Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 848/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_848/2014

Urteil vom 29. April 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Lind,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, Winterthur, Paulstrasse 9, 8400 Winterthur

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
15. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 10. Oktober 2013 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
A.________ eine befristete ganze Rente der Invalidenversicherung für die Zeit
vom 1. August 2007 bis 30. Juni 2010 zu.

B. 
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde des A.________ änderte das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügung vom 10. Oktober 2013
dahingehend ab, dass es für die Zeit vom 1. August 2007 bis 30. September 2010
eine ganze Rente zusprach (Entscheid vom 15. Oktober 2014).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 15. Oktober 2014 sei insoweit aufzuheben, als er für die Zeit
nach dem 30. September 2010 einen Rentenanspruch verneine, und es sei ihm ab 1.
Oktober 2010 eine halbe, eventualiter eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung (inkl. Kinderrenten) zuzusprechen.
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Die AXA Stiftung Berufliche
Vorsorge, Winterthur verzichtet wie schon im kantonalen Verfahren auf eine
Stellungnahme und einen Antrag.

Erwägungen:

1. 
Streitgegenstand ist, ob der Beschwerdeführer ab 1. Oktober 2010 Anspruch auf
eine unbefristete halbe Rente oder zumindest eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung hat (BGE 133 II 35 E. 2 S. 38; Art. 107 Abs. 1 BGG und
Urteil 9C_311/2013 vom 12. November 2013 E. 1). Soweit der Beschwerdeführer
erstmals die Zusprechung von Kinderrenten beantragt, ist - unabhängig von der
Frage nach der Zulässigkeit (vgl. Art. 99 Abs. 2 BGG) - nicht aktenkundig, dass
er Kinder hat, für die ein solcher Anspruch bestehen könnte. Im vorliegenden
Verfahren ist daher nicht weiter darauf einzugehen.

2. 
Die Vorinstanz hat - durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a
IVG) - für die Zeit ab Juni 2010 einen Invaliditätsgrad von 39 % ([[Fr.
80'811.25 - Fr. 48'934.60]/Fr. 80'811.25] x 100 %; zum Runden BGE 130 V 121)
ermittelt, was für den Anspruch auf eine Rente ab 1. Oktober 2010 (Art. 88a
Abs. 1 IVV) nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG). Der Beschwerdeführer
bestreitet beide Vergleichseinkommen, Validen- (Fr. 80'811.25) und
Invalideneinkommen (Fr. 48'934.60; BGE 125 V 146 E. 2a S. 149).

3.

3.1. Die Vorinstanz ist wie die Beschwerdegegnerin in der angefochtenen
Verfügung von einem Valideneinkommen von Fr. 74'756.- für 2005 ausgegangen, was
angepasst an die Nominallohnentwicklung Fr. 80'811.25 für 2010 ergab. Die Summe
von Fr. 74'756.- (genau: Fr. 74'756.96) entsprach dem ausbezahlten Gehalt von
Fr. 75'716.96, soweit darauf Sozialversicherungsbeiträge abgerechnet worden
waren, abzüglich dem im März dem Arbeitgeber ausgerichteten - gemäss
Lohnausweis für die Steuererklärung im Bruttolohn enthaltenen - Kranken- und
Unfalltaggeld von insgesamt Fr. 960.-. Zu den nicht verabgabten und daher nicht
berücksichtigten Bestandteilen des Gehalts gehörten die Reisespesen für die
Fahrten des Beschwerdeführers zu den jeweiligen Baustellen in der Höhe des
effektiven Fahrpreises (Fr. 1'134.-) sowie die Versetzungszulagen für
auswärtige Übernachtungen und Mittagessen an den Einsatzorten während der
Arbeitswoche (Fr. 8'100.-). Dabei handle es sich, so die Vorinstanz, um
Unkosten im Sinne von Art. 9 Abs. 1 AHVV und nicht um massgebenden Lohn nach
Art. 25 Abs. 1 Satz 1 IVV und Art. 5 Abs. 2 AHVG.

3.2.

3.2.1. Der Beschwerdeführer bestreitet zu Recht den Abzug der
Versicherungsleistungen von Fr. 960.-. Gemäss den Angaben zum Jahresgehalt 2005
wurde ihm auch im ... der monatliche (Grund-) Lohn von Fr. 4'780.- ausbezahlt
und davon die Sozialversicherungsbeiträge abgezogen, obschon er gesundheitlich
bedingt nicht voll hatte arbeiten können. Das Kranken- und Unfalltaggeld wurde
dem Arbeitgeber ausgerichtet und hatte weder tatsächlich noch buchhalterisch
einen Einfluss auf die Gehaltsabrechnung. Der Betrag von Fr. 960.- wurde somit
zu Unrecht bei der Ermittlung des Valideneinkommens in Abzug gebracht. Dies
entspricht auch der Regelung nach Art. 7 lit. m AHVV, wonach Leistungen des
Arbeitgebers für den Lohnausfall infolge Unfalles oder Krankheit Bestandteil
des massgebenden Lohnes nach Art. 5 Abs. 2 AHVG sind.

