Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 660/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_660/2014

Urteil vom 5. März 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Ursprung,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
Beschwerdeführer,

gegen

Genossenschaft A.________,
Beschwerdegegnerin,

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung (Kassenwechsel, Prozessvoraussetzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die Genossenschaft A.________ war Mitglied des Vereins für
Sozialversicherungsfragen von öffentlichen Institutionen des Kantons Bern. Als
Arbeitgeberin war sie der Ausgleichskasse des Kantons Bern angeschlossen. Am
22. Juni 2012 trat die Genossenschaft A.________ auf den 1. Januar 2013 dem
Bernischen Geschäftsinhaberverband bei. Auf denselben Zeitpunkt beabsichtigte
sie, zur Ausgleichskasse Geschäftsinhaber Bern des Verbandes zu wechseln,
wogegen die kantonale Ausgleichskasse Einspruch erhob. Das von der
Verbandsausgleichskasse und der Genossenschaft A.________ angerufene Bundesamt
für Sozialversicherungen (BSV) lehnte mit Verfügung vom 20. März 2013 den
streitigen Kassenwechsel ab.

B. 
Dagegen reichte die Genossenschaft A.________ am 3. April 2013 Beschwerde beim
Bundesverwaltungsgericht ein, welches mit Entscheid vom 27. Juni 2014 darauf
nicht eintrat und die Sache zur Durchführung des Einspracheverfahrens
zuständigkeitshalber an das BSV überwies.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt das BSV, der
Entscheid vom 27. Juni 2014 sei aufzuheben und die Sache an das
Bundesverwaltungsgericht zurückzuweisen, damit es materiell entscheide.

Die Ausgleichskasse des Kantons Bern ersucht um Gutheissung der Beschwerde. Die
Genossenschaft A.________ äussert ihr Interesse an einem materiellen Entscheid,
ohne einen Antrag zu stellen.

Erwägungen:

1. 
Die von Amtes wegen zu prüfenden Sachurteilsvoraussetzungen   (Art. 29 Abs. 1
BGG; BGE 139 III 133 E. 1 S. 133; 139 V 42 E. 1       S. 44) sind erfüllt:
Streitigkeiten betreffend die Kassenzugehörigkeit nach Art. 64 AHVG sind
Angelegenheiten des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 82 lit. a BGG. Ein
Unzulässigkeitsgrund nach Art. 83 BGG ist nicht gegeben. Gemäss Art. 86 lit. a
BGG ist die Beschwerde (in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) zulässig
gegen Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts. Das BSV ist nach Art. 89 Abs. 2
lit. a BGG i.V.m. Art. 201 zweiter Satz AHVV zur Beschwerde berechtigt.
Schliesslich ist auch die Zulässigkeit der Beschwerde nach Art. 90-93 BGG
gegeben. Dabei kann offenbleiben, ob ein Endentscheid (Art. 90 BGG), ein
Teilentscheid (Art. 91 BGG), ein Vor- oder Zwischenentscheid über die
Zuständigkeit (Art. 92 BGG) oder ein anderer Vor- oder Zwischenentscheid (Art.
93 BGG) vorliegt. Im letzten Fall könnte bei Nichteintreten auf die Beschwerde
die streitige Frage, ob gegen Verfügungen des BSV über die Kassenzugehörigkeit
nach Art. 64   Abs. 6 AHVG zwingend Einsprache zu erheben, der direkte
Beschwerdeweg somit ausgeschlossen ist, im weiteren Verfahren vom BSV nicht
mehr angefochten und höchstinstanzlich überprüft werden. Das stellt einen im
Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nicht wieder gutzumachenden Nachteil, der
rechtlicher Natur sein muss (BGE 133 V 645 E. 2.1 S. 647), dar (vgl. auch
Urteil 8C_121/2009 vom 26. Juni 2009 E. 1, in: SVR 2009 UV Nr. 60 S. 212).

