Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 676/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_676/2014 {T 0/2}     

Urteil vom 2. April 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner,
Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch durch Andrea Mengis, Advokatin,
c/o Procap für Menschen mit Handicap,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,
(Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des
Kantonsgerichts Luzern vom 23. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ bezog ab 1. September 2000 eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung samt drei, seit 1. August 2001 zwei Kinderrenten. Nach
Ablehnung eines Rentenerhöhungsgesuchs (Verfügung vom 27. März 2006 und
Einspracheentscheid vom 24. November 2006) und Bestätigung des Rentenanspruchs
bei einem unveränderten Invaliditätsgrad von 47 % (Mitteilung vom 9. Juli
2009), leitete die IV-Stelle Luzern im Juli 2012 ein weiteres
Revisionsverfahren ein. U.a. gestützt auf den Abklärungsbericht Haushalt
vom         19. Februar 2013 hob sie mit Verfügung vom 25. April 2013 die
Viertelsrente auf Ende des folgenden Monats auf.

B. 
Die Beschwerde der A.________ wies das Kantonsgericht Luzern,    3. Abteilung,
mit Entscheid vom 23. Juli 2014 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 23. Juli 2014 sei aufzuheben und ihr weiterhin mindestens
eine Viertelsrente, spätestens ab 1. Januar 2013 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung auszurichten, unter Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.
Die IV-Stelle Luzern ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerdeführerin hat eine nach Erlass des angefochtenen Entscheids
ausgestellte Bestätigung der Sozialen Dienste der Stadt Luzern vom 26. August
2014 über den Bezug von wirtschaftlicher Sozialhilfe eingereicht. Dieses
Dokument, in welchem "Zur Information" angemerkt wird, dass sie eine
Arbeitsstelle zu 100 % antreten müsste, wenn sie gesund wäre, hat aufgrund des
Novenverbots (Art. 99 Abs. 1 BGG) sowie der Bindung des Bundesgerichts an den
vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG) und der
Beschränkung der Prüfung in tatsächlicher Hinsicht auf die in Art. 97 Abs. 1
und Art. 105 Abs. 2 BGG festgelegten Beschwerdegründe unbeachtet zu bleiben
(Urteil 9C_915/2012 vom 15. Mai 2013 E. 1 mit Hinweis).

2. 
Die vorinstanzlich bestätigte revisionsweise Aufhebung der Viertelsrente (Art.
17 Abs. 1 ATSG) auf Ende Mai 2013 (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV) durch die
Beschwerdegegnerin erfolgte in Anwendung der gemischten Methode der
Invaliditätsbemessung (Art. 28a Abs. 3 IVG; BGE 137 V 334 E. 3.1.3 und 3.2 S.
338) bei einem Anteil der Erwerbstätigkeit von 0,24 (entsprechend dem ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung geleisteten erwerblichen Arbeitspensum von 24
%; BGE 125 V 146 E. 2b S. 149). Daraus ergab sich ein nicht
anspruchsbegründender Invaliditätsgrad von 38 % (0,24 x 100 % + 0,76 x 18,92 %;
zum Runden BGE 130 V 121; Art. 28 Abs. 2 IVG). Die Einschränkung im
Aufgabenbereich Haushalt (18,92 %) entsprach dem Ergebnis der Abklärung vor Ort
(Bericht vom 19. Februar 2013).

3. 
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass die Voraussetzungen für eine
Rentenrevision gegeben sind und demzufolge der Invaliditätsgrad neu zu
ermitteln ist, wobei keine Bindung an die ursprüngliche Invaliditätsschätzung
besteht (Urteil 9C_412/2014 vom 20. Oktober 2014 E. 2.2 mit Hinweis). Dabei sei
jedoch nicht wie bei der ursprünglichen Rentenzusprechung gemäss Verfügung vom
6. Februar 2002 die gemischte Methode anwendbar, sondern die
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG; vgl. zum
Statuswechsel als Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG Urteil 8C_441
/2012 vom 25. Juli 2013 E. 3.3.1, in: SVR 2013 IV Nr. 44       S. 134; vgl.
auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 502/97 vom 8. März 1999 E. 3).
Nach der allgemeinen Lebenserfahrung würde sie im Gesundheitsfall mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit spätestens seit Oktober 2012 vollerwerbstätig
sein. Die Gründe dafür seien in der vorinstanzlichen Beschwerde detailliert
aufgezeigt worden. Das Kantonsgericht habe sich damit nicht auseinandergesetzt,
was eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. dazu Urteil 9C_
908/2012 vom 22. Februar 2013 E. 4.2) darstelle.

4.

