Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 755/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_755/2014        
{T 0/2}

Urteil vom 13. Mai 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.A.________,
handelnd durch B.A.________,
und dieser vertreten durch Integration Handicap,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 5. September 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die am 22. Mai 1995 geborene A.A.________ bezieht wegen einer seit Geburt
bestehenden schweren Mehrfachbehinderung u.a. eine Hilflosenentschädigung
(Hilflosigkeit schweren Grades) der Invalidenversicherung; bis zu ihrer
Volljährigkeit wurde ihr dazu ein Intensivpflegezuschlag (Betreuungsaufwand von
über acht Stunden pro Tag) ausgerichtet. Im Januar 2013 ersuchte ihr Vater für
sie um einen Assistenzbeitrag. Nach Abklärungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung
vom 12. Juni 2013 einen Assistenzbeitrag von monatlich durchschnittlich Fr.
7'242.70 und jährlich maximal Fr. 79'669.70 ab 21. Januar 2013 zu.

B. 
Mit Entscheid vom 5. September 2014 hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich die dagegen erhobene Beschwerde gut und änderte die Verfügung
vom 12. Juni 2013 insofern ab, als es der Versicherten einen zusätzlichen
Assistenzbeitrag für die Überwachung während des Tages im Umfang von 120 (statt
30) Stunden monatlich ab 1. Januar 2013 zusprach.

C. 
Die IV-Stelle beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten die Aufhebung des Entscheids vom 5. September 2014.

A.A.________ schliesst auf Abweisung des Rechtsmittels, das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) auf dessen Gutheissung. A.A.________ lässt eine
weitere Eingabe einreichen.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 

2.1. Anspruch auf einen Assistenzbeitrag haben Versicherte, denen eine
Hilflosenentschädigung der IV nach Artikel 42 Absätze 1-4 ausgerichtet wird,
die zu Hause leben und volljährig sind (Art. 42 ^quater Abs.1 IVG).
Minderjährige Versicherte haben unter den gleichen Voraussetzungen Anspruch auf
einen Assistenzbeitrag, wenn sie zusätzlich entweder (a) regelmässig die
obligatorische Schule in einer Regelklasse besuchen, eine Berufsausbildung auf
dem regulären Arbeitsmarkt oder eine andere Ausbildung auf Sekundarstufe II
absolvieren, (b) während mindestens 10 Stunden pro Woche eine Erwerbstätigkeit
auf dem regulären Arbeitsmarkt ausüben oder (c) einen Intensivpflegezuschlag
für einen Pflege- und Überwachungsbedarf nach Artikel 42ter Absatz 3 IVG von
mindestens 6 Stunden pro Tag erhalten (Art. 39a IVV in Verbindung mit Art.
42quater Abs. 3 IVG).

Ein Assistenzbeitrag wird gewährt für Hilfeleistungen, die von der versicherten
Person benötigt und regelmässig von einer natürlichen Person (Assistenzperson)
unter bestimmten Voraussetzungen erbracht werden (Art. 42 ^quinquies IVG).

2.2. Nach Art. 39c IVV (SR 831.201) kann u.a. in den folgenden Bereichen
Hilfebedarf anerkannt werden: (a) alltägliche Lebensverrichtungen; (b)
Haushaltsführung; (c) gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung; (h)
Überwachung während des Tages; (i) Nachtdienst.

Die Überwachung nach Artikel 39c Buchstabe h ist auf 120 Stunden limitiert
(Art. 39e Abs. 2 lit. c IVV).

3. 
Die Verwaltung traf am 14. März 2013 Abklärungen vor Ort und erstattete dazu
den mit dem standardisierten Abklärungsinstrument "FAKT2" (nachfolgend: FAKT2)
erstellten Abklärungsbericht Assistenzbeitrag. Gestützt darauf sprach sie der
Versicherten einen Assistenzbeitrag von monatlich durchschnittlich Fr. 7'242.70
und jährlich maximal Fr. 79'669.70 ab 21. Januar 2013 zu. Dabei berücksichtigte
sie für die Überwachung am Tag eine Hilfebedarf der Stufe 2, was 60 Minuten pro
Tag resp. 30 Stunden pro Monat entspricht.

