Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 651/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_651/2014

Urteil vom 23. Dezember 2014

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Erich Züblin,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

AXA Stiftung Berufliche Vorsorge,

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
3. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1970, meldete sich im August 2001 wegen Schmerzen im
Schultergürtel, Kopfschmerzen und Schwellungen an den Händen bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 3. Oktober 2002
sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Wirkung ab November 2001 eine
ganze Rente der Invalidenversicherung zu. In der Folge wurde der Rentenanspruch
im Rahmen zweier Revisionsverfahren (2006 und 2009) überprüft und jeweils
bestätigt.

Im September 2012 leitete die IV-Stelle erneut eine Überprüfung des
Rentenanspruchs ein und ordnete in deren Rahmen eine bidisziplinäre
Begutachtung im Gutachterzentrum B.________ an. Gestützt auf die Expertise vom
8. Juli 2013 und unter Hinweis auf die am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen
Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision (erstes Massnahmepaket; SchlBest. IVG)
hob die Verwaltung die bisher ausgerichtete ganze Rente mit Verfügung vom 12.
November 2013 auf.

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 3. Juli 2014 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag auf Weiterausrichtung einer Viertelsrente.

Erwägungen:

1.

1.1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Seinem Urteil legt es den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung
auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine
Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig, wenn
sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I
8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_463/2014 vom 9. September 2014 E. 1.1).

1.2. Diese Grundsätze gelten auch in Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung
(Urteil 9C_779/2010 vom 30. September 2011 E. 1.1.1, nicht publ. in: BGE 137 V
446, aber in: SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44). Dem kantonalen Versicherungsgericht
steht als Sachgericht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher
Ermessensspielraum zu (BGE 120 Ia 31 E. 4b S. 40). Das Bundesgericht greift auf
Beschwerde hin nur ein, wenn das Sachgericht diesen missbraucht, insbesondere
offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder
solche willkürlich ausser Acht lässt (BGE 132 III 209 E. 2.1 S. 211; zum
Begriff der Willkür BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f. mit Hinweisen). Inwiefern
das kantonale Gericht sein Ermessen missbraucht haben soll, ist in der
Beschwerde klar und detailliert aufzuzeigen (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261). Auf
ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene appellatorische
Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 134 II
244 E. 2.2 S. 246 mit Hinweis; zum Ganzen: Urteil 9C_463/2014 vom 9. September
2014).

2. 
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und von der Rechtsprechung
entwickelten Grundsätze, namentlich diejenigen zum Begriff der Invalidität
(Art. 8 Abs. 1 ATSG [SR 830.1] in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), zur
invalidisierenden Wirkung anhaltender somatoformer Schmerzstörungen (BGE 130 V
396; siehe auch BGE 130 V 352) und zur Überprüfung von Renten, die auf
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage beruhen (lit. a Abs. 1 SchlBest. IVG; BGE 139
V 547; vgl. auch BGE 140 V 197), zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die
Ausführungen zum Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c
ATSG) und dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218 E. 6 S. 221). Darauf wird verwiesen.

3. 
Streitgegenstand bildet die Frage, ob die bisherige ganze Rente einzustellen
ist (so die Vorinstanz) oder ob Anspruch auf Weiterausrichtung einer
Viertelsrente der Invalidenversicherung besteht (wie die Beschwerdeführerin
geltend macht). Dabei ist letztinstanzlich unter den Parteien zu Recht
unbestritten, dass lit. a Abs. 1 SchlBest. heranzuziehen ist.

4.

4.1. Das kantonale Gericht erwog, dem Gutachten des Zentrums B.________ vom 8.
Juli 2013 komme grundsätzlich voller Beweiswert zu. Die Beschwerdeführerin sei
für die bei ihr vorliegenden Gesundheitsschäden umfassend untersucht und die
geklagten Beschwerden berücksichtigt worden. Die Gutachter hätten den
medizinischen Sachverhalt in Kenntnis der Vorakten beurteilt und aufgrund der
gestellten Diagnosen nachvollziehbare Schlussfolgerungen gezogen.

