Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 822/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_822/2014 {T 0/2}     

Urteil vom 29. Oktober 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Procap für Menschen mit Handicap,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 27. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A. 
Der 1971 geborene A.________, von 1. April bis 24. Juni 2008 bei der B.________
AG als Betriebsmitarbeiter tätig gewesen, meldete sich am 26. April 2010 bei
der Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen (fortan: IV-Stelle) führte erwerbliche und medizinische Abklärungen
durch, namentlich veranlasste sie eine Begutachtung durch die Medizinische
Abklärungsstelle (MEDAS; Expertise vom 14. Juni 2012), und verneinte nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 2. Oktober 2012 den
Anspruch auf eine Invalidenrente (Invaliditätsgrad von 0 % ).

B. 
In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. Oktober 2014 die angefochtene
Verfügung auf und sprach A.________ mit Wirkung ab 1. Oktober 2010 eine ganze
Rente zu. Sodann wies es die Sache zur Festsetzung der Rentenhöhe an die
Verwaltung zurück.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Verfügung vom 2.
Oktober 2012 zu bestätigen.
Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Beschwerde und beantragt die
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (im Sinne der Kostenbefreiung und
der unentgeltlichen Verbeiständung). Das Bundesamt für Sozialversicherungen
lässt sich nicht vernehmen.

D. 
Mit Verfügung vom 25. Juni 2015 gab das Bundesgericht dem Beschwerdegegner
Gelegenheit, aufgrund des Grundsatzurteils BGE 141 V 281 im Bereich der
invalidenversicherungsrechtlichen Rechtsprechung zu den anhaltenden
somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbaren psychosomatischen Leiden in
der vorliegenden Streitsache allfällige Ergänzungen anzubringen. Der
Beschwerdegegner liess sich mit Eingabe vom 18. August 2015 vernehmen.

Erwägungen:

1. 
Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids weist die Sache zur Festlegung
der Rentenhöhe an die IV-Stelle zurück. Formell handelt es sich demnach um
einen Rückweisungsentscheid. Dient die Rückweisung indessen nur noch der
Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten und verbleibt der unteren Instanz
somit kein Entscheidungsspielraum mehr, handelt es sich materiell nicht - wie
bei Rückweisungsentscheiden sonst grundsätzlich der Fall - um einen
Zwischenentscheid, der bloss unter den Voraussetzungen der Art. 92 oder 93 BGG
beim Bundesgericht anfechtbar wäre, sondern um einen Endentscheid im Sinne von
Art. 90 BGG (BGE 135 V 141 E. 1.1 S. 143 mit Hinweis). So verhält es sich hier,
nachdem das kantonale Gericht die Streitfrage nach dem Anspruch auf eine
Invalidenrente abschliessend entschieden hat. Auf die Beschwerde ist
einzutreten.

2. 
Kognitionsrechtlich entfällt die Bindung des Bundesgerichts an den
vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt gemäss Art. 105 Abs. 1 BGG. Denn
durch die Anwendung der Grundsätze gemäss BGE 141 V 281 werden Umstände
rechtlich bedeutsam, welche die Vorinstanz aufgrund der zum Zeitpunkt ihrer
Entscheidung geltenden Praxis nicht festzustellen bzw. zu würdigen brauchte (
BGE 136 V 362 E. 4.1 S. 366 f.).

3.

3.1. Mit BGE 141 V 281 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu den
Voraussetzungen, unter denen anhaltende somatoforme Schmerzstörungen und
vergleichbare psychosomatische Leiden eine rentenbegründende Invalidität zu
bewirken vermögen, grundlegend überdacht und teilweise geändert. Es ist -
soweit psychosomatische Leiden zu beurteilen sind (E. 5.2 hiernach) - deshalb
zu prüfen, welche Auswirkungen sich dadurch auf den hier zu beurteilenden Fall
ergeben (zur Anwendbarkeit einer Rechtsprechungsänderung auf laufende
Verfahren: BGE 137 V 210 E. 6 in initio S. 266). Die geänderte Rechtsprechung
bedeutet indes nicht, dass nach altem Verfahrensstandard eingeholte Gutachten
per se ihren Beweiswert verlören. Vielmehr ist im Rahmen einer gesamthaften
Prüfung des Einzelfalls mit seinen spezifischen Gegebenheiten und den erhobenen
Rügen entscheidend, ob ein abschliessendes Abstellen auf die vorhandenen
Beweisgrundlagen vor Bundesrecht standhält (BGE 141 V 281 E. 8 S. 309).