Die Vorinstanz hat davon abweichend einen Bedarf an persönlicher Überwachung
während des Tages in der Höhe des Maximalansatzes von monatlich 120 Stunden für
ausgewiesen erachtet. Das ergibt bei einem Pauschalansatz von Fr. 32.80 resp.
32.90 pro Stunde (Art. 39f Abs. 1 IVV in der vom 1. Januar 2013 bis 31.
Dezember 2014 resp. seit 1. Januar 2015 geltenden Fassung) einen zusätzlichen
Assistenzbeitrag von monatlich Fr. 2'952.- resp. Fr. 2'961.-.

Umstritten ist einzig der Umfang des Hilfebedarfs für die persönliche
Überwachung während des Tages.

4. 

4.1.

4.1.1. Das Bundesgericht hat in E. 5.2.1 des Urteils 9C_598/2014 und 9C_664/
2014 vom 21. April 2015 bestätigt, dass für den Assistenzbedarf im Bereich
"Überwachung während des Tages" die Grundsätze zur "dauernden persönlichen
Überwachung" im Rahmen der Hilflosenentschädigung gelten (vgl. BGE 140 V 543 E.
3.2.2.3 S. 548). Danach ist insbesondere relevant, dass sich die Überwachung
nicht bloss in reiner Präsenz einer Überwachungsperson erschöpft, sondern mit
aktiven Handlungen verbunden ist.

4.1.2. Rechtsfrage ist die richtige Auslegung und Anwendung des Rechtsbegriffs
der "dauernden persönlichen Überwachung" resp. der "Überwachung während des
Tages", das heisst, welche Tatbestandselemente erfüllt sein müssen, damit eine
Überwachungsbedürftigkeit zu bejahen ist. Tatfrage ist hingegen, ob - und
gegebenenfalls in welchem Umfang - sich ein Sachverhalt verwirklicht hat, der
unter diese Tatbestandselemente fällt (Urteile 9C_598/2014 und 9C_664/2014 vom
21. April 2015 E. 5.2.2; 8C_838/2011 vom 20. März 2012 E. 1.2; 9C_595/2011 vom
17. Februar 2012 E. 3.4).

4.2. In Anhang 3 zum Kreisschreiben des BSV über den Assistenzbeitrag (KSAB,
www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:34/lang:deu; umgesetzt in
FAKT2 Ziff. 8) werden die vier Stufen des Hilfebedarfs wie folgt konkretisiert:
Stufe 1: punktuell, 30 Minuten/Tag; Stufe 2: stündlich, 60 Minuten/Tag; Stufe
3: jede Viertelstunde 1:4-Überwachung, 120 Minuten/Tag; Stufe 4: permanente
1:1-Überwachung, 240 Minuten/Tag.

4.3. Soweit die Vorinstanz die Rechtsauffassung vertritt, der
Überwachungsbedarf lasse sich nicht abstufen, ist ihr nicht beizupflichten: Ist
lediglich eine aktive Überwachung rechtlich relevant, kann auch deren Dauer
variieren (vgl. E. 4.1.1). Somit machen die zeitlichen Vorgaben in FAKT2 resp.
Anhang 3 zum KSAB (E. 4.2), die auf einem wissenschaftlich begleiteten
Pilotversuch beruhen und den durchschnittlichen Aufwand für die entsprechenden
Hilfeleistungen wiedergeben (BGE 140 V 543 E. 3.2.2.3 S. 549), durchaus Sinn
(Urteil 9C_598/2014 und 9C_664/2014 vom 21. April 2015 E. 5.2.6).

4.4.

4.4.1. Diese Vorgabe ändert indessen nichts daran, dass das kantonale Gericht
unter Verweis auf die medizinischen Akten festgestellt hat, neben der
aufwendigen Pflege bedürfe die Versicherte einer andauernden Überwachung, die
über eine reine Präsenzzeit hinausgehe. Nötig sei eine aktive Überwachung vor
allem der Epilepsie, so dass im Bedarfsfall unverzüglich gehandelt werden
könne. Fehlende Überwachung könne gesundheitsgefährdende Folgen haben; die
Versicherte sei nicht in der Lage, sich selber zu helfen oder Hilfe zu
organisieren. Bei einer täglichen Aktivitätsdauer von 16 Stunden und der
Anwesenheit einer Assistenzperson während rund acht Stunden verbleibe ein
Bedarf an reiner Überwachung von rund acht Stunden, d.h. monatlich rund 243
Stunden.
Angesichts der Schwere der Behinderung, so würdigte darauf hin die Vorinstanz,
sei es gerechtfertigt, den Höchstbetrag nach Art. 39e Abs. 2 lit. c IVV (E.
2.2) von monatlich 120 Stunden zu berücksichtigen.

4.4.2. Dass diese Feststellungen offensichtlich unrichtig (unhaltbar,
willkürlich: BGE 135 II 145 E. 8.1 S. 153; Urteil 9C_607/2012 vom 17. April
2013 E. 5.2) sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen, ist nicht
ersichtlich und wird auch nicht (substanziiert) geltend gemacht. Sie bleiben
für das Bundesgericht verbindlich (E. 1). Daran ändert weder der Hinweis der
IV-Stelle auf den Abklärungsbericht Assistenzbeitrag noch jener des BSV auf den
Abklärungsbericht für Hilflosenentschädigung für Minderjährige und
Intensivpflegezuschlag vom 21. September 2011 etwas: Die Abklärungsperson hielt
zur Überwachung unter Ziff. 8.1 des Abklärungsberichts Assistenzbeitrag
Folgendes fest: "Versicherte hat in der Woche 4-5 Grandmal Anfälle sowie 8
mittlere epileptische Anfälle (tonisch). Zusätzlich hat sie täglich kleinere
epileptische Anfälle sowie Absenzen. Aspirationsgefahr - Absaugegerät sowie
auch der Sauerstoff sind immer in Griffnähe." Ein in FAKT2 für einen Bedarf der
Stufe 2 hinterlegter Vergleichstatbestand lautet folgendermassen: "Die
versicherte Person muss während täglich 1-2 Epilepsieanfällen überwacht werden,
es ist zumindest stündlich eine Kontrolle notwendig." Diese Formulierung
schliesst nicht aus, dass im konkreten Fall eine engmaschigere Überwachung
erforderlich ist.

Dies hatte denn auch die IV-Stelle selber so gesehen, als sie im
Abklärungsbericht vom 21. September 2011 - den sie als Grundlage der
Kostengutsprache für Kinderspitex vom 21. September 2011 einholte - u.a. eine
"intensive Überwachung" von täglich zwei Stunden anerkannte. Das kantonale
Gericht ist indessen auch an diese Limitierung nicht gebunden (vgl. BGE 140 V
543 E. 3.4.4 S. 553 und Urteil 9C_598/2014 und 9C_664/2014 vom 21. April 2015
E. 5.5.3), zumal die IV-Stelle bei einem eruierten Mehraufwand von täglich 10
Stunden und 16 Minuten ohnehin den maximalen Intensivpflegezuschlag gewährte
und lediglich Spitexeinsätze von 18 Stunden pro Woche übernahm. Die
medizinischen Unterlagen (vgl. insbesondere die ärztliche Verordnung des
Kinderarztes Dr. med. B.________ vom 3. September 2012, worin u.a. "vitale
Funktionen", "Sauerstoffgabe", "Absaugen bei Sekretproblemen" und
"Epilepsieüberwachung/-therapie" als "Überwachungskriterien" genannt wurden)
lassen den vorinstanzlichen Schluss zu, dass auch eine Überwachung der Stufe 3
nicht ausreicht (vgl. Urteil 9C_598/2014 und 9C_664/2014 vom 21. April 2015 E.
5.2.6 Abs. 3). Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Mai 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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