Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 842/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_842/2014 {T 0/2}     

Urteil vom 9. März 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Bühler,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse
13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 8. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ verletzte sich am ........ bei der Arbeit in einer ........ an der
rechten Hand, was zur Amputation der drei mittleren Finger führte. Im Juli 2011
meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach
Abklärungen und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die
IV-Stelle des Kantons Thurgau mit zwei Verfügungen vom 30. Juni 2014 den
Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine Rente.

B. 
Die Beschwerde der A.________ hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 8. Oktober 2014 in dem Sinne gut,
als es feststellte, dass für die Zeit vom      1. Januar bis 31. Mai 2012
Anspruch auf eine Dreiviertelsrente bestehe; im Übrigen wies es das
Rechtsmittel ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 8. Oktober 2014 sei aufzuheben und es sei ihr ab 1. Juni 2012
weiterhin eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen.
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Streitgegenstand ist, ob die Beschwerdeführerin über den 31. Mai 2012 hinaus
Anspruch auf eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung hat (BGE 133 II
35 E. 2 S. 38; Art. 107 Abs. 1 BGG und Urteil 9C_311/2013 vom 12. November 2013
E. 1).

2. 
Die IV-Stelle ermittelte in Anwendung der gemischten Methode      (Art. 28a
Abs. 3 IVG; BGE 137 V 334 E. 3.1.3 und 3.2 S. 338; 125 V 146) für die Zeit ab
1. Januar 2012 (frühest möglicher Rentenbeginn; Art. 29 Abs. 1 IVG) einen
Invaliditätsgrad von 25 % (0,5 x 25 % + 0,5 x 25,5 %), was für einen
Rentenanspruch nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG). Die erwerbsbezogene
Invalidität (25 %) ergab sich durch Vergleich der auf derselben statistischen
Grundlage (Schweizerische Lohnstrukturerhebung 2010 des Bundesamtes für
Statistik [LSE 10]; grundlegend BGE 124 V 321) berechneten Validen- und
Invalideneinkommen (BGE 125 V 146 E. 2a S. 149; Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a
Abs. 1 IVG). Bei einer Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer adaptierten Tätigkeit
(rechte Hand als Zudienhand, Vermeidung von Kälteexposition) und einem
erwerblichen Arbeitspensum im Gesundheitsfall von 50 % entsprach der
Invaliditätsgrad somit dem Abzug vom Tabellenlohn gemäss BGE 126 V 75 (Urteil
des Eidg. Versicherungsgerichts I 295/06 vom 19. September 2006 E. 3.2.3), den
die IV-Stelle leidensbedingt auf 25 % festsetzte. Die Einschränkung im
Aufgaben-bereich Haushalt (25,5 %) entsprach dem Ergebnis der Abklärung vor Ort
(Bericht vom 1. Juni 2012).
Die Vorinstanz hat die Invaliditätsbemessung der Beschwerdegegnerin insofern
korrigiert, als sie für die Zeit vom 1. Januar 2012 bzw. 6. Dezember 2011 bis
28. Februar 2012 von einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % ausging, was einen
Invaliditätsgrad von 63 % (0,5 x 100 % + 0,5 x 25,5 %; zum Runden BGE 130 V 121
) und somit Anspruch auf eine Dreiviertelsrente bis Ende Mai 2012 ergab (Art.
88a Abs. 1 IVV). Weiter hat sie festgestellt, ab 13. August 2012 bestehe eine
Arbeitsfähigkeit von 100 % in leidensangepassten Tätigkeiten.

3.

