Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 691/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_691/2014        
{T 0/2}

Urteil vom 11. Dezember 2014

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Sabine Furthmann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 13. August 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1950, bezieht seit September 1989 eine halbe und seit Mai
1993 eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Nachdem ihr erstes Gesuch um
Hilflosenentschädigung im November 2004 abgelehnt und auf ein zweites im
Dezember 2005 nicht eingetreten worden war, bejahte die IV-Stelle des Kantons
Zürich mit Verfügung vom 28. September 2006 den Anspruch auf eine Entschädigung
wegen leichter Hilflosigkeit ab März 2005.

Der behandelnde Psychiater Dr. B.________ beantragte im Juni 2012 namens der
Versicherten eine Erhöhung der Hilflosenentschädigung. Die IV-Stelle führte bei
dieser vor Ort eine Abklärung für Hilflosenentschädigung durch (Bericht vom 18.
Juni 2013) und lehnte das Erhöhungsgesuch in der Folge mit Verfügung vom 18.
Juni 2013 ab.

B. 
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 13. August 2014 ab.

C. 
A.________ führt hiegegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Antrag auf Zusprechung einer Entschädigung wegen Hilflosigkeit
mittelschweren Grades.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente
noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann unter Berücksichtigung
der den Parteien obliegenden Begründungs- resp. Rügepflicht eine Beschwerde aus
einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 137 II 313
E. 1.4 S. 317 f.; 134 V 250 E. 1.2 S. 252; je mit Hinweisen).

2.

2.1. Die Vorinstanz hat - teilweise unter Verweis auf die im kantonalen
Verfahren angefochtene Verfügung vom 18. Juni 2013 - die gesetzlichen
Bestimmungen und von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, namentlich
diejenigen zum Anspruch auf Hilflosenentschädigung (Art. 9 ATSG [SR 830.1];
Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 37 IVV [SR 831.201]), zu den massgebenden sechs
alltäglichen Lebensverrichtungen (u.a. Aufstehen, Absitzen, Abliegen;
Körperpflege) sowie zum Tatbestand der lebenspraktischen Begleitung (Art. 42
Abs. 3 IVG; Art. 37 Abs. 3 lit. e und Art. 38 IVV; BGE 133 V 450) zutreffend
dargelegt. Gleiches gilt in Bezug auf die bei einer Neuanmeldung der
versicherten Person analog zur Rentenrevision anwendbaren Regeln (Art. 17 Abs.
1 ATSG; Art. 87 Abs. 2 f. IVV; BGE 133 V 108). Darauf wird verwiesen.

2.2. Zu ergänzen ist, dass die lebenspraktische Begleitung
rechtsprechungsgemäss weder die (direkte oder indirekte) "Dritthilfe bei den
sechs alltäglichen Lebensverrichtungen" noch die Pflege oder Überwachung
beinhaltet. Vielmehr stellt sie ein zusätzliches und eigenständiges Institut
der Hilfe dar (BGE 133 V 450; SVR 2009 IV Nr. 23 S. 65, 9C_18/2008 E. 2.3). Die
lebenspraktische Begleitung ist dabei nicht auf Menschen mit psychischen oder
geistigen Behinderungen beschränkt; auch körperlich Behinderte können
grundsätzlich lebenspraktische Begleitung beanspruchen (SVR 2008 IV Nr. 26 S.
79, I 317/06 E. 4). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist sodann die
vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) vorgenommene Konkretisierung der
Anwendungsfälle der lebenspraktischen Begleitung in den Rz. 8050-8052 des
Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung
(KSIH, in der bis Ende 2007 gültig gewesenen und bis heute inhaltlich
unveränderten Fassung) grundsätzlich sachlich gerechtfertigt und damit
gesetzes- und verordnungskonform (BGE 133 V 450 E. 9 S. 466; SVR 2008 IV Nr. 17
S. 49, I 677/05 E. 4.2.1).

