Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 892/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_892/2014

Urteil vom 6. März 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Uri,
Dätwylerstrasse 11, 6460 Altdorf,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (örtliche Zuständigkeit;
negativer Kompetenzkonflikt),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Obergerichts des Kantons Uri
vom 17. November 2014.

Sachverhalt:

A. 
Im November 2012 meldete sich A.________ bei der IV-Stelle des Kantons Tessin
zum Leistungsbezug an. Sie hatte damals Wohnsitz in X.________ (TI). Mit
Wirkung auf Juni 2013 verlegte A.________ ihren Wohnsitz nach Y.________ (UR).
Die IV-Stelle des Kantons Tessin prüfte die gesundheitlichen und erwerblichen
Verhältnisse. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens wurde A.________ eine
befristete Dreiviertelsrente zugesprochen (Verfügung vom 14. Mai 2014).

B. 
Am 10. Juni 2014 gelangte A.________ beschwerdeweise an das
Versicherungsgericht des Kantons Tessin. Mit Entscheid vom 1. Juli 2014 stellte
dieses - in der Annahme, die IV-Stelle Uri habe die Verfügung vom 14. Mai 2014
erlassen - seine örtliche Unzuständigkeit fest und überwies die Akten dem
Obergericht des Kantons Uri zum Entscheid.
Das Obergericht des Kantons Uri eröffnete ein auf die Zuständigkeitsfrage
beschränktes Vernehmlassungsverfahren. Es hiess die Beschwerde der A.________,
soweit es darauf eintrat, in dem Sinne teilweise gut, als es den "angefochtenen
Entscheid" aufhob und die Sache "zur neuen Ansetzung der Rechtsmittelfrist" an
die IV-Stelle des Kantons Tessin zurückwies. Die Gerichtskosten von Fr. 555.-
überband es der IV-Stelle Uri (Entscheid vom 17. November 2014).

C. 
Die IV-Stelle Uri erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei
festzustellen, dass das Obergericht des Kantons Uri mangels
Prozessvoraussetzung nicht auf die Beschwerde der A.________ vom 10. Juni 2014
hätte eintreten dürfen.
Die Versicherte enthält sich eines formellen Antrages. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Nach Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten legitimiert, wer am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat
(lit. a), durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist (lit. b) und
ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen
Entscheids hat (lit. c).
Diese Voraussetzungen treffen auf die IV-Stelle Uri zu, hat das Obergericht des
Kantons Uri sie doch als Beschwerdegegnerin ins Verfahren einbezogen und ihr
Gerichtskosten auferlegt (vgl. aber E. 5).

2. 
Gemäss Art. 69 Abs. 1 lit. a IVG sind in Abweichung von Art. 52 und 58 ATSG die
Verfügungen der kantonalen IV-Stellen direkt vor dem Versicherungsgericht am
Ort der IV-Stelle anfechtbar. Demnach sind Beschwerden gegen Entscheide der
kantonalen IV-Stellen - unabhängig vom Wohnsitz der versicherten Person - durch
das Versicherungsgericht des entsprechenden Kantons zu behandeln (Meyer/
Reichmuth, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014,
Rz. 2 zu Art. 69 IVG).

3.

3.1. Ausgangspunkt der vorliegenden Streitigkeit bildet die Verfügung vom 14.
Mai 2014.
Der Verfügungsteil 2 wurde von der IV-Stelle des Kantons Tessin unterzeichnet
und nennt in der Rechtsmittelbelehrung als zuständige Beschwerdeinstanz das
Versicherungsgericht des Kantons Tessin. Auf dem Verfügungsteil 1 gab indessen
die für die Rentenberechnung zuständige Ausgleichskasse GastroSocial als
Absenderin die IV-Stelle Uri an. Die Kasse korrigierte dies am 20. August 2014
mit dem Erlass einer neuen, ansonsten gleichlautenden Verfügung, welche sie mit
folgendem Hinweis ergänzte: "La decisione emessa in data 14 maggio 2014 è stata
riconsiderata in quanto errata (Ufficio AI competente canton Ticino e non
quello del canton Uri)." Dabei handelt es sich um die Beseitigung eines
offensichtlichen Versehens.

3.2. Gemäss Art. 55 Abs. 1 Satz 1 IVG ist in der Regel die IV-Stelle zuständig,
in deren Kantonsgebiet der Versicherte im Zeitpunkt der Anmeldung seinen
Wohnsitz hat. Gemäss Art. 40 Abs. 3 IVV [SR 831.201] bleibt die einmal
begründete Zuständigkeit der IV-Stelle unter Vorbehalt der Absätze 2bis -2
quater im Verlaufe des Verfahrens erhalten (vgl. auch SVR 2005 IV Nr. 39 S.
145, I 232/03 E. 3; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 8/02 vom 16. Juli
2002).
Da die Versicherte bei der Anmeldung ihren Wohnsitz in X.________ (TI) hatte,
ist die IV-Stelle des Kantons Tessin zuständig. Die Verfügung trägt denn auch
in ihrem zweiten Teil die Unterschriften der IV-Stelle des Kantons Tessin. Dass
die Verfügung in italienischer Sprache verfasst ist, spricht ebenfalls dafür,
dass sie von der IV-Stelle des Kantons Tessin stammt (vgl. dazu BGE 108 V 208).
Die IV-Stelle Uri figuriert, wie sie in ihrer Beschwerde nachvollziehbar
darlegt, durch ein Versehen der Ausgleichskasse GastroSocial als Absenderin auf
dem ersten Verfügungsteil. Die Kasse hat den Fehler denn auch im Rahmen der am
20. August 2014 erlassenen Verfügung korrigiert (nach dem
Nichteintretensentscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Tessin vom 1.
Juli 2014 und vor dem Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 17.
November 2014).

