Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 611/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_611/2014

Urteil vom 19. Februar 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 19.
Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ arbeitet seit 1991 in der Kabelkonfektionierung der Firma B.________
AG. Am 3. Februar 2011 meldete sie sich unter Hinweis auf ein psychiatrisches
Krankheitsbild und Heuschnupfen sowie eine seit dem 12. August 2010 bestehende
Arbeitsunfähigkeit verschiedenen Ausmasses bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern tätigte beruflich-erwerbliche sowie
medizinische Abklärungen. Sie veranlasste ein bidisziplinäres
psychiatrisch-neuropsychologisches Gutachten (Dr. med. C.________, Spezialarzt
Psychiatrie und Psychotherapie FMH und lic. phil. D.________, Fachpsychologe
für Neuropsychologie FSP, vom 28. Februar 2013 und 17. September 2012). Die
Experten diagnostizierten im Vordergrund stehend eine ängstliche (vermeidende)
Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.6) sowie eine Entwicklungsstörung mit
kognitiven Funktionsbeeinträchtigungen (ICD-10: F89), ferner eine depressiven
Störung, gegenwärtig remittiert (ICD-10: F32.4/F33.4). In einem Intelligenztest
mit mehreren Untertests wurde ein Gesamt-Intelligenzquotient (Gesamt-IQ) von 73
Punkten ermittelt. Die Minderung der Leistungsfähigkeit schätzten die Experten
auf insgesamt 35 %. Sie gaben an, eine entsprechende Arbeitsunfähigkeit sei
seit dem Eintritt ins Erwerbsleben anzunehmen. Mit Vorbescheid vom 4. Dezember
2013 und Verfügung vom 18. Februar 2014 wies die IV-Stelle das Leistungsgesuch
ab (Invaliditätsgrad von 35 %).

B. 
Die von A.________ gegen die Verfügung vom 18. Februar 2014 eingereichte
Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 19.
Juni 2014 ab. Es erwog, die Versicherte habe die Anlehre zur Coiffeuse
abgeschlossen. Ein zwischen 70 und 84 Punkten liegender IQ sei zwar
unterdurchschnittlich, liege aber noch im Normbereich. Erst bei einem unter dem
Normbereich liegenden IQ werde gemäss ICD-10 von einer Intelligenzminderung
gesprochen, welche die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen in der freien
Wirtschaft herabsetzen könne. Somit komme im vorliegenden Fall die Berechnung
des Valideneinkommens nach der Bestimmung über die Frühinvalidität nicht in
Betracht.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen.
Sie beantragt, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr eine
Dreiviertelsrente auszurichten; eventualiter sei die Beschwerdesache zur
Abklärung bezüglich Frühinvalidität an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Wie die Vorinstanz richtig erwogen hat, erfüllen die Gutachten C.________ und
D.________ die von der Rechtsprechung (vgl. BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 323 mit
Hinweis) aufgestellten Anforderungen und sind beweiskräftig. Es kann auf sie
abgestellt werden. Ihre Ergebnisse sind nicht (mehr) umstritten. Bei der
Beschwerdeführerin steht im Vordergrund eine ängstliche (vermeidende)
Persönlichkeitsstörung sowie eine Entwicklungsstörung mit kognitiven
Funktionsbeeinträchtigungen mit einer Minderung der Leistungsfähigkeit von
insgesamt 35 % seit dem Eintritt ins Erwerbsleben. Der Gesamt-IQ beträgt 73
Punkte.

2. 
Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Beschwerdeführerin nach Art. 26 Abs.
1 IVV als Frühinvalide zu betrachten ist, was im Einkommensvergleich eine
Aufwertung des Valideneinkommens zur Folge hätte.

3.

3.1. Für Versicherte ohne Ausbildung sieht Art. 26 Abs. 1 IVV vor: Konnte die
versicherte Person wegen der Invalidität keine zureichenden beruflichen
Kenntnisse erwerben, entspricht das Erwerbseinkommen, das sie als Nichtinvalide
erzielen könnte, den folgenden nach Alter abgestuften Prozentsätzen des
jährlich aktualisierten Medianwertes gemäss der Lohnstrukturerhebung des
Bundesamtes für Statistik (LSE) :
vor dem 21. Geburtstag       70 %
ab dem 21. bis zum 25. Geburtstag       80 %
ab dem 25. bis zum 30. Geburtstag       90 %
ab dem 30. Geburtstag       100 %