4.2. Die Beschwerdeführerin rügt, das psychiatrische Teilgutachten von Dr. med.
C.________ entspreche nicht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung betreffend
die Anforderungen an den Beweiswert eines Gutachtens. So beruhe die
gutachterliche Feststellung, die depressive Erkrankung habe lediglich als
Begleiterscheinung eines psychogenen Schmerzgeschehens sowie psychosozialer
Faktoren zu gelten, einzig auf der unzulässigen Beweisregel "post hoc ergo
propter hoc". Diesen Vorbringen kann nicht gefolgt werden: Der Gutachter hat
sich gerade nicht darauf beschränkt, die fehlende Eigenständigkeit der
depressiven Erkrankung abstrakt mit deren Entstehung zeitlich nach Eintritt der
somatoformen Schmerzstörung und nach Vorliegen der psychosozialer Faktoren zu
begründen. Vielmehr hat er bei der Darlegung der Krankheitsentwicklung und
seiner Beurteilung nachvollziehbar und unter Berücksichtigung der konkreten
Situation aufgezeigt, wie sich bei der Beschwerdeführerin die depressive
Erkrankung im Zusammenhang mit der chronischen Schmerzsymptomatik und der
psychosozialen Probleme entwickelt hat. Unter diesem eingeschränkten
Blickwinkel (vgl. E. 1.2 hievor) ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz
auf die gutachterliche Einschätzung abgestellt hat, wonach der hier
massgebenden depressiven Erkrankung kein eigenständiger Charakter beizumessen
sei.

5.

5.1. Das kantonale Gericht wich von den Ergebnissen der Expertise des
Gutachterzentrums B.________ vom 8. Juli 2013 insoweit ab, als es auf die
gutachterlich attestierte Leistungseinschränkung von 40 % für eine
leidensangepasste Tätigkeit nicht abgestellt und stattdessen aus rechtlicher
Sicht eine volle Arbeits- und Erwerbsfähigkeit angenommen hat. Entgegen den
Einwänden der Beschwerdeführerin tangiert dieses Vorgehen weder den Beweiswert
des Gutachtens (vgl. E. 4 hievor) noch ist darin eine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes oder der Beweiswürdigungsregeln zu erblicken. So
stellt die Arbeitsunfähigkeit ein unbestimmter Rechtsbegriff des formellen
Gesetzes (Art. 6 ATSG) dar. Der Arztperson kommt daher bei der
Folgenabschätzung der von ihr erhobenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen
keine abschliessende Beurteilungskompetenz zu, sondern sie nimmt hiezu
Stellung, d.h. sie gibt eine Schätzung ab. Diese ist durch die
rechtsanwendenden Behörden im Rahmen der rechtlichen Vorgaben zu würdigen (BGE
140 V 193 E. 3.1 und 3.2 S. 194 ff.). Weil die Arbeitsfähigkeit somit keine
medizinische, sondern eine rein juristische Frage ist, können sich - wie hier -
Konstellationen ergeben, bei welchen von der im medizinischen Gutachten
festgestellten Arbeitsunfähigkeit abzuweichen ist, ohne dass dieses seinen
Beweiswert verlöre (SVR 2013 IV Nr. 9 S. 21, 8C_842/2011 E. 4.2.2; vgl. auch
BGE 130 V 352 E. 3 S. 356).

5.2. Die Beschwerdeführerin leidet gemäss Gutachten des Zentrums B.________ vom
8. Juli 2013 seit ca. 2001 unter einer rezidivierenden depressiven Störung mit
überwiegend mittelgradigen depressiven Episoden (ICD-10 F33.1). Auch wenn die
invalidisierende Wirkung einer solchen nicht von vornherein auszuschliessen
ist, bedingt deren Annahme jedenfalls, dass es sich dabei nicht bloss um die
Begleiterscheinung einer Schmerzkrankheit handelt, sondern um ein
selbständiges, vom psychogenen Schmerzsyndrom losgelöstes depressives Leiden
(Urteil 9C_736/2011 vom 7. Februar 2012 E. 4.2.2.1; SVR 2008 IV Nr. 1 S. 1, I
176/06 E. 5.2). Fehlt es daran, ist nach der Rechtsprechung in der Regel keine
invalidisierende Wirkung des Gesundheitsschadens anzunehmen (BGE 137 V 64;
Urteile 8C_162/2013 vom 17. Juli 2013 E. 3.1.2 und 8C_945/2009 vom 23.
September 2010 E. 10.1). Gleiches hat in Bezug auf die von Dr. med. C.________
genannten psychosozialen Faktoren zu gelten, welche nur mittelbar dann
invaliditätsbedeutsam sein können, wenn ein verselbständigter
Gesundheitsschaden vorliegt (BGE 139 V 547 E. 3.2.2 S. 551).
Weil bei der Beschwerdeführerin kein selbständiges, vom psychogenen
Schmerzsyndrom und den psychosozialen Faktoren losgelöstes depressives Leiden
vorliegt (vgl. E 4 hievor), ist die Vorinstanz in Abweichung vom Gutachten des
Zentrums B.________ vom 8. Juli 2013 zu Recht von einer vollen Arbeitsfähigkeit
bei leidensangepasster Tätigkeit ausgegangen.