3.3. Das Versicherungsgericht des Kantons Tessin erkannte den Fehler auf dem
ersten Verfügungsteil (IV-Stelle Uri statt IV-Stelle des Kantons Tessin als
Verfügungsurheberin) nicht. In seinem Entscheid vom 1. Juli 2014 begründete es
seine örtliche Unzuständigkeit deshalb irrtümlicherweise damit, dass die
IV-Stelle Uri die Verfügung vom 14. Mai 2014 erlassen habe und deshalb gestützt
auf Art. 69 Abs. 1 lit. a IVG das Obergericht des Kantons Uri zum Entscheid
zuständig sei. Es trat auf die Beschwerde nicht ein und überwies die Akten dem
Obergericht des Kantons Uri zum Entscheid.

3.4. Auch das Obergericht des Kantons Uri ging unrichtigerweise davon aus, dass
die IV-Stelle Uri die Verfügung erlassen habe. Es erwog, diese wäre dafür zwar
nicht zuständig gewesen, ihre Verfügung sei aber bloss anfechtbar. Da die
IV-Stelle des Kantons Tessin die Abklärungen vorgenommen habe, sei das
Versicherungsgericht des Kantons Tessin gestützt auf Art. 69 Abs. 1 lit. a IVG
örtlich zuständige Rechtsmittelinstanz. Das Obergericht des Kantons Uri hiess
die Beschwerde teilweise gut, soweit darauf einzutreten sei, und hob den
"angefochtenen Entscheid" auf. Mit der Begründung, der Versicherten dürfe nicht
zum Nachteil gereichen, dass die IV-Stelle des Kantons Tessin, ohne die
funktionelle Zuständigkeit und die Verfahrensherrschaft inne zu haben
(Devolutiveffekt), neu verfügt habe, wies es die Sache zur neuen Ansetzung
einer Rechtsmittelfrist an die IV-Stelle des Kantons Tessin zurück.

4.

4.1. Stammt die Verfügung vom 14. Mai 2014 nach dem Gesagten (vgl. E. 3.2) von
der IV-Stelle des Kantons Tessin, hat sich das kantonale Rechtsmittelverfahren
gegen die IV-Stelle des Kantons Tessin als Urheberin der Verfügung zu richten.
Der IV-Stelle Uri kann von vornherein keine Parteistellung zukommen; der
vorinstanzliche Entscheid ist bereits aus diesem Grunde aufzuheben.
Eine Aufhebung ist aber auch angezeigt, weil gestützt auf Art. 69 Abs. 1 lit. a
IVG - Zuständigkeit des Versicherungsgerichts am Ort der kantonalen IV-Stelle
(vgl. dazu E. 2) - für die Behandlung der gegen die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Tessin vom 14. Mai 2014 eingereichten Beschwerde das
Versicherungsgericht des Kantons Tessin und nicht das Obergericht des Kantons
Uri örtlich zuständig ist. Dies bedeutet, dass das Obergericht des Kantons Uri
auf die (ihm vom Versicherungsgericht des Kantons Tessin überwiesene)
Beschwerde nicht hätte eintreten dürfen.

4.2. Die Sache ist an das zuständige Versicherungsgericht des Kantons Tessin zu
überweisen, damit es materiell entscheidet (und in diesem Rahmen die unrichtige
Parteibezeichnung korrigiert). Der von ihm gefällte Nichteintretensentscheid
vom 1. Juli 2014 konnte vor der letztinstanzlichen Klärung des Rechtsweges
nicht rechtskräftig werden. Dass er unangefochten blieb, ändert nichts, weil
andernfalls keine kantonale Rechtsmittelinstanz zur Verfügung stünde (vgl. BGE
135 V 153 E. 1.2 S. 155 f.; Urteil 9C_849/2013 vom 16. Mai 2014 E. 5 mit
Hinweisen).

5. 
Das Verfahren ist grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Aufgrund der
besonderen Umstände (negativer Kompetenzkonflikt zweier kantonaler
Versicherungsgerichte) ist indessen ausnahmsweise auf eine Kostenerhebung zu
verzichten (Art. 66 Abs. 1 BGG; vgl. in BGE 135 V 153 nicht veröffentliche E.
5.1 des Urteils 8C_769/2008 vom 18. März 2009; Urteil 9C_849/2013 vom 16. Mai
2014 E. 6).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 17. November 2014 aufgehoben.

2. 
Die Sache wird dem Versicherungsgericht des Kantons Tessin überwiesen, damit es
über die Beschwerde gegen die Verfügung vom 14. Mai 2014 materiell entscheide.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri,
Verwaltungsrechtliche Abteilung, dem Versicherungsgericht des Kantons Tessin
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. März 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann

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