3.2.2. Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, die Reiseentschädigung von Fr.
1'134.- und die Versetzungszulage im Umfang von Fr. 3'080.- seien massgebender
Lohn nach Art. 5 Abs. 2 AHVG und daher ebenfalls zum Valideneinkommen
hinzuzurechen. Zur Begründung verweist er u.a. auf die Urteile 8C_117/2011 vom
19. August 2011 E. 5.1.1-2 und 8C_430/2010 vom 28. September 2010 E. 6.3.
Darauf braucht nicht näher eingegangen zu werden, da es am Ergebnis nichts
ändert (vgl. nachstehende E. 4).

3.3. Werden die Versicherungsleistungen von Fr. 960.- nicht abgezogen, ergibt
sich für 2005 ein Valideneinkommen von Fr. 75'716.96. Daraus resultiert bei im
Übrigen unveränderten Berechnungsfaktoren ein Invaliditätsgrad von 40 % ([[Fr.
75'716.96 x 1.081] - Fr. 48'934.60]/[Fr. 75'716.96 x 1.081] x 100 %). Werden
zusätzlich die Reiseentschädigung von Fr. 1'134.- und die Versetzungszulage im
Umfang von Fr. 3'080.- dazugezählt, beträgt das Valideneinkommen für 2005 Fr.
79'930.96, was einen Invaliditätsgrad von 43 % ([[Fr. 79'930.96 x 1.081] - Fr.
48'934.60]/[Fr. 79'930.96 x 1.081] x 100 %) ergibt.

4.

4.1. Die Vorinstanz hat bei der Ermittlung des Invalideneinkommens auf der
Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2010 des Bundesamtes für
Statistik (BFS; vgl. BGE 124 V 321) keinen Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126
V 75 vorgenommen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dem Beschwerdeführer seien
aus medizinisch-orthopädischer Sicht leichte rückenadaptierte Arbeiten ohne
repetitive Bewegungsanforderungen an den Hals und für die LWS und ohne Arbeiten
in Zwangshaltungen für die HWS und den Rumpf, das Heben, Tragen und Bewegen von
Lasten auf 10 kg limitiert, in einem vollen Pensum zumutbar. Dabei bestehe eine
Leistungsminderung von 20 % wegen der nicht gänzlich vermeidbaren HWS- und
Rückenbeschwerden. Da die qualitativen Einschränkungen nicht darüber
hinausgingen, sei unter diesem Gesichtspunkt ein Abzug nicht gerechtfertigt.
Ebenso wenig seien die übrigen Merkmale (Alter, Dienstjahre, Nationalität/
Aufenthaltskategorie, Beschäftigungsgrad) im konkreten Fall abzugsrelevant.

4.2. Der Beschwerdeführer hält dagegen, in den massgeblichen statistischen
Werten seien auch Löhne enthalten, die für körperlich Schwer- und
Schwerstarbeiten bezahlt würden. Bei ihm kämen jedoch nicht einmal mehr
mittlere, sondern nur noch leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen in
Frage. Dem Umstand, dass ihm nur noch ein ganz kleiner Teil aller Hilfsarbeiten
zumutbar sei und die besser entlöhnten Schwerarbeiten für ihn nicht mehr
möglich seien, sei zunächst dadurch Rechnung zu tragen, dass auf dem
durchschnittlichen Einkommen ein Abzug von mindestens 15 % vorzunehmen sei. In
einem zweiten Schritt sei die Verminderung der Leistungsfähigkeit von 20 % auch
bei leichten rückenadaptierten Tätigkeiten zu berücksichtigen. Insgesamt ergebe
sich somit ein Invalideneinkommen von Fr. 41'591.85 ([Fr. 61'164.50 x 0.85] x
0.8).

4.3. 