3.2. Gemäss Ziff. 3035 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit
in der Invalidenversicherung (KSIH) des BSV sind Frühinvalide Versicherte, die
seit ihrer Kindheit einen Gesundheitsschaden aufweisen und deshalb keine
zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben konnten. Dazu gehören Versicherte,
welche zwar eine Berufsausbildung beginnen und allenfalls auch abschliessen, zu
Beginn der Ausbildung jedoch bereits invalid sind und mit dieser Ausbildung
nicht dieselben Verdienstmöglichkeiten realisieren können wie eine
nichtbehinderte Person mit derselben Ausbildung. Nach Ziff. 3037 KSIH ist als
"Erwerb von zureichenden beruflichen Kenntnissen" die abgeschlossene
Berufsausbildung zu betrachten. Dazu gehören auch Anlehren, wenn sie auf einem
besonderen, der Invalidität angepassten Bildungsweg ungefähr die gleichen
Kenntnisse vermitteln wie eine eigentliche Lehre oder ordentliche Ausbildung
und den Versicherten in Bezug auf den späteren Verdienst praktisch die gleichen
Möglichkeiten eröffnen. Der jährlich aktualisierte Medianwert gemäss der
Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) wird den Versicherern
mit IV-Rundschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherungen mitgeteilt.

4.

4.1. Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind nach Art.
7 Abs. 2 ATSG ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung
zu berücksichtigen.

4.2. Aus den letztinstanzlich nachgereichten Ausbildungsberichten, wozu der
angefochtene Entscheid Anlass gegeben hat, geht hervor, dass der Einstieg in
die Ausbildung von der Beschwerdeführerin nur mit Mühe bewältigt wurde. Noch am
Ende des vierten Semesters brachte der Bewerter (E.________) die Bemerkung an,
die Beschwerdeführerin arbeite langsam. Aus den Unterlagen geht nicht direkt
hervor, warum die Ausbildung nicht mit einem Diplom abschlossen wurde, doch ist
davon auszugehen, dass die Langsamkeit zumindest eine erhebliche Rolle spielte.
Dafür finden sich Anknüpfungspunkte im Gutachten C.________, in dem ein
verlangsamtes Arbeitstempo seit der Jugendzeit geschildert worden ist. Die
bisherige sehr einfache Tätigkeit als ungelernte Fabrikarbeiterin sei sehr gut
an das kognitive Leistungsprofil der Versicherten  und an ihre
Persönlichkeitsstörung angepasst. Aus neuropsychologischer  und aus
psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht sei die bisherige Tätigkeit zeitlich
uneingeschränkt zumutbar. Es bestehe eine  gesamthafte Minderung der
Leistungsfähigkeit von 35 % von 100 % (Hervorhebungen im Original). Eine
entsprechende Arbeitsunfähigkeit sei seit dem Eintritt ins Erwerbsleben
anzunehmen. Krankheitsfremde Gesichtspunkte seien abgegrenzt worden und gingen
nicht in die Beurteilung der medizinisch-theoretischen Zumutbarkeit einer
allfälligen Tätigkeit ein.

4.3. Als Erwerb von zureichenden beruflichen Kenntnissen im Sinne von Art. 26
Abs. 1 IVV ist der Abschluss einer Berufsausbildung zu betrachten. Dazu gehören
auch Anlehren, wenn sie auf einem besonderen, der Invalidität angepassten
Bildungsweg ungefähr die gleichen Kenntnisse vermitteln wie eine eigentliche
Lehre oder ordentliche Ausbildung und den Versicherten in Bezug auf den
späteren Verdienst praktisch die gleichen Möglichkeiten eröffnen (ZAK 1974 S.
548 [Urteil I 320/73 vom 8. April 1974] und Rz. 3037 KSIH). Die
Beschwerdeführerin verfügt über eine Anlehre als Coiffeuse, welche heute einer
2-jährigen Ausbildung mit Berufsattest entspricht. Die Liste mit Berufen, für
die auch eine 2-jährige Lehre mit Berufsattest resp. Anlehre angeboten wird,
ist lang. Es gibt verschiedene Berufsfelder, die für Jugendliche, die
hauptsächlich praktisch begabt sind, bewusst auf eine einfachere
Berufsausbildung setzen. Würde im Rahmen von Ziff. 3037 KSIH als Erwerb von
zureichenden beruflichen Kenntnissen ausschliesslich ein ordentlicher
Lehrabschluss anerkannt, so erschiene dies im Einzelfall vorteilhaft (er). Es
würde aber ausser Acht lassen, dass die Invalidenversicherung
Erwerbsunfähigkeit und nicht Berufsunfähigkeit versichert. Darum stellt sich
nicht die Frage, warum die Beschwerdeführerin keine Berufslehre geschafft hat,
sondern in Anlehnung an ZAK 1974 S. 548 und Rz. 3037 KSIH vielmehr, ob die
Beschwerdeführerin ihre absolvierte Anlehre, durch die sie offensichtlich
zureichende berufliche Kenntnisse erworben hat, auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt "ummünzen" kann. Ob die Anlehre auf einem besonderen oder auf dem
"normalen" Bildungsweg gemacht wurde, kann mit Blick auf das IV-Ziel nicht
entscheidend sein.

