Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 843/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_843/2014

Urteil vom 4. September 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
 vertreten durch Fürsprecher Roland Jeitziner,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
23. September 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1961, Mutter von fünf zwischen 1979 und 1987 geborenen
Kindern, war ab Oktober 1976 vollzeitig als Näherin bei der B.________ AG
angestellt. Am 19. Oktober 2000 meldete sie sich wegen starker Lendenschmerzen
und Schmerzen in den Beinen (vor allem links) sowie Depression, bestehend "seit
Jahren", bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, IV-Stelle, holte insbesondere
einen Bericht des behandelnden Dr. med. C.________, Arzt für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 22. Dezember 2000, sowie die Krankengeschichte der
Rehabilitationsklinik D.________ ein (wo sich A.________ vom 8. bis 21. Februar
2000 einer stationären Physiotherapie unterzogen hatte). Per 30. Juni 2001
kündigte die Arbeitgeberfirma das Arbeitsverhältnis. Mit Verfügung vom 12.
September 2001 sprach die IV-Stelle A.________ eine ganze Invalidenrente samt
zwei Kinder- und einer Ehegatten-Zusatzrente (IV-Grad: 100 %) ab 1. Oktober
2000 zu. Der Rentenanspruch wurde revisionsweise bestätigt am 26. Januar 2004,
13. Dezember 2007 und 21. Mai 2010.

Im Februar 2012 leitete die IV-Stelle ein weiteres Revisionsverfahren ein. In
diesem Rahmen veranlasste sie namentlich eine polydisziplinäre Begutachtung bei
der Gutachterstelle E.________ (Expertise vom 31. Dezember 2012). E ntsprechend
einem Vorschlag des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD; Dr. med. F.________)
ersuchte sie die Gutachter zudem um Beantwortung von Ergänzungsfragen. Nach
erneuten Stellungnahmen des Dr. med. F.________ vom 29. Juli und 9. August 2013
sowie nach konsiliarischer Aktenbeurteilung durch den RAD-Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie (Dr. med. G.________) vom 30. Juli 2013 stellte
die IV-Stelle mit Vorbescheid vom 13. August 2013 die Rentenaufhebung in
Aussicht. Gleichentags bot sie A.________ ein Beratungsgespräch betreffend die
berufliche Wiedereingliederung an. Nachdem A.________ gegen den Vorbescheid
Einwände hatte erheben lassen und der Rechtsdienst der IV am 16. Januar 2014
Stellung genommen hatte, verfügte die IV-Stelle am 21. Januar 2014 entsprechend
dem Vorbescheid.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde von A.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 23. September 2014 ab.

C. 
A.________ beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
die Aufhebung des angefochtenen Entscheids sowie weiterhin die Ausrichtung
einer ganzen Invalidenrente. In prozessualer Hinsicht ersucht sie um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem
Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105
Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin
oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht,
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG).

1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es prüft indes, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und
Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten
Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280; vgl. auch BGE 140 V 136 E.
1.1 S. 138).

2. 
Streitig ist zunächst, ob das kantonale Gericht zu Recht die Zulässigkeit einer
voraussetzungslosen (namentlich nicht von einer massgebenden Veränderung im
Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG abhängigen) Neubeurteilung des Rentenanspruchs
gestützt auf den vom 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2014 in Kraft gewesenen
lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision (erstes
Massnahmepaket; nachfolgend SchlB IVG) geschützt hat.

3. 
Die Voraussetzungen, unter denen bis Ende 2014 Renten zu überprüfen waren, die
bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, werden im angefochtenen
Entscheid zutreffend dargelegt. Korrekt sind namentlich die Hinweise auf die
Revidierbarkeit von Renten, welche wegen der Folgen "kombinierter", d.h.
erklärbare wie auch unklare Beeinträchtigungen umfassender Beschwerden
zugesprochen worden waren (BGE 140 V 197 E. 6 S. 198; Urteile 8C_34/2014 vom 8.
Juli 2014 E. 4.2, 9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 2.6 [SVR 2014 IV Nr. 39
S. 137] und 9C_274/2014 vom 30. September 2014). Darauf kann verwiesen werden.