2. 
Der angefochtene Nichteintretensentscheid stützt sich in erster Linie auf Art.
32 Abs. 2 lit. a VGG. Gemäss dieser Bestimmung ist die Beschwerde an das
Bundesverwaltungsgericht unzulässig u.a. gegen Verfügungen, die nach einem
anderen Bundesgesetz durch Einsprache anfechtbar sind. Wie dieses Gericht
richtig erkannt hat, erging die Verfügung vom 20. März 2013 über den von der
Beschwerdegegnerin beantragten Kassenwechsel nach Art. 121 Abs. 2 AHVV gestützt
auf Art. 64 Abs. 6 AHVG. Danach entscheidet bei Streitigkeiten über die
Kassenzugehörigkeit das zuständige Bundesamt. Sein Entscheid kann von den
beteiligten Ausgleichskassen und vom Betroffenen angerufen werden. Auf das
Verfahren sind mangels einer Regelung im AHVG grundsätzlich die Bestimmungen
des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) anwendbar (Art. 1 Abs. 1 AHVG). Einschlägig
ist Art. 55    Abs. 2 ATSG. Danach richtet sich das Verfahren vor einer
Bundesbehörde nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz vom 20. Dezember 1968
(VwVG), ausser wenn sie über sozialversicherungsrechtliche Leistungen,
Forderungen und Anordnungen entscheidet. Das Bundesverwaltungsgericht hat
daraus gefolgert, dass auf das Verfahren vor dem BSV bei einem Streit über die
Kassenzugehörigkeit nach Art. 64 Abs. 6 AHVG das ATSG anwendbar ist. Es sei
somit zwingend ein Einspracheverfahren nach Art. 52 ATSG durchzuführen.
Entgegen Rz. 3005 der Wegleitung über die Kassenzugehörigkeit der
Beitragspflichtigen (WKB) könne gegen die Verfügung des zuständigen Bundesamtes
nicht direkt Beschwerde erhoben werden.

Das Beschwerde führende Bundesamt bestreitet die Gesetzesauslegung des
Bundesverwaltungsgerichts. Seine Entscheide betreffend die Kassenzugehörigkeit
nach Art. 64 Abs. 6 AHVG seien keine sozialversicherungsrechtliche Anordnungen
im Sinne von Art. 55 Abs. 2 ATSG. Wäre der Allgemeine Teil des
Sozialversicherungsrechts anwendbar und damit nach Art. 52 ATSG ein
Einspracheverfahren durchzuführen, würde der Rechtsmittelweg nicht über das
Bundesverwaltungsgericht, sondern über die kantonalen Versicherungsgerichte
(Art. 58 ATSG) führen, was nicht im Interesse einer raschen Klärung der
Kassenzugehörigkeit liege. Im Übrigen habe das Bundesgericht im Urteil 9C_883/
2012 vom 12. Februar 2013 (auszugsweise publ. in: BGE 139 V 58) nicht
beanstandet, dass gegen seine Verfügung, die einen Kassenwechsel betroffen
habe, direkt Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht worden sei.

3. 
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut. Ist der Text nicht klar und
sind verschiedene Interpretationen möglich, muss nach seiner wahren Tragweite
gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist
dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte, auf den Zweck der Norm, die ihr
zugrunde liegenden Wertungen und ihre Bedeutung im Kontext mit anderen
Bestimmungen (BGE 140 V 15 E. 5.3.2 S. 18). Die Materialien sind zwar nicht
unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu
erkennen (BGE 138 V 17 E. 4.2 S. 20). Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen
kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder
ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 140
III 206    E. 3.5.4 S. 214). Eine Gesetzesinterpretation lege artis kann
ergeben, dass ein an sich klarer Wortlaut zu weit gefasst und auf einen an sich
davon erfassten Sachverhalt nicht anzuwenden ist (teleologische Reduktion; BGE
140 I 305 E. 6.2 S. 311; 137 III 487 E. 4.5 S. 495; 131 V 242 E. 5.2 S. 247).

