2014

Urteil vom 29. Januar 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Debitorenmanagement, Beschwerden, Postfach, 8081
Zürich Helsana,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung
(Prozessvoraussetzung; kantonales Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 20.
November 2014.

Sachverhalt:
Am 14. Oktober 2014 (Poststempel) erhob A.________ Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid der Helsana Versicherungen AG vom 10. September 2014
betreffend eine vom Krankenversicherer in Betreibung gesetzte Prämienforderung.
Mit Entscheid vom 20. November 2014 trat das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, aus formellen Gründen (verpasste
Rechtsmittelfrist) nicht auf die Beschwerde ein.
Dagegen hat A.________ beim Bundesgericht "Einsprache" erhoben.

Erwägungen:

1. 
Prozessthema ist, ob die Vorinstanz zu Recht nicht auf die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin vom 10. September 2014 eingetreten
ist (BGE 117 V 121 E. 1 S. 122; 116 V 265 E. 2a S. 266). Soweit sich der
Beschwerdeführer darüber hinaus äussert, ist darauf nicht einzutreten.

2. 
Die Beschwerde ist innerhalb von 30 Tagen nach der Eröffnung des
Einspracheentscheides (oder der Verfügung, gegen welche eine Einsprache
ausgeschlossen ist) einzureichen (Art. 60 Abs. 1 ATSG).

Nach verbindlicher Feststellung der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG) ging der
Einspracheentscheid vom 10. September 2014 am folgenden Tag beim Gefängnis
B.________ ein, wo der Beschwerdeführer inhaftiert war; der Empfang wurde von
einem Gefängnismitarbeiter unterschriftlich quittiert. Die dagegen gerichtete
Beschwerde wurde am 14. Oktober 2014 bei der Post aufgegeben. In diesem
Zeitpunkt war die 30-tägige Frist nach Art. 60 Abs. 1 ATSG bereits abgelaufen.

3. 
Die Vorinstanz hat Verzögerungen bei der Weiterleitung der Briefsendung an den
Beschwerdeführer nicht ausgeschlossen, für den Beginn der Rechtsmittelfrist
jedoch nicht als relevant erachtet. Zur Begründung hat sie ausgeführt, in einem
Sonderstatusverhältnis sich befindende Häftlinge müssten mit allfälligen
Verzögerungen bei der Zustellung von Postsendungen rechnen; es sei von ihnen
(daher) zu erwarten, dass sie solche hinsichtlich der zur Anfechtung eines
Rechtsaktes noch zur Verfügung stehenden Frist berücksichtigten. Bei der
gebotenen Aufmerksamkeit hätte der Beschwerdeführer der Berechnung der
Rechtsmittelfrist mithin nicht einfach den Zeitpunkt des (persönlichen) Erhalts
des Einspracheentscheides, sondern denjenigen der Zustellung im Gefängnis zu
Grunde legen müssen. Es fehlten Hinweise darauf und er mache auch nicht
geltend, dass es ihm - zumal im Sonderstatusverhältnis - nicht möglich gewesen
sein sollte, innert der ausgehend von der Zustellung am 11. September 2014
laufenden Rechtsmittelfrist rechtzeitig Beschwerde zu erheben.

3.1. Ein Einspracheentscheid gilt als eröffnet im Sinne von Art. 60 Abs. 1
ATSG, wenn er in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, sodass dieser vom
Inhalt Kenntnis nehmen kann (Urteil 8C_804/ 2013 vom 19. September 2014 E.
2.3). Das ist namentlich der Fall, wenn die Sendung an eine von ihm zur
Entgegennahme bevollmächtigte Person übergeben worden ist (Urteil 2C_82/2011
vom 28. April 2011 E. 2.3). Der Gefängnismitarbeiter, der den eingeschriebenen
Brief mit dem Einspracheentscheid entgegennahm, war zwar dazu berechtigt, dies
jedoch nicht aufgrund einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den inhaftierten
Beschwerdeführer, sondern kraft Anstaltsordnung.

3.2. Es ist nicht einsehbar, dass die Zeitspanne bis zur internen Zustellung
dem Beschwerdeführer zugerechnet werden soll mit der Folge, dass die
Anfechtungsfrist gleichwohl am 11. September 2014 bei Eingang beim Gefängnis zu
laufen begann. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz geht unausgesprochen
davon aus, ein Gefängnisinsasse habe genügend (freie) Zeit, jedenfalls mehr als
eine andere nicht inhaftierte Person, um auch innert einer allenfalls kürzeren
Frist als 30 Tage Beschwerde zu erheben. Diese Betrachtungsweise verletzt nicht
nur das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot, indem sie letztlich
allein an den Sonderstatus als Gefangener anknüpft (Art. 8 Abs. 2 BV), sondern
ist auch gesetzwidrig. Sowenig die Beschwerdefrist nach Art. 60 Abs. 1 ATSG
erstreckt werden kann (Art. 40 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 60 Abs. 2 ATSG), sowenig
kann sie verkürzt werden.

3.3. Der Einspracheentscheid vom 10. September 2014 kann somit nicht ohne
weiteres am folgenden Tag als eröffnet im Sinne von Art. 60 Abs. 1 ATSG gelten.
Die Vorinstanz hat keine Feststellungen getroffen zum Zeitpunkt der
gefängnisinternen Zustellung des Einsprachenentscheids. Die Akten sind insofern
nicht spruchreif. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Entscheid sei ihm am
17. September 2014 ausgehändigt worden. Trifft dies zu, war die Frist nach Art.
60 Abs. 1 ATSG bei Beschwerdeerhebung am 14. Oktober 2014 noch nicht
abgelaufen. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie
entsprechende Abklärungen vornehme und danach neu entscheide.

4. 
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege ist
gegenstandslos, weil umständehalber keine Gerichtskosten erhoben werden (Art.
66 Abs. 1 zweiter Satz BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, vom 20. November 2014 wird aufgehoben. Die Sache wird zur neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Januar 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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