Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 880/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_880/2014 {T 0/2}     

Urteil vom 6. November 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 29. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1957 geborene A.________ meldete sich im Oktober 2000 unter Hinweis auf
eine Diskushernie, Osteochondrose und ein generalisiertes Weichteilrheuma bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Aargau prüfte die medizinischen und erwerblichen Verhältnisse und sprach der
Versicherten rückwirkend ab 1. November 2000 eine ganze Invalidenrente zu
(Verfügung vom 12. April 2001).
Nach Bestätigung des Anspruchs in den Jahren 2002 und 2007 leitete die
IV-Stelle im Juni 2012 ein weiteres Revisionsverfahren ein. Mit Vorbescheid vom
13. September 2012 stellte sie A.________ gestützt auf die am 1. Januar 2012 in
Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des
Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (6. IV-Revision, erstes
Massnahmenpaket) die Einstellung der Rente in Aussicht. Auf die von der
Versicherten dagegen erhobenen Einwände hin nahm die IV-Stelle Rücksprache mit
ihrem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; Stellungnahme vom 12. November 2012).
Des Weitern liess sie A.________ im Mai 2013 durch die Abklärungsstelle
B.________ polydisziplinär begutachten. Zu dem am 20. August 2013 erstatteten
Gutachten nahm der RAD am 29. August 2013 Stellung. In einem weiteren
Vorbescheid vom 1. November 2013 stellte die Verwaltung der Versicherten die
Einstellung der Invalidenrente und Hilfe bei der beruflichen
Wiedereingliederung in Aussicht. A.________ erhob gegen die Renteneinstellung
erneut Einwände. Mitte Dezember 2013 erklärte sie sich bereit, an beruflichen
Wiedereingliederungsmassnahmen teilzunehmen. Am 25. Februar 2014 verfügte die
IV-Stelle die Einstellung der Invalidenrente per 1. April 2014 im Sinne des
Vorbescheids und am 13. März 2014 die Weiterausrichtung der ganzen Rente ab 1.
April 2014 bis zum Abschluss der beruflichen Wiedereingliederungsmassnahmen,
längstens jedoch bis zum 31. März 2016.

B. 
Beschwerdeweise liess A.________ beantragen, die Verfügung vom 25. Februar 2014
sei aufzuheben und es sei ihr die bisherige ganze Invalidenrente über den 1.
April 2014 hinaus weiter auszurichten. Mit Entscheid vom 29. Oktober 2014 wies
das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und die Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. Die
Angelegenheit sei an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückzuweisen
zu neuem Entscheid nach Gewährung des rechtlichen Gehörs. Eventualiter sei ihr
die bisherige ganze Rente über den 1. April 2014 hinaus weiter auszurichten.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass
die Beschwerdeführerin zur Zeit der ersten Rentenzusprache sowohl an unklaren
als auch - in Form der Diskushernie, der Osteochondrose und der
Denervationszeichen - an erklärbaren Beschwerden litt, wobei unklar ist, welche
Beschwerden zu welchen Teilen ursprünglich zur Berentung führten. Im
letztinstanzlichen Verfahren ist unbestritten, dass bei dieser Sachlage eine
Überprüfung der Rente unter dem Titel der lit. a Abs. 1 der am 1. Januar 2012
in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG,
wie sie die IV-Stelle in ihrer Verfügung vom 25. Februar 2014 vorgenommen hat,
ausgeschlossen ist (BGE 140 V 197 E. 6.2.3 S. 200; SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137,
9C_121/2014 E. 2.4-2.7; Urteil 8C_34/2014 vom 8. Juli 2014 E. 4.2).