3.1. Die Vorbringen in der Beschwerde betreffen in erster Linie die
tatsächlichen Grundlagen des angefochtenen Entscheids. Dabei werden teilweise
Annahmen der Beschwerdegegnerin als unrichtig bzw. unzutreffend gerügt, worauf
nicht weiter einzugehen ist. Massgebend ist der von der Vorinstanz
festgestellte Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG). Soweit die Beschwerdeführerin
darauf Bezug nimmt, gibt sie mit einer Ausnahme (nachstehende E. 4) entweder
ihre eigene Sichtweise wieder, wie die ärztlichen Berichte zu würdigen sind,
womit sie ihrer Rügepflicht nicht genügt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2
BGG; Urteil 9C_312/2014 vom 19. September 2014 E. 4.3), oder sie vermag nicht
aufzuzeigen, inwiefern das kantonale Versicherungsgericht daraus
rechtsfehlerhafte Schlüsse gezogen hat (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 2C_413/2014
vom 11. Mai 2014 E. 2.1).

3.2. Nicht stichhaltig ist sodann die Rüge der Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes durch die Beschwerdegegnerin (Art. 43 Abs. 1 ATSG),
was den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht
betrifft. In diesem Zusammenhang trifft nicht zu, dass die SUVA-Kreisärztin Dr.
med. B.________ am 7. Mai 2010 von einer psychischen Dekompensation der
Versicherten gesprochen hatte. Vielmehr hatte sich offensichtlich die
gesprächsführende Sachbearbeiterin des Unfallversicherers in diesem Sinne
geäussert. Ebenso findet das Vorbringen der Beschwerdeführerin keine Stütze in
den Akten, sie sei ins Zentrum C.________ geschickt worden, u.a. auch weil Frau
D.________ von der SUVA eine psychiatrische Behandlung als dringend notwendig
erachtet habe. Im Übrigen bestreitet sie die Feststellung der Vorinstanz nicht,
sie unterziehe sich gemäss Aktenlage keiner konsequenten Depressionstherapie.
Ihre "Erklärung", es sei äusserst schwierig, eine passende Psychiaterin zu
finden, da sie nur Albanisch spreche, lässt sich nicht in Einklang bringen mit
dem Bericht der Klinik E.________ vom 21. Juli 2011 über die berufliche
Standortbestimmung, wo festgehalten wurde, sie spreche bereits gut Deutsch.
Weiter ergibt sich aus dem Bericht des Dr. med. F.________ vom 30. August 2012
nichts zu ihren Gunsten. Der neurologische Facharzt äusserte sich darin einzig
zur Frage der Unfallkausalität des persistierenden Streckdefizits am rechten
Kleinfinger. Dass deswegen der Einsatz der rechten Hand als Zudienhand
verunmöglicht sei, wie sie vorbringt, sagte Dr. med. F.________ jedoch nicht.

Soweit die Beschwerdeführerin schliesslich die erwerbliche Verwertbarkeit der
Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit (rechte Hand als Zudienhand,
Vermeidung von Kälteexposition) bestreitet, ist darauf hinzuweisen, dass die
Gerichtspraxis regelmässig bei Versicherten, welche ihre dominante Hand
gesundheitlich bedingt nur sehr eingeschränkt, als unbelastete Zudienhand
beispielsweise, einsetzen können, von einem hinreichend grossen Angebot an
realistischen Betätigungsmöglichkeiten - auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt
(zu diesem Begriff BGE 134 V 64 E. 4.2.1 S. 70) - ausgeht (Urteile 8C_272/2012
vom 29. Mai 2012 E. 4.3 und 9C_418/2008 vom 17. September 2008 E. 3.2.2 mit
Hinweisen).

