Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 878/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_878/2014

Urteil vom 6. Juli 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Zbinden,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Freiburg, Route du Mont-Carmel 5, 1762 Givisiez,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, vom 3. November 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ bezog vom 1. Oktober 1997 bis zur Leistungseinstellung Ende Mai 2007
eine Rente der Invalidenversicherung. Am 14. Juli 2009 meldete er sich erneut
zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Freiburg trat auf das
Leistungsbegehren ein. Sie führte medizinische und erwerbliche Abklärungen
durch, namentlich veranlasste sie eine psychiatrische Begutachtung bei Dr. med.
B.________, Spezialarzt für Neurologie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie
FMH, der A.________ bereits im Jahr 2006 exploriert hatte. Das Gutachten erging
am 6. Juni 2013. Mit Vorbescheid vom 12. Juli 2013 stellte die IV-Stelle eine
Ablehnung des Leistungsgesuchs in Aussicht, gleichentags gewährte sie Hilfe bei
der Arbeitsvermittlung. Am 10. Dezember 2013 verfügte sie die Ablehnung des
Gesuchs von A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung im
Verwaltungsverfahren. Nach Einwänden des A.________ gegen den Vorbescheid vom
12. Juli 2013 und weiteren Abklärungen lehnte die IV-Stelle das Rentenbegehren
ab (Verfügung vom 10. März 2014).

B. 
Gegen die beiden Verfügungen vom 10. Dezember 2013 und 10. März 2014 liess
A.________ je Beschwerde erheben. Das Kantonsgericht Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, gewährte A.________ die (auch) für das
Beschwerdeverfahren betreffend den Rentenanspruch beantragte unentgeltliche
Rechtspflege (Verfügung vom 28. Mai 2014), vereinigte die beiden
Beschwerdeverfahren und wies die Beschwerden ab (Entscheid vom 3. November
2014). Im gleichen Entscheid wies das kantonale Gericht das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren betreffend die unentgeltliche
Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ab (Ziff. V Dispositiv).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegen-heiten führen
und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides die Zusprechung einer
Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 50 % beantragen. Subsidiär sei
die Angelegenheit zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter
sei ihm im Verwaltungs- sowie im kantonalen Beschwerdeverfahren die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. In prozessualer Hinsicht ersucht er um
unentgeltliche Prozessführung vor Bundesgericht.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine freie Überprüfung des
angefochtenen Entscheids in tatsächlicher Hinsicht entfällt ebenso wie eine
Prüfung der Ermessensbetätigung nach den Grundsätzen der
Angemessenheitskontrolle (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).

2.

2.1. Die Vorinstanz erwog, gestützt auf das beweiskräftige Gutachten des Dr.
med. B.________ vom 6. Juni 2013, auf welches die Beschwerdegegnerin in
zulässiger antizipierter Beweiswürdigung abgestellt habe, sei davon auszugehen,
dass sich der Gesundheitszustand des Versicherten in den vergangenen sieben
Jahren nicht verschlechtert habe. Eine seinem Alter und Ausbildungsstand
angepasste Tätigkeit wäre ihm nach stufenweiser Steigerung über maximal sechs
Monate zu mindestens 80 % zumutbar, bei einer Verminderung der
Leistungsfähigkeit von maximal 20 %. Der Einkommensvergleich ergebe unter
Berücksichtigung eines leidensbedingten Abzuges von 5 % einen Invaliditätsgrad
von 39 %, wobei als einziges abzugsbegründendes Kriterium die Teilzeitarbeit
berücksichtigt werden könne. 

Mit Bezug auf die unentgeltliche Verbeiständung erwog das kantonale Gericht, im
Verwaltungsverfahren sei der Versicherte mit Hilfe seines Sohnes in der Lage
gewesen, den Vorbescheid zu verstehen, darauf zu reagieren und sachlich
begründete Einwände vorzubringen. Ein Rechtsbeistand sei unter diesen Umständen
nicht erforderlich gewesen. Im anschliessenden Beschwerdeverfahren betreffend
die unentgeltliche Rechtspflege entfalle ein entsprechender Anspruch wegen
Aussichtslosigkeit.

2.2. Der Beschwerdeführer stellt die Beurteilung des Dr. med. B.________ nicht
in Frage. Er rügt aber wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren, bei der
Abklärung seiner Arbeitsfähigkeit habe die Vorinstanz in Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes keinen Austrittsbericht der Tagesklinik C.________
eingeholt. Es bleibe somit ungewiss, ob der geplante Medikamentenentzug
gelungen sei. Be treffend den leidensbedingten Abzug vom Tabellenlohn habe das
kantonale Gericht den Sachverhalt unrichtig festgestellt, indem es die lange
Arbeitsabstinenz zwischen Oktober 1997 und April 2007 nicht berücksichtigt
habe. Weiter sei zu Unrecht ausser Acht gelassen worden, dass er nach
zehnjähriger vollständiger Arbeitsunfähigkeit aufgrund seiner episodenhaft
verlaufenden Krankheit mit mehrmaliger stationärer Behandlung zwischen 2009 und
2014 während rund 12 Monaten voll arbeitsunfähig gewesen sei. Unter
Berücksichtigung der Teilzeitarbeit müsse der Leidensabzug auf 20 %
veranschlagt werden. Schliesslich sei der Anspruch auf unentgeltliche
Vertretung zu Unrecht abgelehnt worden. Namentlich sei der erneuten stationären
Behandlung vom 11. September bis 5. Oktober 2010 wegen einer vorübergehenden
depressiven Episode im Nachgang zum abschlägigen Entscheid der
Invalidenversicherung keine Rechnung getragen worden.

3. 
Es trifft zu, dass Vorinstanz und IV-Stelle keinen weiteren Bericht bei der
Tagesklinik C.________ eingeholt und insbesondere nicht abgeklärt haben, ob das
von den Ärzten des stationären Behandlungszentrums D.________ am 15. Oktober
2013 angeregte Absetzen der Benzodiazepine tatsächlich erfolgte. Darin kann
indes keine Bundesrechtswidrigkeit gesehen werden. Wenn das kantonale Gericht
namentlich in Würdigung des Gutachtens von Dr. med. B.________ vom 6. Juni
2013, des Berichts des Behandlungszentrums D.________ vom 21. Oktober 2013
(wonach sich der Gesundheitszustand verbessert habe) und gestützt auf die
Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 10. Dezember 2013,
aus dem hervorgeht, dass der Gesundheitszustand seit 2006 im wesentlichen
unverändert war ("La situation de l'état de santé de l'assuré n'a pas changé
depuis l'expertise de 2006" ), eine plötzliche gesundheitliche Veränderung
nicht als (überwiegend) wahrscheinlich erachtete, und in Anbetracht gänzlich
fehlender Hinweise auf eine gesundheitliche Verschlechterung oder eine
Verbesserung keinen Anlass für ergänzende Abklärungen sah, ist dies nicht zu
beanstanden.

4. 
Die Höhe des leidensbedingten Abzugs ist eine Ermessensfrage. Das Bundesgericht
kann daher nur korrigierend eingreifen, wenn das kantonale Gericht sein
Ermessen über- oder unterschritten oder missbraucht und in diesem Sinn
rechtsfehlerhaft ausgeübt hätte (E. 1 hievor). Davon kann hier keine Rede sein.
Entgegen den Rügen des Versicherten sind dem kantonalen Gericht weder die lange
Arbeitskarenz während des Rentenbezugs zwischen Oktober 1997 und Mai 2007 noch
die mehrfachen Hospitalisationen in den Jahren 2009 bis 2014 entgangen. Weshalb
der vorinstanzlich - unter Berücksichtigung, dass einzig die Teilzeitarbeit
relevant sei - auf 5 % veranschlagte leidensbedingte Abzug geradezu
missbräuchlich sein soll, vermag der Beschwerdeführer nicht schlüssig zu
begründen. Mit seinen Hinweisen auf die lange Arbeitsabstinenz und den
episodenhaften Krankheitsverlauf setzt er den Schlussfolgerungen der Vorinstanz
nichts Substanzielles entgegen, umso weniger als nach den vorinstanzlich zu
Recht für beweiskräftig erachteten Ausführungen des Dr. med. B.________ nicht
die bipolare Störung das Zustandsbild prägte und für die lange Arbeitskarenz
wie auch für die gescheiterte Rückkehr in den Arbeitsprozess verantwortlich
war, sondern die "pathologische Persönlichkeitsorganisation" und "diverse nicht
krankheitsbedingte Fehleinstellungen". Sowohl der langen Abwesenheit vom
Arbeitsmarkt wie auch dem wechselhaften Krankheitsverlauf haben Vorinstanz und
Beschwerdegegnerin im Übrigen bereits bei der Festsetzung der zumutbaren
Tätigkeiten Rechnung getragen, indem sie in einer angepassten Arbeit - etwa im
leichteren industriellen Bereich - die Arbeitsfähigkeit auf 80 % bei einer um
20 % herabgesetzten Leistungsfähigkeit veranschlagten.

5. 

5.1. Stehen in einem Verwaltungsverfahren gewisse Schwachstellen ärztlicher
Beurteilungen in Frage, sind zur entsprechenden Beurteilung in der Regel
medizinische Kenntnisse und juristischer Sachverstand erforderlich. Über beides
verfügen die versicherten Personen gemeinhin nicht. Trotzdem kann allein
deswegen nicht von einer komplexen Fragestellung gesprochen werden, die eine
anwaltliche Vertretung gebieten würde. Die gegenteilige Auffassung liefe darauf
hinaus, dass der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung in praktisch
allen Verwaltungsverfahren bejaht werden müsste, in denen ein medizinisches
Gutachten zur Diskussion steht, was der Konzeption von Art. 37 Abs. 4 ATSG als
einer Ausnahmeregelung widerspräche. Es bedarf mithin weiterer Umstände, welche
die Sache als nicht (mehr) einfach und eine anwaltliche Vertretung als
notwendig bzw. sachlich geboten erscheinen lassen (Urteil 9C_993/2012 vom 16.
April 2013 E. 3 mit Hinweisen). Der Massstab ist streng (BGE 132 V 200 E. 5.1.3
S. 204 f.; zur diesbezüglich freien Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts vgl.
Urteil 9C_316/2014 vom 17. Juni 2014 E. 1.1). Dass ein medizinisches Gutachten
zur Diskussion steht (z.B. Urteil 9C_339/2015 vom 23. Juni 2015 mit Hinwiesen)
genügt klar nicht, ebenso wenig ein strittiger Abzug vom Tabellenlohn.

5.2. Die im Anschluss und - nach eigenen Angaben des Versicherten - wesentlich
als Reaktion auf die am 12. Juli 2013 vorbescheidweise in Aussicht gestellte
Leistungsabweisung erfolgte stationäre Behandlung vom 11. September bis 5.
Oktober 2013 vermag die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung im
Vorbescheidverfahren nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz nicht zu
begründen. Abgesehen davon dass der Beschwerdeführer nach den letztinstanzlich
verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz mit Hilfe seines Sohnes durchaus
begründete Einwände gegen den Vorbescheid vom 12. Juli 2013 erhoben hatte, sind
die geltend gemachten mangelnden juristischen und medizinischen Kenntnisse
praxisgemäss keine erschwerenden (den Komplexitätsgrad erhöhenden) Umstände
(vorangehende E. 5.1). Die Vorinstanz hat die Betrachtungsweise der
Beschwerdegegnerin, wonach die im Vorbescheidverfahren einschlägigen strengen
Voraussetzungen für die Gewährung einer nur ausnahmsweise angezeigten
unentgeltlichen Vertretung eindeutig nicht erfüllt waren, zu Recht geschützt
und im anschliessenden Beschwerdeverfahren unter Hinweis auf die klare
Rechtsprechung einen entsprechenden Anspruch wegen Aussichtslosigkeit ebenfalls
korrekt verneint.

6. 
Der unterliegende Versicherte trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Die unentgeltliche Rechtspflege kann gewährt werden (Art. 64 BGG). Der
Beschwerdeführer hat der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu
in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Daniel Zbinden,
Freiburg, als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Rechtsanwalt Daniel Zbinden, Freiburg, wird für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'332.05
ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. Juli 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle

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