4.1. Die Beschwerdeführerin brachte vor Vorinstanz vor, alle drei Kinder seien
erwachsen und wohnten seit Oktober 2012 nicht mehr zuhause. Bei der ersten
Abklärung vor Ort am 28. September 2001 hätten die beiden Söhne und die Tochter
noch im selben Haushalt gelebt. Es wäre ihr ohne gesundheitliche Probleme daher
durchaus möglich, eine vollschichtige Erwerbstätigkeit auszuüben. Dies wäre
insbesondere aus finanziellen Gründen unbedingt erforderlich, da ihr Ehemann
Ende ... ebenfalls einen Hirnschlag erlitten und seinerseits eine
Invalidenrente habe beantragen müssen. Die Angabe unter Ziff. 3.5 des
Abklärungsberichts vom 19. Februar 2013, wonach sie ohne Behinderung weiterhin
im selben Ausmass wie bei bei der ersten Erhebung nur ein Teilzeitpensum von 24
% ausüben würde, sei daher völlig unrealistisch. Darauf könne nicht abgestellt
werden, da sie sinngemäss keine solche Aussage gemacht habe. Abgesehen davon
würde sie von der Sozialhilfebehörde angewiesen, eine vollzeitliche Stelle zu
suchen, wenn ihr dies aus medizinischer Sicht zumutbar wäre. Schliesslich gebe
es für sie nach dem Auszug des letzten der drei Kinder im Oktober 2012 keinen
Aufgabenbereich mehr, der im Rahmen der Invaliditätsbemessung zu
berücksichtigen wäre. Vielmehr könnte sie den Zweipersonenhaushalt problemlos
auch neben einer vollen Erwerbstätigkeit bewältigen, wie dies tagtäglich in
anderen solchen Haushalten geschehe.

4.2. Das Kantonsgericht hat sich zwar nicht ausdrücklich zu jedem einzelnen in
der Beschwerde angeführten Umstand, der (auch) für eine Vollzeittätigkeit im
Gesundheitsfall sprechen könnte, geäussert. Aus seinen Erwägungen ergibt sich
jedoch, dass es sie zur Kenntnis genommen und bei der Beurteilung des
invalidenversicherungsrechtlichen Status (vgl. dazu Urteil 9C_311/2013 vom 12.
November 2013 E. 3.1) berücksichtigt hat. Jedenfalls war es der
Beschwerdeführerin ohne weiteres möglich, die diesbezüglichen Erwägungen
sachgerecht anzufechten (Urteil 9C_535/2014 vom 15. Januar 2015 E. 3.2). Von
einer Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Vorinstanz kann nicht
gesprochen werden. Soweit sie in grundsätzlicher Hinsicht vorbringt, nach dem
Auszug des letzten der drei Kinder im Oktober 2012 könne es keinen
Aufgabenbereich mehr geben, der im Rahmen der Invaliditätsbemessung durch
Anwendung der gemischten Methode zu berücksichtigen wäre, ist darauf
hinzuweisen, dass das Bundesgericht diese in der neueren Literatur vertretene
Auffassung in dem ebenfalls einen Zweipersonenhaushalt betreffenden Urteil
9C_693/2013 vom 24. Oktober 2014 E. 4.6 und 4.7 ausdrücklich abgelehnt hat.

5.

5.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, die Beschwerdeführerin sei seit ihrer
Einreise in die Schweiz ... keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Sie habe den
Haushalt besorgt und sei für die Betreuung der drei Kinder zuständig gewesen.
Ihr Ehemann habe als Bohrmeister gearbeitet, bis ihm offenbar ... wegen
gesundheitlicher Beschwerden gekündigt worden sei. Gemäss dem ersten
Abklärungsbericht Haushalt vom 3. Oktober 2001 wäre die Aufnahme einer
Teilerwerbstätigkeit als Reinigungsangestellte oder Bügelhilfe im Umfang von
zwei Stunden täglich ab August 2000 geplant gewesen. In diesem Zeitpunkt sei
die (jüngste) Tochter elf Jahre alt gewesen. Anlässlich der zweiten Abklärung
vor Ort am 28. Januar 2013 habe sie angegeben, ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung weiterhin in einem 24 %igen Teilzeitpensum als Raumpflegerin
oder Betriebsmitarbeiterin einer ausserhäuslichen Tätigkeit nachzugehen.
Übereinstimmend mit dieser unter Ziff. 3.5 des Berichts vom 19. Februar 2013
festgehaltenen Aussage habe die Abklärungsperson unter Ziff. 5 (Status)
Erwerbstätigkeit mit 24 % und Haushalt (Differenz zu 100 %) mit 76 % beziffert.
Die "24" sei von der Beschwerdeführerin durchgestrichen und durch eine "0"
ersetzt worden mit dem Vermerk: "wäre keine Behinderung da, dann JA". Auch
unter Berücksichtigung und in Würdigung der persönlichen, familiären, sozialen
und erwerblichen Verhältnisse sei sie bei ihren Angaben zur hypothetischen
Erwerbstätigkeit zu behaften, zumal sie die Möglichkeit gehabt hätte, diese
nochmals zu überprüfen und gegebenenfalls handschriftlich zu korrigieren, was
sie jedoch nicht getan habe.