6.

6.1. Was schliesslich die Rüge anbelangt, es hätte anstelle einer
bidisziplinären eine polydisziplinäre Begutachtung angeordnet werden müssen,
ist darauf hinzuweisen, dass rechtsprechungsgemäss keine festen Kriterien zur
allgemeingültigen Abgrenzung der Anwendungsfelder der verschiedenen Kategorien
von Expertisen bestehen. Die grosse Vielfalt von Begutachtungssituationen
erfordert Flexibilität. In groben Zügen jedoch lassen sich die jeweiligen
Einsatzbereiche wie folgt umreissen (BGE 139 V 349 E. 3.2 S. 352) : Die
umfassende administrative Erstbegutachtung wird - wie die Beschwerdeführerin zu
Recht geltend macht - regelmässig polydisziplinär anzulegen sein. Eine
polydisziplinäre Expertise ist auch dann einzuholen, wenn der
Gesundheitsschaden zwar bloss als auf eine oder zwei medizinische Disziplinen
fokussiert erscheint, die Beschaffenheit der Gesundheitsproblematik aber noch
nicht vollends gesichert ist. In begründeten Fällen kann von einer
polydisziplinären Begutachtung abgesehen und eine mono- oder bidisziplinäre
durchgeführt werden, sofern die medizinische Situation offenkundig
ausschliesslich ein oder zwei Fachgebiete beschlägt; weder dürfen weitere
interdisziplinäre Bezüge notwendig sein noch darf ein besonderer
arbeitsmedizinischer bzw. eingliederungsbezogener Klärungsbedarf bestehen. Die
Voraussetzungen werden vor allem bei Verlaufsbegutachtungen erfüllt sein.

6.2. Vorliegend geht es entgegen den Einwendungen der Beschwerdeführerin nicht
um eine umfassende administrative Erstbegutachtung, sondern um eine
revisionsweise Überprüfung des Rentenanspruchs im Rahmen der SchlBest. IVG.
Unbestrittenermassen liegen bei der Beschwerdeführerin keinerlei somatische
Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit vor. Ebenso ist nicht
streitig, dass die Beschwerdeführerin an einer somatoformen Schmerzstörung und
einer rezidivierenden mittelgradigen depressiven Störung leidet. Auch wenn sich
die Vorinstanz darauf beschränkte darzulegen, die Rüge der Notwendigkeit einer
polydisziplinären Begutachtung sei verspätet, erachtete sie eine bidisziplinäre
Begutachtung implizit als genügend, anderenfalls das kantonale Gericht im
Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes gehalten gewesen wäre, weitere Abklärungen
zu veranlassen oder die Sache zu solchen an die Verwaltung zurückzuweisen.
Diese (implizite) Feststellung der Vorinstanz ist für das Bundesgericht
verbindlich und in der Sache nicht zu beanstanden. So ergeben sich aus den
Akten keinerlei Hinweise auf Bezüge zu weiteren, bisher unberücksichtigt
gebliebenen medizinischen Fachdisziplinen. Die Beschwerdeführerin vermag denn
abgesehen von ihren rein appellatorischen Einwänden, welche
rechtsprechungsgemäss von vornherein ausser Acht bleiben müssen (BGE 137 II 353
E. 5.1 S. 356), auch nicht darzulegen, in welchen betroffenen Fachbereichen
weitergehende Abklärungen notwendig gewesen wären.

7. 
In Anbetracht der vollen Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin in einer den
leiden angepassten Tätigkeit erweist sich die verfügte Rentenaufhebung als
rechtens.

8. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. Dezember 2014

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Williner

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