4.3.1. Mit dem Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 soll der Tatsache
Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und
Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder
Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben
können und je nach Ausprägung die versicherte Person deswegen die verbliebene
Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt (vgl. dazu BGE 134
V 64 E. 4.2.1 S. 70) nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg
verwerten kann (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301). Mit Bezug auf den behinderungs-
bzw. leidensbedingten Abzug im Besonderen ist zu beachten, dass das
medizinische Anforderungs- und Belastungsprofil eine zum zeitlich zumutbaren
Arbeitspensum tretende qualitative oder quantitative Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit darstellt. Dadurch wird in erster Linie das Spektrum der
erwerblichen Tätigkeiten (weiter) eingegrenzt, die unter Berücksichtigung der
Fähigkeiten sowie der Ausbildung und Berufserfahrung der versicherten Person
realistischerweise noch in Frage kommen. Davon zu unterscheiden ist die
Gegenstand des Abzugs vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 bildende Frage, ob mit
Bezug auf konkret in Betracht fallende Tätigkeiten aufgrund der
Einschränkungen, die personen- oder arbeitsplatzbezogen sein können, verglichen
mit einem gesunden Mitbewerber nur bei Inkaufnahme einer Lohneinbusse reale
Chancen für eine Anstellung bestehen. Ist von einem genügend breiten Spektrum
an zumutbaren Verweisungstätigkeiten auszugehen, können unter dem Titel
leidensbedingter Abzug grundsätzlich nur Umstände anerkannt werden, die auch
auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt als ausserordentlich zu bezeichnen sind
(vgl. Urteil 8C_693/2014 vom 22. Januar 2015 E. 4.2.1 mit Hinweisen).

4.3.2. Vorliegend wird das grundsätzlich in Frage kommende Arbeitsmarktsegment
(einfache und repetitive Tätigkeiten bzw. Anforderungsniveau 4 des
Arbeitsplatzes nach der Terminologie der erwähnten Lohnstrukturerhebung) durch
das Anforderungs- und Belastungsprofil (vorne E. 4.1) nicht in einer Weise
verkleinert, dass überhaupt nicht auf statistische Lohnangaben abgestellt
werden könnte oder ein bestimmter Wirtschaftszweig praktisch ausser Betracht
fiele, was bei der Wahl des Tabellenlohnes zu berücksichtigen wäre (BGE 129 V
472 E. 4.3.2 S. 483; Urteil 9C_633/2013 vom 23. Oktober 2013 E. 4.2; Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts U 240/99 E. 3c/cc, in: RKUV 2001 Nr. U 439 S. 347).
Solches wird - zu Recht - denn auch nicht geltend gemacht. Im Weitern
differenzieren die Tabellen nicht nach dem Schweregrad einer Tätigkeit, ebenso
nicht nach dem Belastungsprofil (Urteil 9C_487/2014 vom 29. Dezember 2014 E.
3.1.2), was indessen deren Anwendbarkeit nicht entgegensteht. In diesem
Zusammenhang finden sich in den Lohnstrukturerhebungen des BFS keine Hinweise,
dass allgemein körperlich schwere (re) Tätigkeiten besser entlöhnt würden als
leichte. Schliesslich lässt sich weder aus dem Urteil 8C_673/2012 vom 16. Mai
2013 noch aus BGE 134 V 322 etwas zu Gunsten des Beschwerdeführers ableiten. In
beiden Fällen wurde zwar ein Abzug vom Tabellenlohn vorgenommen. Im Unterschied
zum erstgenannten Fall, wo der versicherten Person lediglich ein Arbeitspensum
von 75 % zumutbar war, besteht hier jedoch einzig eine um 20 % reduzierte
Leistungsfähigkeit. Im publizierten Entscheid sodann war das Invalideneinkommen
unter dem Titel "Parallelisierung der Vergleichseinkommen" (vgl. dazu auch BGE
135 V 297) um 30 % herabgesetzt worden. Jedenfalls rechtfertigte sich
vorliegend leidensbedingt - andere einen Abzug begründende Umstände kommen
nicht in Betracht - höchstens ein Abzug von 10 %. Daraus ergäbe sich ein
Invaliditätsgrad von maximal 49 % ([[Fr. 79'930.96 x 1.081] - Fr. 48'934.60 x
0.9]/[Fr. 79'930.96 x 1.081] x 100 %; E. 3.3).

4.4. Nach dem Gesagten ist für die Zeit ab Juni 2010 von einem Invaliditätsgrad
von wenigstens 40 % und maximal 49 % auszugehen. Der Beschwerdeführer hat somit
ab 1. Oktober 2010 (Art. 88a Abs. 1 IVV) Anspruch auf eine Viertelsrente. Die
Beschwerde ist somit im Eventualstandpunkt begründet.

5. 
Ausgangsgemäss haben die Parteien die Gerichtskosten je zur Hälfte zu tragen
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 15. Oktober 2014 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 10. Oktober 2013 werden dahingehend
ergänzt, dass der Beschwerdeführer für die Zeit ab 1. Oktober 2010 Anspruch auf
eine Viertelsrente der Invalidenversicherung hat. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer und der
Beschwerdegegnerin je zur Hälfte auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

4. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hat die Gerichtskosten und die
Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. April 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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