5.2. Die Beschwerdeführerin rügt zu Recht die Feststellung der Vorinstanz als
aktenwidrig, sie sei seit der Einreise in die Schweiz 1982 keiner
Erwerbstätigkeit nachgegangen. Gemäss dem Abklärungsbericht vom 19. Februar
2013 war sie im Zeitraum vom ... bis ... Hauswartin. Weiter können die Angaben
unter Ziff. 3.5 und 5 dieses Berichts einschliesslich der handschriftlichen
Korrektur nicht lediglich in dem Sinne verstanden werden, die
Beschwerdeführerin wäre ohne gesundheitliche Beeinträchtigung neben der
Besorgung des Haushalts weiterhin im zeitlichen Umfang von 24 % (eines
Normalarbeitspensums) erwerbstätig. Der handschriftliche Zusatz lässt sich
indessen auch in dem Sinne verstehen, dass sie damit zum Ausdruck bringen
wollte, einer Erwerbstätigkeit (von 100 %) nachzugehen, wenn sie gesund wäre.
Dieser Unklarheit kommt umso grössere Bedeutung zu, als Korrektur und Zusatz
nicht anlässlich der Abklärung selber angebracht worden waren, sondern erst bei
Gelegenheit der nochmaligen Überprüfung, in welchem Zeitpunkt die
Beschwerdeführerin im Übrigen noch nicht anwaltlich vertreten war. Das hat die
Vorinstanz offensichtlich übersehen, wenn sie feststellt, sie habe es
unterlassen, ihre Angaben zur hypothetischen Erwerbstätigkeit nochmals zu
überprüfen und gegebenenfalls handschriftlich zu korrigieren. Genau dies hat
die Versicherte indessen getan.
Schliesslich hat das Kantonsgericht die finanziellen Verhältnisse der
Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes, welche für die Statusfrage ebenfalls
von Bedeutung sind, zu wenig Bedeutung beigemessen und entsprechend auch keine
Feststellungen dazu getroffen. Aus den Akten und den Unterlagen zum Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ergibt sich diesbezüglich für 2013 Folgendes: Der
Ehemann war nicht erwerbstätig; er bezog eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung und Ergänzungsleistungen (EL) in der Höhe von insgesamt
Fr. 2'312.--   (Fr. 535.-- + Fr. 1'777.--); ab Juni erhielten die Eheleute
zudem wirtschaftliche Sozialhilfe von monatlich Fr. 684.--; sie verfügten über
kein nennenswertes Vermögen; es bestanden Schulden von Fr. 13'565.-- (zuviel
bezogene Ergänzungsleistungen in den Monaten Juni bis Dezember 2004). Diese
Einkommens- und Vermögensverhältnisse sprechen für ein höheres erwerbliches
Arbeitspensum im Gesundheitsfall als 24 %. In diesem Zusammenhang ist zu
beachten, dass wegen der gesundheitlich bedingten Arbeitsunfähigkeit in der
EL-Berechnung kein (hypothetisches) Erwerbseinkommen der Beschwerdeführerin
berücksichtigt wurde (vgl. Art. 9 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 1 lit. a und g ELG;
BGE 134 V 53 E. 4.1 S. 61; Urteil 9C_630/2013 vom 29. September 2014 E. 3). Bei
der Statusfrage ist indessen davon auszugehen, dass sie gesund und arbeitsfähig
wäre. Weiter kann gestützt auf § 28 Abs. 1 des luzernischen Sozialhilfegesetzes
vom 24. Oktober 1989 (SRL 892) eine Person, die wirtschaftliche Sozialhilfe
beantragt, angewiesen werden, soweit zumutbar, eine Erwerbstätigkeit
aufzunehmen oder die bestehende zu erweitern (Grundsatz der Subsidiarität bzw.
des Vorrangs der Selbsthilfe; BGE 130 V 71 E. 4.3 S. 76), wie die Versicherte
schon im vorinstanzlichen Verfahren vorbrachte (vorne E. 4.1).

5.3. Nach dem Gesagten muss der für die Statusfrage rechtserhebliche
Sachverhalt als unvollständig festgestellt bezeichnet werden, was eine
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG darstellt (BGE 136 II 65 E.
1.4 S. 68; 134 V 53 E. 4.3 S. 62). Die Vorinstanz wird den Sachverhalt ergänzen
und danach über den streitigen Rentenanspruch neu entscheiden. In diesem Sinne
ist die Beschwerde begründet.

6. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und der durch den Rechtsdienst Procap Schweiz vertretenen
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Luzern, 3. Abteilung, vom 23. Juli 2014 wird aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an dieses zurückgewiesen. Im Übrigen wird
die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.-- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. April 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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