5.

5.1. Bei der Beurteilung der Frage nach dem Vorliegen einer Frühinvalidität
kommt es nicht nur auf den Intelligenzquotienten an, welcher hier mit 73
Punkten knapp im Normbereich liegt. Vielmehr ist die Gesamtheit der
gesundheitlichen Beeinträchtigungen massgebend (ZAK 1982 S. 456 E. 1c in fine).
Gemäss verbindlicher Feststellung leidet die Beschwerdeführerin an kognitiven
Funktionsbeeinträchtigungen im Grenzbereich zwischen mittelschwer und leicht
bis mittelschwer, wobei die einfache Tätigkeit als  ungelernte Fabrikarbeiterin
"sehr gut an das kognitive Leistungsprofil angepasst ist". Daraus ergibt sich e
contrario, dass die qualifizierte Tätigkeit als angelernte Coiffeuse eine
unangepasste Tätigkeit darstellt. Dazu kommt, dass die medizinisch begründete
Arbeitsunfähigkeit seit Eintritt ins Erwerbsleben besteht, mithin sich schon
bei der Aufnahme der (An-) Lehre manifestiert hat. Es fällt auf, dass der
Beschwerdeführerin vor allem ihre Langsamkeit vorgehalten wurde, was Teil der
kognitiven Defizite ist. Bei dieser Sachlage ist es überwiegend wahrscheinlich,
dass die Beschwerdeführerin ihre erworbenen Fachkenntnisse als Coiffeuse
wirtschaftlich nicht gleichermassen wie andere Berufskolleginnen verwerten
konnte. Dies wird durch das eingeholte psychiatrisch-fachpsychologische
Gutachten C.________/D.________ einwandfrei ausgewiesen, wonach die
gesundheitliche Beeinträchtigung in einer Entwicklungsstörung mit kognitiven
Funktionsbeeinträchtigungen und einer ängstlichen (vermeidenden)
Persönlichkeitsstörung besteht. Diese Beeinträchtigungen bestanden bei der
Beschwerdeführerin seit je. Dementsprechend gaben die Experten denn auch eine
Minderung der Leistungsfähigkeit ab Eintritt ins Erwerbsleben an.

5.2. Die Beschwerdeführerin ist somit als Frühinvalide zu betrachten und hat
Anrecht darauf, dass dem Einkommensvergleich der nach dem Alter abgestufte
Tabellenlohn nach Art. 26 Abs. 1 IVV zugrunde gelegt wird. Im Zeitpunkt des
Verfügungserlasses war die Versicherte über 30 Jahre alt (47-jährig) und hat
demnach Anspruch auf Berücksichtigung des 100-prozentigen LSE-Erwerbseinkommens
als Validenlohn. Gemäss dem IV-Rundschreiben Nr. 294 des Bundesamtes für
Sozialversicherungen betrug der Tabellenlohn 2011 Fr. 75'000.- pro Jahr und
wurde auf den 1. Januar 2012 auf Fr. 77'000.- festgesetzt (IV-Rundschreiben Nr.
303 vom 7. Dezember 2011). Bei einem massgeblichen Invalideneinkommen von Fr.
32'245.90 gemäss zutreffender vorinstanzlicher Erwägung 4.6.2 führt dies zu
einem Invaliditätsgrad von 57 % bis 31. Dezember 2011 und 58 % ab 1. Januar
2012 und damit zum Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Da der
Rentenanspruch nach Art. 29 Abs. 1 IVG frühestens nach Ablauf von sechs Monaten
nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs - mithin der Anmeldung am 3. Februar
2011 beim zuständigen Versicherungsträger (Art. 29 Abs. 1 ATSG) - eintritt,
besteht er ab 1. August 2011.

6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 19. Juni 2014 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 18. Februar 2014
werden aufgehoben. Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine halbe
Invalidenrente ab 1. August 2011.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. Februar 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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