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht zutreffend davon aus, dass der Entscheid
des BSV über die Kassenzugehörigkeit nach Art. 64 Abs. 6 AHVG eine
(sozialversicherungsrechtliche) "Anordnung" im Sinne von Art. 55 Abs. 2 ATSG
ist. Dabei handelt es sich grundsätzlich um den selben Begriff wie der in Art.
5 Abs. 1 VwVG verwendete (vgl. BGE 101 V 22 E. 1b in fine S. 26 zu aArt. 127
AHVV, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002, der inhaltlich gleichen
Vorgängerbestimmung von Art. 64 Abs. 6 AHVG; Ueli Kieser,
ATSG-Kommentar,         2. Aufl. 2009, Rz. 18 zu Art. 35 ATSG). Gemäss diesem
Autor (a.a.O., Rz. 19 zu Art. 55 ATSG) bezieht sich der Ausdruck
(sozialversicherungsrechtliche) "Leistungen, Forderungen und Anordnungen" im
Sinne von Art. 55 Abs. 2 ATSG auf die Umschreibung in Art. 49 Abs. 1 ATSG. Nach
dieser Bestimmung hat der Versicherungsträger über Leistungen, Forderungen und
Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht
einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen. Kieser (a.a.O., Rz. 18
zu Art. 35 ATSG) geht davon aus, dass sich das Verfahren vor dem BSV betreffend
die Kassenzugehörigkeit nach Art. 64 Abs. 6 AHVG nach dem ATSG richtet, wobei
er dies nicht weiter begründet.

3.2. Art. 55 Abs. 2 ATSG (= Art. 61 Abs. 2 E-ATSG) wurde auf Antrag der
nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit ins Gesetz
eingefügt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Bundesbehörden mit
Ausnahme der Militärversicherung nicht direkt über
sozialversicherungsrechtliche Leistungen entscheiden würden. Wenn sie jedoch
solche Entscheide fällen würden, sollen sie das ATSG anwenden. Hingegen kämen
ihnen - vorab im Bereich der Aufsicht - vielfältige erstinstanzliche
Entscheidbefugnisse zu. Hier solle nach wie vor das VwVG zur Anwendung
gelangen. Das müsse verdeutlicht und insoweit Klarheit geschaffen werden
(Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht Bericht der Kommission
des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl
1999 4523 ff., 4617 zu Art. 61 ATSG). Die neue Bestimmung wurde vom Nationalrat
diskussionslos angenommen (AB 2000 N 1247). Bei der Beratung im Ständerat
erläuterte dessen Kommissionssprecher den neuen Art. 61 Abs. 2 E-ATSG im Sinne
der nationalrätlichen Kommission. Dabei wies er darauf hin, dass mit dem neuen
Absatz 2 gemäss Fassung des Nationalrates die notwendige Transparenz und
Rechtssicherheit gewährleistet werden könne (AB 2000 S 183 [Votum Schiesser]).
Dem entsprechend wurde der damalige Art. 203 AHVV, wonach - von einer hier
nicht interessierenden Ausnahme abgesehen - gegen Verfügungen des Bundesamtes
unmittelbar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht
zulässig war (vgl. etwa Urteil H 221/98 vom 21. Juli 2000 E. 1a), nicht auf den
Zeitpunkt des Inkrafttretens des Allgemeinen Teils des
Sozialversicherungsrechts am 1. Januar 2003 aufgehoben (vgl. Ueli Kieser,
Alters- und Hinterlassenenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Band XIV,
2. Aufl. 2007, N. 470 S. 1355). aArt. 203 AHVV wurde im Rahmen der
Totalrevision der Bundesrechtspflege ersatzlos gestrichen (AS 2006 4732).

3.3. Nach dem klaren Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus den Materialien
ergibt, sollen somit lediglich dann, wenn das BSV als erstinstanzliche Behörde
über sozialversicherungsrechtliche Leistungen entscheidet, die
Verfahrensbestimmungen des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (und
subsidiär das VwVG; Art. 55 Abs. 1 ATSG) zur Anwendung gelangen. In den übrigen
Fällen, namentlich im aufsichtsrechtlichen Bereich, soll sich das Verfahren
dagegen wie bisher nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes richten. In
diesem Sinne ist der Ausdruck "sozialversicherungsrechtliche Leistungen,
Forderungen und Anordnungen" in Art. 55 Abs. 2 ATSG einschränkend auszulegen.
Daraus folgt, dass Verfügungen des BSV über die Kassenzugehörigkeit nach Art.
64 Abs. 6 AHVG der Beschwerde unterliegen (Art. 44 VwVG; ebenso Rz. 3005 WKB;
Philippe Gerber, Les relations entre la loi fédérale sur la partie générale du
droit des assurances sociales et la loi fédérale sur la procedure
administrative, AJP 11/2002 S. 1311). Der angefochtene Nichteintretensentscheid
verletzt somit Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts
vom 27. Juni 2014 wird aufgehoben und die Sache zur materiellen Entscheidung an
dieses zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem
Bundesverwaltungsgericht schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. März 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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