Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 649/2014
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2014
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2014


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_649/2014

Urteil vom 12. Februar 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse
13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
9. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, Dr. sc. nat. ETH, ist seit ihrem 12. Lebensjahr zunehmend in ihrer
Sehfähigkeit beeinträchtigt, weshalb ihr die IV-Stelle des Kantons Thurgau
Hilfsmittel, Eingliederungsmassnahmen und eine Hilflosenentschädigung zusprach.
Zudem bezieht sie seit 1. April 2007 eine halbe Rente resp. ab 1. Oktober 2008
eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung.

Mit Gesuch vom 26. Februar 2013 (am 13. August 2013 in die Akten der IV-Stelle
eingegangen) ersuchte A.________ "für ein weiteres wissenschaftliches Projekt"
um Dienstleistungen Dritter in Form von Transfer- und Vorleseleistungen ab 1.
Mai 2014. Zur Begründung führte sie aus, dass sie ab diesem Zeitpunkt für vier
Jahre an einem renommierten Forschungsinstitut in der Schweiz die Leitung eines
weiteren Forschungsprojektes in der Geochemie übernehmen könne, was ohne die
beantragten Leistungen nicht möglich sei. Mit Schreiben vom 22. August und vom
12. September 2013 forderte die IV-Stelle des Kantons Thurgau A.________ auf,
bestimmte weitere Unterlagen betreffend das Forschungsprojekt einzureichen,
insbesondere einen vom (namentlich zu nennenden) Forschungsinstitut bestätigten
Projektbeschrieb, aus dem ihr Tätigkeitsbereich klar hervorgehe. Ansonsten
werde sie die Abklärungen einstellen und auf das Gesuch nicht eintreten. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens trat die IV-Stelle mit Verfügung vom 2.
April 2014 nicht ein.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
mit Entscheid vom 9. Juli 2014 ab.

C. 
A.________ beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
Dienstleistungen Dritter in Form von Transfer- und Vorleseleistungen im Umfang
von 25 Stunden resp. Fr. 750.- pro Monat.

Erwägungen:

1.

1.1. Die versicherte Person hat im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden
Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren sie für die Ausübung der
Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit im Aufgabenbereich, zur Erhaltung oder
Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, für die Schulung, die Aus- und Weiterbildung
oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf (Art. 21 Abs. 1 Satz 1
IVG). Der Bundesrat delegierte diese Kompetenz an das Eidgenössische
Departement des Innern (EDI), welches auch nähere Bestimmungen erlässt über
Beiträge an die Kosten für Dienstleistungen Dritter, welche anstelle eines
Hilfsmittels benötigt werden (Art. 14 Abs. 1 lit. c IVV [SR 831.201]).

Die versicherte Person hat Anspruch auf Vergütung der ausgewiesenen
invaliditätsbedingten Kosten für besondere Dienstleistungen, die von Dritten
erbracht werden und anstelle eines Hilfsmittels notwendig sind, um (a) den
Arbeitsweg zu überwinden, (b) den Beruf auszuüben oder (c) besondere
Fähigkeiten zu erwerben, welche die Aufrechterhaltung des Kontakts mit der
Umwelt ermöglichen (Art. 9 Abs. 1 der Verordnung des EDI vom 29. November 1976
über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung1 [HVI; SR
831.232.51]). Die monatliche Vergütung darf weder den Betrag des monatlichen
Erwerbseinkommens der versicherten Person noch den anderthalbfachen
Mindestbetrag der ordentlichen Altersrente übersteigen (Art. 9 Abs. 2 HVI).

1.2.

1.2.1. Der Versicherungsträger prüft die Begehren, nimmt die notwendigen
Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein (Art.
43 Abs. 1 ATSG). Wer Versicherungsleistungen beansprucht, muss unentgeltlich
alle Auskünfte erteilen, die zur Abklärung des Anspruchs und zur Festsetzung
der Versicherungsleistungen erforderlich sind (Art. 28 Abs. 2 ATSG). Kommen die
versicherte Person oder andere Personen, die Leistungen beanspruchen, den
Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise nicht nach, so
kann der Versicherungsträger auf Grund der Akten verfügen oder die Erhebungen
einstellen und Nichteintreten beschliessen. Er muss diese Personen vorher
schriftlich mahnen und auf die Rechtsfolgen hinweisen; ihnen ist eine
angemessene Bedenkzeit einzuräumen (Art. 43 Abs. 3 ATSG).

1.2.2. Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht
(Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Danach hat das Gericht von Amtes
wegen für die richtige und vollständige Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhaltes zu sorgen. Der Sozialversicherungsträger als verfügende Instanz
und - im Beschwerdefall - das Gericht dürfen eine Tatsache nur dann als
bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind. Im
Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen Entscheid, sofern das Gesetz
nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten
Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht (BGE 138 V 218 E. 6 S. 221 f.
mit Hinweisen, Urteil 8C_494/2013 vom 22. April 2014 E. 5.4.1, in BGE 140 V 220
nicht publiziert).

2. 
Das kantonale Gericht hat auf seinen Entscheid VV.2014.41/E vom 26. März 2014
verwiesen, wonach notwendig sei, dass der Versicherten im Zusammenhang mit
ihrem Kantonsratsmandat ein Vorleser zur Verfügung stehe. Es ist der
Auffassung, dass sich daraus nicht auf den geltend gemachten Anspruch
schliessen lasse. Dieser lasse sich erst beurteilen, wenn bekannt sei, um
welche Art von Tätigkeit es sich konkret handle, in welchem Umfang die
Versicherte am Projekt arbeite und ob dafür nicht Hilfsmittel zur Verfügung
ständen. Zudem müsse abgeklärt werden, ob die anbegehrte Leistung im
Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit im eigentlichen Sinne stehe. Eine
Angabe über den anfallenden Aufwand sei mangels jeglicher Kenntnis über die
fragliche Tätigkeit nicht überprüfbar. Die Art der Behinderung stehe einer
Auskunft über das Projekt nicht entgegen, und die Abklärungen stellten auch
keine Einmischung in eine wissenschaftliche Tätigkeit dar. Weil die Versicherte
die notwendigen Angaben zur Prüfung des Leistungsanspruchs nicht gemacht habe,
sei die IV-Stelle auf ihr Begehren zu Recht nicht eingetreten.

3.

3.1. Die Beschwerdeführerin verkennt, dass die Vorinstanz die medizinisch
begründete Notwendigkeit von Dienstleistungen Dritter für die Ausübung einer
wissenschaftlichen Berufstätigkeit nicht im Grundsatz in Abrede stellt. Sie
hält indessen mit Blick auf Art. 9 Abs. 1 lit. b HVI weitere Beweismittel für
eine konkrete Berufsausübung, d.h. für das behauptete Forschungsprojekt und die
damit verbundenen Aufgaben der Versicherten, für unabdingbar. Dies ist kein
Verstoss gegen Treu und Glauben (Art. 9 BV), sondern gesetzlich geboten (E.
1.2) : Diesbezüglich liegt nebst den Behauptungen der Versicherten, die für
sich allein nicht genügen, als Beweis einzig die mit dem Schreiben der
Beschwerdeführerin vom 3. September 2013 an die IV-Stelle eingereichte
Zusammenfassung über "Akademische Projekte" bei den Akten. Dass diese eine
überzeugende Grundlage für die notwendigen Rückschlüsse sein soll, wird zu
Recht nicht geltend gemacht, zumal daraus weder ein Verfasser noch ein Hinweis
auf die tatsächliche Projektumsetzung hervorgeht. Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin ist auch die neue (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG) Beilage 17 kein
genügender Beleg: Die darin enthaltene E-Mail-Korrespondenz betrifft zwar die
Finanzierung eines Forschungsprojektes; indessen ist weder dieses noch die
Geldgeberin identifizierbar und Einzelheiten über das konkrete Projekt fehlen
vollständig. Sodann ist für die Annahme der Berufstätigkeit durchaus von
Bedeutung, ob diese, wie behauptet, "an einem renommierten Forschungsinstitut"
ausgeübt wird, wobei es nicht auf ein Weisungsrecht oder eine
Rechenschaftspflicht ankommt.

Es war und ist somit eine Obliegenheit der Beschwerdeführerin, Unterlagen
einzubringen, die ihre Behauptung einer Berufsausübung untermauern und
Rückschlüsse auf Art und Umfang der konkreten Tätigkeiten erlauben. Ob dafür
zwingend ein vom Forschungsinstitut bestätigter Projektbeschrieb erforderlich
ist oder ob allenfalls auch weitere Unterlagen über "Abmachungen mit
finanzierenden Stiftungen" genügen, kann an dieser Stelle offenbleiben:
Gegebenenfalls wird die IV-Stelle das Verfahren wieder aufnehmen und nach einer
Beweiswürdigung über das Gesuch entscheiden. Die mit Eingabe vom 30. Dezember
2014 mitgeteilte und ab 1. Februar 2015 eingetretene Änderung des Sachverhalts
(Übernahme eines Lehrauftrags an der Universität B.________ im
Frühlingssemester 2015) vermag hier schon aus prozessrechtlichen Gründen (vgl.
Art. 99 Abs. 1 BGG) nicht weiter zu helfen.

3.2. Soweit die Beschwerdeführerin in Bezug auf die nach ihrer Meinung
"unsinnigen" Abklärungen "mit dem Forschungsinstitut" der IV-Stelle resp. der
Vorinstanz vorwirft, sie hätte "bei Unklarheiten direkt nachfragen oder die
schriftlichen Abmachungen mit den Stiftungen verlangen" können, verhält sie
sich angesichts der beiden von der IV-Stelle verfassten Mahnschreiben
treuwidrig. So wurde sie in jenem vom 12. September 2013 explizit darauf
hingewiesen, dass es um Unterlagen resp. um Auskünfte für die konkrete
Ermittlung der Transferkosten und der Dienstleistung (unter den Aspekten der
Eignung, Erforderlichkeit sowie Einfach- und Zweckmässigkeit) geht.

3.3. Was schliesslich das auf weiten Strecken gerügte Verhalten der -
zuständigen (vgl. Art. 55 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 40 Abs. 1 lit. a
IVV; vgl. auch Entscheid der Vorinstanz VV.2013.258/E vom 6. November 2013) -
IV-Stelle Thurgau betrifft, so bildet nicht dieses, sondern einzig der
angefochtene Entscheid Anfechtungsobjekt im bundesgerichtlichen
Beschwerdeverfahren (vgl. Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG; Urteil 9C_447/2011 vom 21.
Juli 2011 E. 4.1.3). Auf die entsprechenden Ausführungen ist nicht weiter
einzugehen.

3.4. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz zu Recht eine Verletzung der
Mitwirkungspflicht bejaht und folglich den Nichteintretensentscheid der
IV-Stelle bestätigt (vgl. E.2.1.2). Die Beschwerde ist unbegründet.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Februar 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben