Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 623/2014
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2014
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2014


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_623/2014

Urteil vom 18. Februar 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 19. Juni 2014.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________ (geb. 1957), verheiratet von 1979 bis 1990, Mutter zweier 1979
und 1981 geborener Söhne sowie einer Tochter mit Jahrgang 1984, hatte nach
siebenjähriger Primarschulzeit u.a. im Service und vom 1. Oktober 1989 bis 31.
August 1999 während 20 Stunden pro Woche in der Firma B.________ als Büro- und
Service-Hilfe gearbeitet (letzter Arbeitstag: 7. März 1997;
Arbeitgeberbescheinigung vom 18. Oktober 1999). Unter Hinweis auf seit längerem
bestehende Gelenkschmerzen meldete sie sich am 3. September 1999 bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Gestützt u.a. auf einen Bericht des
behandelnden Hausarztes Dr. med. C.________ vom 15. September 1999, dem ein
Bericht des Spitals D.________, Medizinische Klinik, vom 13. September 1999
über eine am 8. September 1999 erfolgte Untersuchung beilag, gelangte die
Versicherte bei einem nach der gemischten Methode (Bericht über die Abklärung
an Ort und Stelle vom 9. Oktober 2000) ermittelten Invaliditätsgrad von 87 % in
den Genuss einer ganzen Invalidenrente ab 1. Juni 1999 (Verfügung vom 18. Mai
2001). Nach Revisionen in den Jahren 2006 und 2009 blieb der Anspruch auf die
ganze Invalidenrente bestehen (Invaliditätsgrad jeweils 91 %).

A.b. Am 3. April 2012 leitete die IV-Stelle des Kantons Aargau erneut eine
Überprüfung des laufenden Rentenanspruches ein. Sie holte bei der Medizinische
Abklärungsstelle (MEDAS) ein vom 7. Mai 2013 datierendes interdisziplinäres
Gutachten ein. Mit Vorbescheid vom 17. Juli 2013 stellte die Verwaltung zufolge
eines ermittelten Invaliditätsgrades von 20 % die Aufhebung der ganzen
Invalidenrente in Aussicht, in welchem Sinne sie trotz hiegegen erhobenen
Einwänden am 30. September 2013 verfügte. Zudem lehnte sie mit Verfügung vom
18. November 2013 das im Vorbescheidverfahren gestellte Gesuch um Gewährung der
unentgeltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ab.

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen die Verfügungen vom
30. September und 18. November 2013 erhobenen Beschwerden ab (Entscheid vom 19.
Juni 2014).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei "vollumfänglich"
aufzuheben und ihr weiterhin eine ganze Invalidenrente zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache "an die Vorinstanz bzw. die Beschwerdegegnerin" zu
weiteren Sachverhaltsabklärungen zurückzuweisen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, haben kantonales
Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen von einer Vernehmlassung
abgesehen.

Erwägungen:

1. 
Das Rechtsbegehren lautet auf vollumfängliche Aufhebung des kantonalen
Gerichtsentscheides. Ihrem rechtlichen Gehalt nach bezieht sich die Beschwerde
jedoch einzig auf die vorinstanzliche Abweisung der gegen die
Rentenaufhebungsverfügung vom 30. September 2013 gerichteten Beschwerde. Zur
Abweisung der Beschwerde gegen die verweigerte unentgeltliche Verbeiständung im
Administrativverfahren gemäss Verfügung vom 18. November 2013 durch das
kantonale Gericht findet sich in der Beschwerde keine Begründung, beziehen sich
doch die abschliessenden Ausführungen (S. 13) auf die unentgeltliche
Rechtspflege vor Bundesgericht. Auf die unentgeltliche Verbeiständung im
Administrativverfahren - (möglicher) Anfechtungs-, nicht aber Streitgegenstand
für das letztinstanzliche Verfahren - ist daher nicht einzugehen (Art. 107 Abs.
1 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen für eine Rentenaufhebung
gestützt auf lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision (erstes
Massnahmenpaket), in Kraft vom 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2014, erfüllt
sind. Das kantonale Gericht hat die entsprechenden Bestimmungen und die
darunter fallenden Beschwerdebilder (BGE 139 V 547 E. 2.2 S. 549) zutreffend
dargelegt (E. 3.2 und 4.3.4 des angefochtenen Entscheides). Darauf wird
verwiesen.

3.