4. 

4.1. Die Vorinstanz stellte fest, die ursprüngliche Rentenzusprache sei
einerseits wegen eines teilweise organisch erklärbaren vertebro-spondylogenen
Syndroms und anderseits wegen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung
sowie einer längeren depressiven Reaktion im Sinn einer Anpassungsstörung
erfolgt. Weil bezüglich der "erklärbaren" Beschwerden von einer chronifizierten
Schmerzerkrankung mit Anzeichen einer Fibromyalgie ausgegangen worden sei,
könne davon ausgegangen werden, dass die organischen Beeinträchtigungen bei der
ursprünglichen Rentenzusprache von untergeordneten Bedeutung gewesen seien und
die Berentung vorwiegend wegen der Folgen "unerklärbarer" Gesundheitsschäden
erfolgt sei, welche der Überprüfung gemäss den SchlB IVG unterlägen. Im
Folgenden prüfte das Gericht die invalidenversicherungsrechtliche Relevanz der
im Gutachten der Gutachterstelle E.________ gestellten Diagnosen anhand der
sogenannten Foerster-Kriterien und kam zum Schluss, es sei "der Regelfall der
zumutbaren Überwindbarkeit gegeben". In psychischer Hinsicht falle damit eine
Arbeitsunfähigkeit ausser Betracht. In somatischer Hinsicht sei die
Arbeitsfähigkeit mit Blick auf die unterschiedlichen ärztlichen Beurteilungen
zu Gunsten der Versicherten auf 80 % festzusetzen. Im Einkommensvergleich
ermittelte sie einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 8 %.

4.2. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von lit. a Abs. 1 SchlB IVG.
Eine Rentenrevision bei einem "gemischten Sachverhalt" sei nur möglich, wenn
die Diagnosen und deren funktionelle Auswirkungen klar trennbar seien. Dies
treffe in ihrem Fall nicht zu, weshalb eine Rentenaufhebung gestützt auf lit. a
Abs. 1 SchlB IVG ausser Betracht falle. Im Übrigen hätten die Gutachter der
Gutachterstelle E.________ zweifelsfrei eine vollständige Arbeitsunfähigkeit
attestiert. Weshalb Vorinstanz und Beschwerdegegnerin dies nicht wahrnehmen
wollten und die gutachterlichen Einschätzungen unzulässigerweise relativierten,
sei nicht verständlich.

5. 

5.1. Die ursprüngliche Rentenzusprache beruhte im Wesentlichen auf zwei
medizinischen Beurteilungen. Zum einen hielt der behandelnde Psychiater Dr.
med. C.________ am 22. Dezember 2000 als Diagnosen mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit ein lumboradikuläres Schmerz- und motorisches Ausfallsyndrom
L5 links (bei Verdacht auf Diskushernie L4/5 und Spinalstenose L 3/4 und L5/S1
sowie auf Listhesis L5/S1), eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10
F 45.4) und eine längere depressive Reaktion im Sinne einer Anpassungsstörung
(ICD-10 F43.21) fest. Zum andern diagnostizierten die Ärzte der
Rehabilitationsklinik D.________ im Februar 2000 ein vertebro-spondylogenes
Syndrom mit radikulärer Reizsymptomatik links auf der Basis einer Diskushernie
L4/5 und einer Spinalstenose L3/4 und L4/5. Als "funktionelle Diagnose" führten
sie eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule an. Es bestehe
sicherlich eine Erkrankung im Bereich der LWS mit Diskushernie und
Spinalstenose. Diese sei zwar Auslösepunkt der Schmerzerkrankung, weise aber
derzeit keine neurologische Kompressionssymptomatik auf und biete auch keine
Indikation für einen operativen Eingriff. Im Vordergrund stehe eine
chronifizierte Schmerzerkrankung mit Anzeichen für eine Fibromyalgie.

5.2. Mit den Schlussbestimmungen bezweckte der Gesetzgeber ausschliesslich, in
den dort gezogenen Grenzen Rentenbezügerinnen und -bezüger gleich zu behandeln
wie Rentenanwärterinnen und -anwärter (Urteile 9C_379/2013 vom 13. November
2013 E. 3.2.3 und 8C_34/2014 vom 8. Juli 2014 E. 4.2.2). Mit anderen Worten war
eine Rentenaufhebung gestützt auf die SchlB IVG zulässig, wenn die
Anspruchsprüfung bei einer Neuanmeldung gestützt auf die (damalige)
Rechtsprechung zu den unklaren Beschwerdebildern erfolgt wäre. War lediglich
fraglich, ob die Abschätzung der funktionellen Folgen (vollständig) mit dem
diagnostizierten Gesundheitsschaden korrelierte, schied die - analoge -
Anwendung der Schlussbestimmung hingegen aus (Urteil 9C_379/2013 vom 13.
November 2013 E. 3.2.3).

5.3. Bei der Beschwerdeführerin konnten nach dem Gesagten (E. 5.1 hievor) zu
keinem Zeitpunkt wesentliche somatische Befunde erhoben werden, welche das
Ausmass der geklagten Beschwerden zu erklären vermochten (vgl.
rheumatologisches Teilgutachten der Gutachterstelle E.________ vom 27. Dezember
2012). Namentlich schlossen die Ärzte eine neurologische
Kompressionssymptomatik aus. Auch beschränkte sich die im Jahr 2000 abgegebene
Therapieempfehlung darauf, der Versicherten das Weiterführen des
(physiotherapeutischen) Heimprogramms während 14 Tagen bei gleichzeitiger
Einnahme eines Rheuma-Medikaments für ebenfalls zwei Wochen nahezulegen. Selbst
wenn gewisse somatische Befunde erhoben werden konnten und insoweit eine
teilweise organische Ursache vorhanden war, steht dies der Einordnung des
Gesamtleidens als syndromales Beschwerdebild nicht entgegen. Wenn die
Vorinstanz zum Schluss gelangte, die ursprüngliche Rentenzusprache sei nicht
wegen "erklärbaren" Beschwerden erfolgt, weil diese nur eine untergeordnete
Bedeutung erlangt hätten und somit nicht selbstständig zur Begründung des
Rentenanspruches beigetragen hätten (vgl. z. B. Urteil 8C_90/2015 vom 23. Juli
2015 E. 3.2 mit Hinweisen), verstiess sie damit nicht gegen Bundesrecht. Die
voraussetzungslose Rentenüberprüfung gestützt auf die SchlB IVG ist nicht zu
beanstanden.

6. 
Soweit die Beschwerdeführerin rügt, es sei nicht verständlich, weshalb
Vorinstanz und Beschwerdegegnerin die im Gutachten der Gutachterstelle
E.________ attestierte volle Arbeitsunfähigkeit "nicht wahrnehmen woll (t) en
und unzulässigerweise relativier (t) en" (vorangehende E. 4.2), vermag sie
nicht rechtsgenüglich aufzuzeigen, inwiefern der angefochtene Entscheid
bundesrechtswidrig sein soll. Vor diesem Hintergrund erübrigen sich jegliche
Weiterungen, namentlich auch im Hinblick auf die Praxisänderung vom 3. Juni
2015 (zur Publ. bestimmtes Urteil 9C_492/2014).

7. 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin
grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung; Art. 64 Abs.
1 und 2 BGG) kann jedoch entsprochen werden (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es
wird aber ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach sie der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen und es wird der Beschwerdeführerin Fürsprecher Roland
Jeitziner als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Fürsprecher Roland Jeitziner wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. September 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle

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