2.3. Die richtige Auslegung und Anwendung des Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit,
die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach
Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG sowie der Anforderungen an den
Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S.
352) und vor Ort durchgeführter Abklärungsberichte beschlagen Rechtsfragen, die
vom Bundesgericht frei zu prüfen sind (Art. 95 lit. a BGG). Die auf einen
rechtsgenüglichen derartigen Abklärungsbericht gestützten Feststellungen über
Einschränkungen in bestimmten Lebensverrichtungen sind demgegenüber - analog zu
den medizinischen Angaben über gesundheitliche Beeinträchtigungen bzw. über das
noch vorhandene funktionelle Leistungsvermögen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398) -
Sachverhaltsfeststellungen. Die Ergebnisse der Beweiswürdigung im Allgemeinen
sind ebenfalls tatsächlicher Natur (SVR 2011 IV Nr. 11 S. 29, 9C_410/2009 E.
3).

3. 
Unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin nach wie vor dauernd auf
lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Einigkeit besteht weiter in Bezug
darauf, dass sie in der Lebensverrichtung "Körperpflege" seit März 2012
regelmässig in erheblicher Weise der Dritthilfe bedarf.

Streitig ist demgegenüber, ob die Beschwerdeführerin eine
Hilflosenentschädigung wegen mittelschwerer Hilflosigkeit beanspruchen kann,
weil sie zusätzlich in der Lebensverrichtung "Aufstehen, Absitzen, Abliegen"
regelmässige Dritthilfe benötigt. Dabei ist insbesondere die Frage zu klären,
ob das morgendliche Motivieren zum Aufstehen unter die lebenspraktische
Begleitung zu subsumieren ist (so die Vorinstanz) oder ob diese Hilfeleistung
der Lebensverrichtung "Aufstehen, Absitzen, Abliegen" zuzuordnen ist (wie die
Versicherte geltend macht).

4.

4.1. Die Beschwerdeführerin betont zu Recht die Eigenständigkeit des Instituts
der lebenspraktischen Begleitung und macht zutreffend geltend, dass diese weder
die (direkte oder indirekte) Dritthilfe bei den sechs alltäglichen
Lebensverrichtungen noch die Pflege oder Überwachung beinhaltet (E. 2.2
hievor). Dies bedeutet indes nicht, dass jene Tätigkeiten, welche unter dem
Gesichtspunkt der Hilfsbedürftigkeit bei den sechs alltäglichen
Lebensverrichtungen relevant sind, grundsätzlich nicht Regelungsgegenstand des
Instituts der lebenspraktischen Begleitung sein können. Bereits der abstrakte
Vergleich der Umschreibung der sechs alltäglichen Lebensverrichtungen mit den
im KSIH genannten Anwendungsfällen lebenspraktischer Begleitung (Rz. 8050-8052
in der ab 1. Januar 2014 gültigen Fassung) erhellt, dass sich Überschneidungen
bei den beiden Instituten nicht verhindern lassen (vgl. dazu auch Urteil 9C_135
/2014 vom 14. Mai 2014 E. 4.3.1). Aufgrund dieser Überschneidungen wurden denn
auch Instrumente zur Abgrenzung geschaffen. So darf die benötigte, bereits
unter dem Gesichtspunkt der Hilfsbedürftigkeit bei den sechs alltäglichen
Lebensverrichtungen berücksichtigte Hilfe rechtsprechungsgemäss nicht
zusätzlich einen Anspruch auf lebenspraktische Begleitung begründen (Urteil
9C_782/2010 vom 10. März 2011 E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 133 V 450 E. 9 S.
466).

4.2. Rz. 8048 KSIH hält zudem Folgendes fest: Sofern zusätzlich zur
lebenspraktischen Begleitung auch die Hilfe bei der Teilfunktion einer
alltäglichen Lebensverrichtung benötigt wird (z.B. Hilfe bei der Pflege
gesellschaftlicher Kontakte), so darf die gleiche Hilfeleistung nur einmal -
d.h. entweder als Hilfe bei der Teilfunktion der alltäglichen Lebensverrichtung
oder als lebenspraktische Begleitung - berücksichtigt werden. Bei dieser
Regelung handelt es sich um eine Verwaltungsweisung. Solche richten sich an die
Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht
verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen,
sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der
anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht
ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende
Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem
Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche
Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 139 V 122 E. 3.3.4
S. 125; 138 V 346 E. 6.2 S. 362; 133 V 257 E. 3.2 S. 258, 587 E. 6.1 S. 591).