3.1. Die Beschwerde legt unter Abschnitt B. "Kein syndromales Beschwerdebild"
(S. 5 ff.) unter Bezugnahme auf die aus der Zeit vor der ursprünglichen
Rentenzusprechung datierenden Berichte (von denen die Beschwerdegegnerin erst
im Revisionsverfahren 2005 erfuhr) dar, dass die gesundheitlichen
Beeinträchtigungen "  im Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenzusprechung (wie
auch heute) hauptsächlich auf organisch erkennbare und erklärbare Grundlagen
 zurückzuführen" seien, womit es an den Voraussetzungen für eine Revision
gemäss den Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision fehle.
Diese Betrachtungsweise wird sowohl den Verhältnissen im Zeitpunkt der
Rentenzusprechung (2001) bzw. des Rentenbeginnes (1. Juni 1999) als auch in
jenem der Rentenaufhebung (30. September 2013) nicht gerecht. Das kantonale
Gericht, noch nicht im Besitze des in der Beschwerde (S. 10 Ziff. 25) erwähnten
Urteils 8C_74/2014 vom 16. Mai 2014 (publiziert als BGE 140 V 197), kam zum
Schluss, dass bei Fällen mit unklaren Beschwerden eine allfällig zusätzlich
bestehende somatische Diagnose der Rentenrevision gestützt auf lit. a Abs. 1
Schlussbestimmungen IVG-Revision 6a nicht entgegenstehe. Diese Rechtsauffassung
trifft zu. Die in diesem Rahmen getroffene vorinstanzliche Feststellung, es
hätten neben dem fibromyalgieähnlichen Syndrom auch organisch objektivierbare
Beschwerden im Zeitpunkt der Rentenzusprechung bestanden (Arthrose im linken
Handgelenk, Diskushernienoperation), kann weder als rechtsfehlerhaft noch als
offensichtlich unrichtig (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG) bezeichnet
werden. Im Zeitpunkt der umstrittenen Rentenaufhebung verhält es sich nicht
anders, wie sich aus dem eingeholten MEDAS-Gutachten vom 7. Mai 2013 und der
dazu ergangenen Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) ergibt:
"Nach 3 Rückenoperationen mit neuropathischen Beschwerden bestehen organisch
objektivierbare Korrelate, welche die Beschwerden mehrheitlich erklären.
Syndromale Beschwerden lassen sich höchstens zusätzlich in Form von Ausprägung
oder Intensität der Schmerzen postulieren. Dies ändert jedoch nichts an den
organisch objektivierbaren Funktionseinschränkungen in verschiedenen Bereichen
des Bewegungsapparates (Hand, HWS, LWS, rechter Fuss) " (Antwort des RAD vom
24. Mai 2013).

3.2. Eventualiter trägt die Beschwerde vor, dass ein zumindest überwiegender
Teil der gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf somatische Erkrankungen
zurückzuführen sei. Unter diesen Umständen wäre das kantonale Gericht
verpflichtet gewesen, kraft Untersuchungsgrundsatz in Berücksichtigung der
neuesten bundesgerichtlichen Rechtsprechung mittels Ergänzungsfragen an die
Gutachterstelle oder Rückweisung an die Verwaltung abzuklären, ob zwischen den
erklärbaren und den nicht erklärbaren Beschwerden klar unterschieden werden
könne (Beschwerde S. 10 f.).
Zwar hat das Bundesgericht mit Urteil 8C_34/2014 vom 8. Juli 2014 entschieden,
dass eine Rentenaufhebung nach den Schlussbestimmungen der IV-Revision 6a
ausser Betracht fällt, wenn die Invalidenrente sowohl für unklare als auch für
erklärbare Beschwerden zugesprochen worden war, welche diagnostisch zwar
unterscheidbar sind, die aber bezüglich der darauf zurückzuführenden Arbeits-
und Erwerbsunfähigkeit keine exakte Abgrenzung erlauben. Weiterungen im Sinne
dieser Rechtsprechung zu einem sogenannten "Misch-Sachverhalt" (vgl. auch SVR
2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014 E. 2.4-2.7) sind im Falle der
Beschwerdeführerin, welche im Verfahren gemäss IV-Revision 6a die materielle
Beweislast trägt (Urteil 9C_495/2014 vom 7. September 2014 E. 3.2), rechtlich
nicht geboten. Denn es steht ausweislich der Akten fest, dass das
interdisziplinäre MEDAS-Gutachten vom 7. Mai 2013 unter Berücksichtigung
sämtlicher Diagnosen aus allen Fachgebieten die Leistungsfähigkeit für die
beiden angestammten Tätigkeiten (ab dem dritten Monat nach Wiederaufnahme der
Arbeit) auf 80 % einschätzt, jeweils bei voller zeitlicher Präsenz
(MEDAS-Gutachten S. 29 und 31). Dass das kantonale Gericht hierauf und nicht
auf die teils abweichende Sichtweise des RAD abgestellt hat, kann im Rahmen der
gesetzlichen Kognition ebenfalls nicht beanstandet werden, sodass es auch
insoweit bei der Verbindlichkeitswirkung der vorinstanzlichen Entscheidung über
die Arbeitsfähigkeit als einer Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.)
bleibt (Art. 105 Abs. 1 BGG).

