Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 738/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_738/2014

Urteil vom 23. Dezember 2014

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
Ausgleichskasse Promea,
Ifangstrasse 8, 8952 Schlieren,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Christos Antoniadis,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung (Rückerstattung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
9. September 2014.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________, geboren 1952, war seit 1971 mit B.________ verheiratet. Sie
ist Mutter eines 1971 geborenen Kindes. Im Januar 1976 wurde die Ehe geschieden
und am 31. Oktober 1984 verstarb B.________. Am 8. März 1985 meldete sich
A.________ bei der Eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
zum Bezug von Hinterlassenenrenten an. Mit Verfügung vom 14. Juni 1985 wurde
ihr von der Ausgleichskasse Engros-Möbel ab dem 1. November 1984 eine
Witwenrente zugesprochen.

A.b. Als im Jahr 2011 die Ausgleichskasse PROMEA (Rechtsnachfolgerin der
Ausgleichskasse Engros-Möbel; nachfolgend: Ausgleichskasse) im Zuge einer
Abgleichung der Zivilstandsdaten vom Bundesamt für Sozialversicherungen
aufgefordert wurde, den Zivilstand von A.________ zu überprüfen, erkannte
diese, dass der Versicherten zu Unrecht eine Witwenrente zugesprochen und
ausgerichtet worden war, weil die Ehe weniger als zehn Jahre gedauert hatte.
Mit Verfügung vom 10. November 2011 forderte die Ausgleichskasse für den
Zeitraum vom 1. Dezember 2006 bis 30. November 2011 Witwenrenten der AHV in der
Höhe von insgesamt Fr. 108'344.- zurück. Die dagegen erhobene Einsprache wies
sie mit Entscheid vom 9. April 2013 ab.

B. 
Die dagegen gerichtete Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 9. September 2014 gut. Es hob den Entscheid vom 9.
April 2013 und die Verfügung vom 10. November 2011 auf und hielt fest, es fehle
an einer Voraussetzung für eine Rückforderung, weil die ursprüngliche
Leistungsverfügung nicht förmlich aufgehoben worden sei.

C. 
Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.
Sie beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides. Die Sache sei zur
materiellen Beurteilung der Rückerstattungsforderung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.
A.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Vorinstanz und das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Unter dem Titel Revision und Wiedererwägung regelt Art. 53 ATSG, dass
formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide in Revision gezogen
werden müssen, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach
deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet,
deren Beibringung zuvor nicht möglich war (Abs. 1). Der Versicherungsträger
kann auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide
zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung
von erheblicher Bedeutung ist (Abs. 2).

1.2. Gemäss Art. 25 ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen
zurückzuerstatten (Abs. 1 Satz 1). Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem
Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis
erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der
Entrichtung der einzelnen Leistung (Abs. 2 Satz 1).

2.

2.1. Die Vorinstanz erwog, vorliegend habe die Ausgleichskasse mit Verfügung
vom 14. Juni 1985 der Versicherten rückwirkend auf den 1. November 1984 eine
Witwenrente zugesprochen. Mit Verfügung vom 10. November 2011 und
Einspracheentscheid vom 9. April 2013 habe sie eine Rückerstattungsforderung im
Betrag von Fr. 108'344.- geltend gemacht. Eine rechtskräftige Wiedererwägung
bzw. Revision der ursprünglichen Verfügung liege jedoch nicht vor. Damit sei
die Unrechtmässigkeit des Bezugs der Witwenrente bisher nicht festgestellt
worden. Dies sei jedoch Voraussetzung für den Entscheid über die
Rückerstattung. Das Erfordernis, die Leistungsverfügung formell aufzuheben,
stelle ausserdem sicher, dass die in Art. 53 ATSG dafür statuierten
Voraussetzungen geprüft würden.

2.2. Die Beschwerdeführerin rügt die vorinstanzliche Betrachtungsweise als zu
formalistisch. Zwar sei der Vorinstanz darin zuzustimmen, dass die
Rückforderung logisch zwei Schritte beinhalte, nämlich die Aufhebung der
Leistungszusprechung sowie den Entscheid über die Rückerstattung. Eine
Rückforderungsverfügung, aus der klar hervorgehe, dass die ursprünglich
verfügte Leistungszusprechung zweifellos unrichtig war und eine Berichtigung
von erheblicher Bedeutung sei, enthalte aber diese beiden Schritte. Eine
zusätzliche förmliche Leistungsaufhebung zu verlangen, bedeute eine
ungerechtfertigte Formenstrenge. Zweck der Begründungspflicht einer Verfügung
nach Art. 49 Abs. 3 ATSG sei es, sicherzustellen, dass die betroffene Person
die Verfügung sachgerecht anfechten könne. Es bestehe kein Zweifel, dass die
Beschwerdegegnerin gestützt auf die Angaben wusste, wie sie sich gegen die
Rückforderung sachgerecht zur Wehr setzen konnte. Mit Art. 53 ATSG sei keine
neue materiellrechtliche Regelung erfolgt, sondern lediglich die bisherige
gefestigte Rechtsprechung gesetzlich verankert worden.

2.3. Die Beschwerdegegnerin hält dagegen, ein überspitzter Formalismus liege
nicht vor. Es handle sich insbesondere nicht um eine rigorose Formvorschrift,
wenn in einer Rückerstattungsverfügung, welche gleichzeitig eine
Wiedererwägungsverfügung darstellen solle, der Art. 53 Abs. 2 ATSG genannt und
sein Inhalt dargelegt werden soll.

3. 
Die Auffassung der Vorinstanz ist überspitzt formalistisch. Mit der
Rückerstattungsverfügung geht  uno actueine Wiedererwägung oder prozessuale
Revision einher. Darin liegt der tatsächliche rechtliche Gehalt des
Verwaltungsaktes, auf den es rechtsprechungsgemäss ankommt (Urteil I 739/02 vom
13. Mai 2003 E. 3.2 mit Hinweisen). Zu verlangen, dass vorgängig der
Rückerstattung eine separate Verfügung über die Wiedererwägung oder prozessuale
Revision ergehen müsse, verdient keinen Rechtsschutz. Im Übrigen läge darin im
Bereich der rückwirkenden Leistungsanpassung eine unzulässige
Feststellungsverfügung (Urteil 9C_143/2012 vom 22. März 2012 E. 4.2).
Entscheidend ist allein, dass der Rückkommenstitel aus der
Rückerstattungsverfügung klar hervorgeht. Das ist hier in Bezug auf die
zweifellose Unrichtigkeit der Fall, da die Witwenrente trotz einer Ehedauer von
weniger als zehn Jahren irrtümlich zugesprochen worden war. Die zweite
Wiedererwägungsvoraussetzung der erheblichen Bedeutung der Berichtigung (Art.
53 Abs. 2 ATSG) bedarf bei einem unrechtmässigen Leistungsbezug von über Fr.
100'000.- keiner Begründung.

4. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der
unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in
Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 9. September 2014 aufgehoben. Die Sache wird zur
materiellen Entscheidung über die verfügte Rückerstattung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. Dezember 2014

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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