2.2. Im Rahmen seiner Prüfung anderer Rückkommensgründe gelangte das kantonale
Gericht zum Ergebnis, die ursprüngliche Rentenzusprache (Verfügung vom 12.
April 2001) sei offensichtlich unrichtig gewesen, weil sie sich nicht auf
hinreichend sorgfältige Abklärungen zu stützen vermöge. Die IV-Stelle habe
einseitig auf den Kurzbericht des Hausarztes Dr. med. C.________, Facharzt für
Allgemeine Medizin FMH, vom 22. Oktober 2000 abgestellt und trotz den
abweichenden Beurteilungen anderer Ärzte darauf verzichtet, weitere Abklärungen
(die auch ärztlicherseits für notwendig erachtet worden seien) vornehmen zu
lassen, insbesondere eine fachärztliche Einschätzung einzuholen. Die Verfügung
vom 12. April 2001 sei deshalb gestützt auf Art. 53 Abs. 2 ATSG in
Wiedererwägung zu ziehen und der Rentenanspruch damit neu zu prüfen.
Gestützt auf das beweiskräftige polydisziplinäre Gutachten der Abklärungsstelle
B.________ vom 20. August 2013 sei bei der Beschwerdeführerin eine
Arbeitsfähigkeit von 80 % in einer leidensangepassten Tätigkeit (mit Sicherheit
ab Gutachtenszeitpunkt) erstellt, wovon auch in der streitigen Verfügung vom
25. Februar 2014 ausgegangen werde. Die Invaliditätsgradermittlung der
IV-Stelle, welcher ein Valideneinkommen entsprechend dem zuletzt ohne
Behinderung erzielten Verdienst und ein sich auf Tabellenlöhne abstützendes
Invalideneinkommen zugrunde liege, scheine korrekt und werde auch von der
Versicherten nicht bemängelt. Auf eine erneute Ermittlung des
Invaliditätsgrades könne deshalb verzichtet werden. Der resultierende
Invaliditätsgrad von 34 % vermöge keinen Rentenanspruch zu begründen. Damit
bestätigte das kantonale Gericht die Aufhebung der Rente mit Wirkung auf 1.
April 2014 (Verfügung vom 25. Februar 2014) mit der substituierten Begründung
der Wiedererwägung.

2.3. Die Beschwerdeführerin rügt, mit diesem Vorgehen habe das kantonale
Gericht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Es habe die
rentenaufhebende Verfügung der IV-Stelle vom 25. Februar 2014 mit einer
substituierten Begründung geschützt, zu welcher sie sich nie habe äussern
können. Die Sache sei daher (entsprechend dem Hauptantrag) zur Gewährung des
rechtlichen Gehörs an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sollte das Bundesgericht
dieser Auffassung nicht folgen, sei jedenfalls Art. 53 Abs. 2 ATSG verletzt,
weil die Vorinstanz den Begriff der offensichtlichen Unrichtigkeit im Sinne
dieser Bestimmung verkannt habe. Diesfalls sei ihr (entsprechend dem gestellten
Eventualantrag) die bisherige Rente über den 1. April 2014 hinaus weiter
auszurichten.

3.

3.1. Soweit die Vorinstanz die von der IV-Stelle gestützt auf lit. a Abs. 1 der
Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG verfügte
Rentenaufhebung mit der substituierten Begründung der Wiedererwägung geschützt
hat, ist dieses Vorgehen grundsätzlich - gestützt auf den Grundsatz der
Rechtsanwendung von Amtes wegen - zulässig (SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/
2014 E. 3.2.2).

3.2. Zu Recht macht die Beschwerdeführerin indessen geltend, dass die
Vorinstanz, welche die Frage der Wiedererwägung erstmals thematisiert und
gleich selber beantwortet habe, ihr vorgängig das rechtliche Gehör hätte
gewähren müssen:

3.2.1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) besteht und ist
zu gewähren, wenn eine Behörde ihren Entscheid mit einer Rechtsnorm oder einem
Rechtsgrund zu begründen beabsichtigt, die im bisherigen Verfahren nicht
herangezogen wurden, auf die sich die beteiligten Parteien nicht berufen haben
und mit deren Erheblichkeit im konkreten Fall sie nicht rechnen konnten (BGE
128 V 272 E. 5b/bb S. 278). Dementsprechend hat auch das kantonale Gericht, das
eine gestützt auf die Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des
IVG verfügte Rentenaufhebung mit der substituierten Begründung der Revision
(Art. 17 ATSG) oder der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) zu schützen
beabsichtigt, den Parteien vorgängig das rechtliche Gehör zu gewähren (Urteil
9C_361/2015 vom 17. Juli 2015 E. 5.2; vgl. allgemein zum Anspruch auf
rechtliches Gehör bei Motivsubstitution: SVR 2010 IV Nr. 19 S. 58, 9C_272/2009
E. 4.1; Urteil 8C_1027/2009 vom 17. August 2010 E. 2.2). Dies rechtfertigt sich
deshalb, weil die Grundlagen, auf welche sich eine Revision im Sinne von Art.
17 ATSG (vgl. dazu Urteil 9C_361/2015 vom 17. Juli 2015 E. 5.2) oder eine
Wiedererwägung im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG stützt, nicht identisch sind
mit denjenigen für eine Überprüfung der Rente unter dem Gesichtspunkt von lit.
a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG.
Letztere Bestimmung erlaubt (im vorgegebenen Zeitrahmen) hinsichtlich der davon
erfassten Rentenzusprachen eine voraussetzungslose Überprüfung, so dass die
Erfordernisse der Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG - zweifellose
Unrichtigkeit der Verfügung und Erheblichkeit der Berichtigung - oder jene der
(hier nicht weiter interessierenden) Revision gemäss Art. 17 ATSG nicht
erfülllt sein müssen (vgl. dazu SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014 E. 1.2).

3.2.2. Im Verwaltungsverfahren (Verfügung vom 25. Februar 2014) stand lediglich
die Aufhebung der Rente gestützt auf lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der
Änderung vom 18. März 2011 des IVG zur Diskussion. Dementsprechend hatte die
Beschwerdeführerin keinen Anlass, sich in ihrer beim kantonalen Gericht
eingereichten Beschwerde zur Wiedererwägung der Rentenzusprache gemäss
Verfügung vom 12. April 2001 zu äussern. Unter diesen Umständen hätte die
Vorinstanz, bevor sie die Rentenaufhebung unter neuen,
wiedererwägungsrechtlichen Gesichtspunkten prüfte, den Parteien Gelegenheit zur
Stellungnahme geben müssen (E. 3.2.1). Soweit im Urteil 9C_121/2014 vom 3.
September 2014 E. 3.2.3 (SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137) anders entschieden wurde,
hatte dies seinen Grund darin, dass im damaligen kantonalen Entscheid lediglich
in einer Eventualbegründung wiedererwägungsrechtliche Überlegungen angeführt
waren. Da sich der hier zu beurteilende vorinstanzliche Entscheid indessen
ausschliesslich auf die substituierte Begründung der Wiedererwägung stützt,
ohne dass die Vorinstanz den Parteien dazu das rechtliche Gehör gewährt hätte,
rechtfertigt es sich, die Sache an sie zurückzuweisen, damit sie dies nachhole
und anschliessend über die Beschwerde neu entscheide.

3.2.3. Bei dieser Sachlage erübrigt es sich zum heutigen Zeitpunkt, den von der
Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihrem Eventualantrag auf
Weiterausrichtung der bisherigen Rente vorgebrachten Einwand zu prüfen, wonach
der angefochtene Entscheid auf einer unrichtigen Anwendung der Bestimmung des
Art. 53 Abs. 2 ATSG beruhe, insbesondere auf einem unzutreffenden Verständnis
des Begriffs der offensichtlichen Unrichtigkeit (vgl. dazu BGE 140 V 77 E. 3.1
S. 79 f.; 138 V 324 E. 3.3 S. 328).

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 29. Oktober 2014 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. November 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann

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