Rechtsprechungsgemäss können Hilfestellungen Dritter, derer eine versicherte
Person bei mehreren Lebensverrichtungen bedarf, grundsätzlich nur einmal
berücksichtigt werden. Bei der Zuordnung einer Hilfeleistung zu einer
bestimmten Lebensverrichtung hat eine funktional gesamtheitliche
Betrachtungsweise Platz zu greifen (Urteil 9C_839/2009 vom 4. Juni 2010 E. 3.3
mit Hinweis auf SVR 2004 AHV Nr. 19, H 150/03, E. 5.3.2; Meyer/Reichmuth,
Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in: Stauffer/Cardinaux
[Hrsg.], Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, 3.
Aufl. 2014, S. 499 N. 27 zu den Art. 42-42 ter IVG). Es sind keine Gründe
ersichtlich, weshalb diese Regelung nicht auch institutsübergreifend gelten
sollte, wenn eine Einschränkung zum einen den Anspruch auf lebenspraktische
Begleitung auslösen, zum anderen aber auch bei der Beurteilung der
Hilflosigkeit in den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen ins Gewicht fallen
kann. Die in Rz. 8048 KSIH vorgenommene Abgrenzung ist folglich sachlich
gerechtfertigt und damit gesetzes- und verordnungskonform.

5. 
Das Motivieren zum allmorgendlichen Aufstehen ist geradezu typischer
Bestandteil des Anfang 2004 eingeführten Instituts der lebenspraktischen
Begleitung. Wie sich dem Abklärungsbericht für Hilflosenentschädigung vom 12.
Juli 2006 entnehmen lässt, ist die Beschwerdeführerin, deren Fähigkeit zum
Aufstehen rein motorisch unbestrittenermassen nicht eingeschränkt ist, bereits
seit Jahren zwecks Strukturierung des Alltags auf lebenspraktische Begleitung
angewiesen und bezieht gestützt darauf eine Entschädigung wegen leichter
Hilflosigkeit. Bei einer funktional gesamtheitlichen Betrachtungsweise besteht
kein Anlass, das notwendige Motivieren zum morgendlichen Aufstehen trotz des
sachlich engen Zusammenhangs zur übrigen Tagesstrukturierung - insbesondere zum
erforderlichen Motivieren für andere Verrichtungen - aus der lebenspraktischen
Begleitung gleichsam auszuklammern und neu als indirekte Dritthilfe bei der
Lebensverrichtung "Aufstehen, Absitzen, Abliegen" zu berücksichtigen.

Wie das kantonale Gericht zu Recht ausgeführt hat, verfängt der Hinweis der
Beschwerdeführerin auf das Urteil I 227/96 vom 15. Oktober 1996 nicht. So wurde
im entsprechenden Urteil zwar das Angewiesensein auf Dritthilfe in der
Lebensverrichtung Aufstehen bei einem 18-jährigen Autisten bejaht, gerade weil
dieser am Morgen erst nach mehrmaligem Auffordern zum Aufstehen bewegt werden
konnte. Allerdings erging das entsprechende Urteil bevor das Institut der
lebenspraktischen Begleitung im Rahmen der 4. IV-Revision überhaupt eingeführt
wurde. Die im vorliegenden Verfahren zu klärenden Abgrenzungsfragen stellten
sich damals gerade nicht. Auch das von der Beschwerdeführerin angerufene Urteil
I 296/05 vom 29. Dezember 2005 äussert sich dazu nicht. Es weist in E. 2.2.2
einzig auf die grundsätzliche - hier nicht streitige - Möglichkeit hin, dass
Dritthilfe im Rahmen der Hilflosenentschädigung auch indirekt erfolgen könne,
etwa durch die Aufforderung, eine Lebensverrichtung vorzunehmen, welche die
versicherte Person wegen ihres psychischen Gesundheitszustandes ohne besondere
Aufforderung nicht vornehmen würde (BGE 133 V 450 E. 7.2 S. 462 f.; 121 V 88 E.
3c S. 91).

6. 
Nachdem die IV-Stelle der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 28. September
2006 zufolge Angewiesenseins auf lebenspraktische Begleitung rückwirkend ab 1.
März 2005 eine Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit zugesprochen hat und
zusätzlich lediglich eine seit März 2012 bestehende Hilfsbedürftigkeit in der
Lebensverrichtung "Körperpflege" anrechenbar ist, besteht keine
revisionsrelevante Veränderung. Die Beschwerdeführerin hat nach wie vor
Anspruch auf eine Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit.

7. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Dezember 2014

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Williner

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