3.2. Es steht aufgrund des MEDAS-Gutachtens vom 14. Juni 2012 fest und ist
unbestritten, dass dem Beschwerdegegner aus somatischer Sicht leichte bis
höchstens mittelschwere Tätigkeiten ohne hohe Anforderungen an die Sehfähigkeit
vollschichtig zumutbar sind. Im Streit liegt einzig der psychische
Gesundheitszustand und die daraus allenfalls resultierende Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit.

4.

4.1. Nach wie vor kann eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit nur
anspruchserheblich sein, wenn sie Folge einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist,
die fachärztlich einwandfrei diagnostiziert worden ist (BGE 141 V 281 E. 2.1 S.
285 mit Hinweis auf BGE 130 V 396).

4.2. Obwohl die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.40), auch bisher zunächst
eine fachärztlich (psychiatrisch) gestellte Diagnose nach einem
wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystem vorausgesetzt hat (BGE 131 V
49 E. 1.2 S. 50), fokussierte die Anspruchsklärung vor allem auf die Anwendung
des Kriterienkatalogs, somit auf die Beurteilung der funktionellen Auswirkungen
des Leidens. Die Frage, ob die Schmerzstörung als Gesundheitsbeeinträchtigung
überhaupt sachgerecht festgestellt worden ist, wurde demgegenüber in der
Versicherungspraxis oft kaum beachtet, und die Diagnose einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung fand meistens ohne ausreichenden Bezug auf die
funktionserhebliche Befundlage Eingang in ärztliche Berichte und Gutachten. Im
Rahmen der geänderten Rechtsprechung sollen nun die Sachverständigen die
Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung so begründen, dass die
Rechtsanwender nachvollziehen können, ob die klassifikatorischen Vorgaben
tatsächlich eingehalten sind (BGE 141 V 281 E. 2.1.1 S. 285 f. mit Hinweisen).

5.

5.1. Das kantonale Gericht stellte fest, beim Beschwerdegegner sei in
psychischer Hinsicht von einer mittelgradigen depressiven Störung mit
somatischem Syndrom (F32.11) und einer chronischen Schmerzstörung mit
psychischen und körperlichen Faktoren (F45.41) auszugehen. Daraus leitete die
Vorinstanz - nach Diskussion der Kriterien gemäss bisheriger
Überwindbarkeitsrechtsprechung - eine 70 %ige Arbeitsunfähigkeit für die
zuletzt ausgeübte sowie für eine adaptierte Tätigkeit ab.

5.2. Bevor das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen des Beschwerdegegners
anhand eines strukturierten, normativen Prüfrasters beurteilt werden kann (vgl.
BGE 141 V 281 E. 3.6 S. 294 f.), stellt sich die Frage, ob die anhaltende
Schmerzstörung als Gesundheitsbeeinträchtigung sachgerecht im Sinne von E.
2.1.1 des erwähnten Grundsatzurteils diagnostiziert worden ist (vgl. E. 4.2
hievor) :

5.2.1. Die vorherrschende Beschwerde bei einer anhaltenden Schmerzstörung
(F45.4) ist ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen
physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht hinreichend erklärt
werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder
psychosozialen Problemen auf, die schwerwiegend genug sein sollten, um als
entscheidende ursächliche Einflüsse zu gelten. Die Folge ist gewöhnlich eine
beträchtliche persönliche oder medizinische Betreuung oder Zuwendung
(Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische Leitlinien, Dilling/
Mombour/Schmidt [Hrsg.], 10. Aufl. 2015, Ziff. F45.4 S. 233).

5.2.2. Die Diagnose einer chronischen Schmerzstörung wurde beim
Beschwerdegegner - abgesehen von nicht näher begründeten Verdachtsdiagnosen
(bspw. Bericht der Abteilung Rheumatologie des Spitals C.________ vom 15. Juni
2010; Bericht des Dr. med. D.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
und Tropen- und Reisemedizin FMH, vom 29. Juni 2010) - erstmals im
MEDAS-Gutachten vom 14. Juni 2012 gestellt. Der psychiatrische Experte führte
aus, nebst der depressiven Störung gehe er aufgrund der polydisziplinären
Besprechung davon aus, dass ein mindestens sechsmonatiger Schmerz bestehe.
Dieser könne weder physiologisch noch körperlich vollständig erklärt werden.
Der Schmerz werde nicht vorgetäuscht und führe zu einem Leiden in verschiedenen
Funktionsbereichen. Hintergrund dieser Störung seien eine sehr schwierige
Lebensgeschichte, soziokulturelle Entwurzelung, fehlende Familie, fehlende
Sprachkenntnisse und die prekäre finanzielle Situation. Zur Frage nach
"Handicaps und erhaltenen Funktionen oder Ressourcen" legte der Experte dar,
der Beschwerdegegner zeige zur Zeit ein deutlich regressives Verhalten, indem
er sich völlig zurückziehe, sich von seiner Umgebung abschotte und am liebsten
alleine sei. Andererseits sei er auf die Hilfe seiner Frau angewiesen, was für
ihn zu einem Konflikt führe. Daneben seien die soziokulturelle Entwurzelung und
die sprachlichen Schwierigkeiten deutliche Handicaps für einen Wiedereinstieg
in den Arbeitsprozess.
Wie den wiedergegebenen Ausführungen entnommen werden kann, setzte sich der
psychiatrische Experte mit den diagnostischen Kriterien der anhaltenden
Schmerzstörung nur teilweise und bloss summarisch auseinander. Insbesondere
findet sich in der Expertise kein ausreichender Bezug auf die
funktionserhebliche Befundlage. Zwar postulierte der psychiatrische Gutachter
wegen der Schmerzen ein "Leiden in verschiedenen Funktionsbereichen". Welche
Bereiche vom Leiden betroffen sind und welcher Art das "Leiden" ist, bleibt
indes gänzlich im Dunkeln. Mit anderen Worten legte der Experte nirgends dar,
ob bzw. gegebenenfalls welche funktionellen Beeinträchtigungen im Einzelnen
durch die Schmerzstörung resultieren und die Arbeitsfähigkeit einschränken.
Solches ist auch mit Blick auf die geschilderten Handicaps, deren Ursache nicht
diskutiert wird - u.a. bleibt unbeantwortet, ob das beschriebene
Rückzugsverhalten überhaupt krankheitsbedingt ist -, nicht ersichtlich. Damit
fehlt es an einer rechtsgenüglichen, für den Rechtsanwender nachvollziehbaren
Auseinandersetzung mit den klassifikatorischen Vorgaben gemäss ICD-10 Ziff.
45.4 bzw. einer fachärztlich einwandfrei diagnostizierten
Gesundheitsbeeinträchtigung. Eine solche ist jedoch - unter der Voraussetzung,
dass kein Ausschlussgrund gegeben ist (vgl. BGE 141 V 281 E. 2.2.1 S. 287 f.;
Urteile 9C_899/2014 und 9C_173/2015 vom 29. Juni 2015) - Bedingung für eine
Einschätzung der daraus fliessenden funktionellen Folgen und damit der
Arbeitsfähigkeit (E. 4.1 hievor; vgl. auch Urteil 9C_862/2014 vom 17. September
2015 E. 4.2.3 und 4.3).
Bei diesem Ergebnis (vgl. E. 5.3 sogleich) braucht die Frage nicht geklärt zu
werden, ob der ebenfalls gestellten Diagnose einer mittelgradigen depressiven
Störung mit somatischem Syndrom invalidisierende Wirkung zuzuerkennen ist.

5.3. Nach dem Gesagten hält der angefochtene Entscheid, welcher auf das
MEDAS-Gutachten vom 14. Juni 2012 abstellt, vor Bundesrecht nicht stand und ist
aufzuheben. Die Sache ist an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
zurückzuweisen, damit diese eine neue psychiatrische Begutachtung veranlasse
und hiernach über den Leistungsanspruch neu entscheide.

6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner grundsätzlich
die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Er
hat der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage
ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).
Weil die Rückweisung der Sache zu erneuter Abklärung für die Frage der
Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als
vollständiges Obsiegen gilt (BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312), bedarf der
angefochtene Entscheid im Kostenpunkt (Dispositiv-Ziffer 2 und 3) keiner
Korrektur.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Oktober 2014 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 2. Oktober 2012 werden
aufgehoben. Die Sache wird zum Vorgehen im Sinne der Erwägungen und neuer
Verfügung an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. Im Übrigen
wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokatin
Karin Wüthrich wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'400.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Oktober 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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