3.3. In Bezug auf die Bemessung der Einschränkung im Haushalt rügt die
Beschwerdeführerin vorab, im Abklärungsbericht vom 1. Juni 2012 würden ihre
divergierenden Auffassungen nicht wiedergegeben, was sinngemäss den Beweiswert
mindere (vgl. Urteil 8C_334/2014 vom 21. Juli 2014 E. 5.2). Indessen legt sie
nicht dar, welche der angeblich bei der Abklärung vor Ort gemachten
abweichenden Angaben im Bericht nicht erwähnt werden. Weiter ist zu beachten,
dass Art und Ausmass der Einschränkung in den einzelnen Haushaltsbereichen
Tatfrage ist (Urteil 9C_769/2012 vom 2. November 2012 E. 4); diesbezügliche
Feststellungen der Vorinstanz prüft das Bundesgericht somit lediglich unter
eingeschränktem Blickwinkel (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG; Urteil 9C_90/2010 vom
22. April 2010 E. 4.1.1.3 mit Hinweisen), wobei die Beschwerde führende Person
eine qualifizierte Rügepflicht trifft (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 137 II 353 E.
5.1 S. 356).
Die Abklärungsperson ermittelte folgende Einschränkungen: "Ernährung" (30 %),
"Wohnungspflege" (30 %), "Einkauf und weitere Besorgungen" (10 %) "Wäsche und
Kleiderpflege" (30 %), "Betreuung von Kindern" (20 %). Die Vorinstanz hat in
Auseinandersetzung mit den dagegen erhobenen Einwänden diese Festsetzung
bestätigt. Aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde erscheint zwar die Annahme
einer Behinderung von lediglich maximal 30 % in allen Bereichen als sehr
optimistisch in Anbetracht der nur sehr eingeschränkt einsetzbaren dominanten
rechten Hand, was heisst, dass die Abklärungsperson der Mithilfe des Ehemannes
und der Schwiegermutter im Haushalt unter dem Titel der
Schadenminderungspflicht (BGE 133 V 504 E. 4.2 S. 509) grosses Gewicht
beigemessen hat. Die Beschwerdeführerin rügt diesbezüglich zwar sinngemäss eine
Verletzung von Bundesrecht; ihre Vorbringen sind jedoch zu wenig substanziiert,
sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

4. 
Die Vorinstanz ist für die Zeit vom 29. Februar bis 12. August 2012 von einer
Arbeitsfähigkeit von 50 % in angepassten Tätigkeiten ausgegangen. Diese
Festsetzung findet keine Stütze in den Akten. Sie beruht auf der Beurteilung
des regionalen ärztlichen Dienstes (RAD) vom 13. Juni 2013, der sich
seinerseits auf den Bericht der Klinik E.________ vom 21. Juli 2011 stützt.
Darin finden sich indessen keine Angaben zur konkreten aktuellen
Arbeitsfähigkeit, wie die Beschwerdeführerin zu Recht einwendet. Aufgrund der
Akten wurde in der fraglichen Zeit lediglich vom zuständigen SUVA-Kreisarzt und
von der behandelnden Handchirurgin vom Spital G.________ eine Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit gemacht, welche übereinstimmend mit 25 % beziffert worden ist
(Notiz vom 2. April 2012, erwähnt im Case Report vom 30. Juni 2014 [Eintrag vom
14. Juni 2012]). Darauf ist für die Zeit vom 29. Februar bis 12. August 2012
abzustellen. Daraus ergibt sich eine Einschränkung im erwerblichen Bereich von
50 % bzw. bei im Übrigen gleichen Bemessungsfaktoren (vorne E. 2) ein
Invaliditätsgrad von 44 % (0,5 x 62,5 % + 0,5 x 25,5 %). Somit hat die
Beschwerdeführerin vom 1. Juni bis 30. November 2012 (Art. 88a Abs. 1 IVV)
Anspruch auf eine Viertelsrente. Insofern ist die Beschwerde begründet.

5. 
Ausgangsgemäss haben die Parteien die Gerichtskosten nach Massgabe ihres
Unterliegens zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 8. Oktober 2014 wird insoweit
ergänzt, als die Beschwerdeführerin ab 1. Juni bis 30. November 2012 Anspruch
auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung hat. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden zu sieben Achteln (Fr. 700.-) der
Beschwerdeführerin und zu einem Achtel (Fr. 100.-) der Beschwerdegegnerin
auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 350.- zu entschädigen.

4. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hat die Gerichtskosten und die
Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. März 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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