4. 
Steht die schlussbestimmungsrechtliche Grundlage für die streitige
Rentenaufhebung fest, erübrigen sich Fragen nach der Revision gemäss Art. 17
Abs. 1 ATSG und der Wiedererwägung wegen allfälliger zweifelloser Unrichtigkeit
der ursprünglichen Rentenzusprechung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG.

5.

5.1. Nach ständiger Rechtsprechung ist im Regelfall eine medizinisch
attestierte Verbesserung der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich auf dem Weg der
Selbsteingliederung verwertbar. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung können
indes nach langjährigem Rentenbezug ausnahmsweise Erfordernisse des
Arbeitsmarktes der sofortigen Anrechnung einer medizinisch vorhandenen
Leistungsfähigkeit und medizinisch möglichen Leistungsentfaltung
entgegenstehen, wenn aus den Akten einwandfrei hervorgeht, dass die Verwertung
eines bestimmten Leistungspotenzials ohne vorgängige Durchführung befähigender
Massnahmen allein vermittels Eigenanstrengung der versicherten Person nicht
möglich ist (SVR 2011 IV Nr. 30 S. 86, 9C_163/2009 und seitherige Praxis, z.B.
9C_178/2014 vom 29. Juli 2014). Diese Rechtsprechung ist allerdings auf Fälle
beschränkt worden, in denen die (revisions- oder wiedererwägungsweise)
Rentenaufhebung eine versicherte Person betrifft, welche das 55. Altersjahr
zurückgelegt oder die Rente seit mehr als 15 Jahre bezogen hat (SVR 2011 IV Nr.
73 S. 220, 9C_228/2010 E. 3).

5.2. Die Beschwerdeführerin kann sich nicht auf diese Rechtsprechung berufen,
obwohl sie im Zeitpunkt der Rentenaufhebung (Verfügung vom 30. September 2013)
schon fast 56 Jahre alt war (geboren am 11. Dezember 1957). Denn der
massgebliche Rentenaufhebungsgrund ist nach dem Gesagten die Schlussbestimmung
zur IV-Revision 6a, welche bezüglich des Alters auf deren Inkrafttreten (1.
Januar 2012) abstellt, als die Beschwerdeführerin noch nicht 55-jährig war. Dem
im MEDAS-Gutachten unter Prognose und Empfehlungen zu Therapie- und
Integrationsmassnahmen (S. 29) klar ausgedrückten Bedürfnis nach
Eingliederungsunterstützung wird nicht durch allgemeine
Eingliederungsmassnahmen Rechnung getragen sondern durch rentenbegleitete
Massnahmen zur Wiedereingliederung nach Art. 8a IVG (lit. a Abs. 2 und 3 der
Schlussbestimmungen). Solche hatte die Beschwerdegegnerin der
Beschwerdeführerin vorgeschlagen, diese jedoch mit Verfügung vom 11. November
2013 mangels Interesse der Versicherten abgelehnt. Daher ist die hier allein
strittige vorinstanzlich bestätigte Rentenaufhebungsverfügung vom 30. September
2013 auch unter eingliederungsrechtlichem Gesichtspunkt nicht zu beanstanden.
Die Invaliditätsbemessung als solche ist nicht angefochten, so dass sich
Weiterungen erübrigen.

6. 
Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege kann entsprochen
werden, da die hiefür erforderlichen Voraussetzungen als erfüllt betrachtet
werden können (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Markus Zimmermann wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Februar 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Traub

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben