Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 579/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_579/2014

Urteil vom 10. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
nebenamtlicher Bundesrichter An. Brunner,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Stulz,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

 Swisscanto Sammelstiftung der Kantonalbanken,

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
4. Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1959 geborene A.________, seit 1982 bei der B.________ AG, als Leiterin
Auftragsarbeit, Spedition, Sekretariat und Lohnbüro tätig gewesen, meldete sich
am 27. Februar 2008 bei der Invalidenversicherung (IV) zum Rentenbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Aargau (fortan: IV-Stelle) tätigte daraufhin erste
medizinische und erwerbliche Abklärungen. Am 5. Juli 2008 erlitt A.________
einen Verkehrsunfall, wobei sie sich eine Wirbelsäulenverletzung (Pincerfraktur
Th8) zuzog. In der Folge klärte die IV-Stelle die gesundheitliche Situation
weiter ab, namentlich veranlasste sie beim Universitätsspital C.________ AG
eine neurologische und eine neuropsychologische Untersuchung (Gutachten vom 8.
Dezember 2011 und 13. April 2012) sowie - auf Empfehlung des Regionalen
Ärztlichen Dienstes (Stellungnahme vom 5. Juli 2012) hin - bei der
Gutachterstelle D.________ eine polydisziplinäre Begutachtung (Expertise vom
31. Dezember 2012). Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die
IV-Stelle mit Verfügung vom 16. September 2013 den Anspruch auf eine
Invalidenrente (Invaliditätsgrad von 20 %).

B. 
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 4. Juni 2014 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________
die Aufhebung des kantonalen Entscheides und die rückwirkende Zusprechung einer
halben Invalidenrente. Eventualiter sei die Sache zur Ergänzung des
Sachverhalts und zu neuem Entscheid an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Die Beschwerdegegnerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während die
Swisscanto und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine
Vernehmlassung verzichten.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E.
1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S.
140).

1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2
BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat die
Beschwerde führende Person genau darzulegen. Dazu genügt es nicht, einen von
den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu
behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern (BGE 137 II 353 E. 5.1
S. 356; SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44, 9C_779/2010 E. 1.1.2 [nicht publ. in: BGE
137 V 446]).

1.3. Die gestützt auf medizinische Akten gerichtlich festgestellte
Arbeitsfähigkeit ist Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Rechtsfragen
sind die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die
Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG)
und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1
S. 232). Die konkrete und die antizipierte Beweiswürdigung sind Tatfragen
(Urteile 9C_204/2009 vom 6. Juli 2009 E. 4.1, nicht publ. in: BGE 135 V 254,
aber in: SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164; 9C_1019/2010 vom 30. März 2011 E. 1.2 f.).

1.4. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) darf sich die
Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder über die (den
beweisrechtlichen Anforderungen genügenden) medizinischen
Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen
und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten
sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Die
medizinischen Fachpersonen und die Organe der Rechtsanwendung prüfen die
Arbeitsfähigkeit je aus ihrer Sicht (zur amtlichen Publikation bestimmtes
Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 E. 5.2.1; BGE 140 V 193 E. 3 S. 194 ff.; je
mit Hinweisen).

2.

2.1. Das kantonale Gericht erwog, die Beschwerdegegnerin habe auf das Gutachten
der Gutachterstelle D.________ abgestellt, sei jedoch von der Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit aus neurologischer und psychiatrischer Sicht abgewichen. Was
die neurologische Beurteilung der Experten der Gutachterstelle D.________
betreffe, wonach aufgrund der Stressabhängigkeit der Angstsymptome und der
epileptischen Anfälle eine Arbeitseinschränkung von 50 % bestehe, erscheine
nicht nachvollziehbar, weshalb in einer angepassten, stressfreien Tätigkeit
keine volle Arbeitsfähigkeit bestehen soll. Deshalb sei diesbezüglich dem
neurologischen Gutachten des Universitätsspitals C.________ AG zu folgen,
welches von einer vollen Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit
ausgehe. Insoweit sei die Beschwerdegegnerin zu Recht vom Gutachten der
Gutachterstelle D.________ abgewichen. Was die psychiatrische Beurteilung
betreffe, habe die Beschwerdegegnerin bezüglich der Diagnose Neurasthenie
prüfen dürfen, ob eine willentliche Überwindbarkeit möglich sei. Hingegen hätte
die Beschwerdegegnerin als Verwaltungsbehörde weder von sich aus das Vorliegen
einer Persönlichkeitsstörung verneinen noch die Auswirkungen einer solchen
Diagnose auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in Abweichung vom
psychiatrischen Teilgutachten der Gutachterstelle D.________ beurteilen dürfen.
Dennoch gelangte das kantonale Gericht zum Schluss, die angefochtene Verfügung
sei im Ergebnis zu schützen. Zur Begründung führte es aus, aufgrund der vagen
Darlegungen im psychiatrischen Teilgutachten sei nicht mit dem Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit vom Bestehen einer Persönlichkeitsstörung
auszugehen.

2.2. Die Beschwerdeführerin rügt, der medizinische Sachverhalt sei in
Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes durch Verwaltung und kantonales Gericht
ungenügend abgeklärt worden. Die Tatsache, dass die Gutachter der
Gutachterstelle D.________ mittels einer einmaligen Untersuchung nicht zu einer
abschliessenden psychiatrischen Diagnose gelangt seien, sei darauf
zurückzuführen, dass die Beschwerdegegnerin die Abklärungen einseitig auf die
Epilepsie fokussiert und damit eine lückenhafte medizinische Dokumentation
vorgelegen habe, obwohl schon lange auch Hinweise auf eine psychische
Problematik bestanden hätten. Die Abklärung sei auch insofern nicht vollständig
gewesen, als nach den von den Gutachtern der Gutachterstelle D.________
empfohlenen medizinischen Massnahmen eine (neue) Beurteilung der
Restarbeitsfähigkeit hätte erfolgen sollen, was nicht geschehen sei.
Schliesslich sei die Vorinstanz in eine willkürliche Beweiswürdigung verfallen,
als sie in Abweichung von der im Gutachten der Gutachterstelle D.________
vorgenommenen gesamtheitlichen Würdigung der neurologisch-psychiatrischen
Störung die einzelnen Beschwerden und deren Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit isoliert betrachtet habe.

3.

3.1. Im Gutachten der Gutachterstelle D.________ vom 31. Dezember 2012 wurden
folgende Diagnosen mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit gestellt: 1. Verdacht
auf kombinierte Persönlichkeitsstörung mit abhängigen und ängstlich
vermeidenden Zügen (ICD-10: F61.0); 2. Neurasthenie (ICD-10: F48.0); 3.
Symptomatische Epilepsie mit sekundär-generalisierten Anfällen (ICD-10: G40.8)
nach wahrscheinlich viraler Encephalitis 02/2005, seit 2008 unter Topiramat 25
mg anfallsfrei; 4. Chronisches thorakovertebrales Schmerzsyndrom (ICD-10:
M54.6) bei St. n. Verkehrsunfall mit Pincer-Fraktur Th8 am 05.07.2008 und
Versuch einer Vertebroplastik, sekundäre offene überbrückende dorsale
Stabilisation Th7 - Th9 am 06.07.2008, Dekompression Th6/7 via lateraler
Laminotomie und Flavektomie, aktuell keine klinischen und radiomorphologischen
Hinweise auf segmentale Instabilität; sowie 5. Chronische
Spannungskopfschmerzen (ICD-10: G44.2).
In der Gesamtbeurteilung hielten die Gutachter der Gutachterstelle D.________
fest, aus neurologischer Sicht liege wahrscheinlich eine genuine Epilepsie vor,
welche aber kompliziert werde durch überlagerte psychogene Anfälle respektive
eine Verarbeitungsstörung im Rahmen einer psychischen Problematik. Eine breite
Differentialdiagnose bezüglich Epilepsie sei indes weiterhin offen. Aus
psychiatrischer Sicht bestünden eine Neurasthenie und der dringende Verdacht
auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit abhängigen und
ängstlich-vermeidenden Zügen. Aus streng neurologischer Sicht sei bei
Anfallsfreiheit seit 2008 unter sehr geringer medikamentöser Therapie mit
Topiramat eine vor allem qualitative Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu
postulieren. Unter Berücksichtigung der eindrücklichen psychiatrischen
Komorbidität (Verdacht auf kombinierte Persönlichkeitsstörung, Neurasthenie)
bestehe aus gesamtmedizinischer Sicht jedoch (auch) für eine angepasste
Tätigkeit nur eine 50%ige Arbeitsfähigkeit. Dies lasse sich begründen mit der
allgemeinen Minderbelastbarkeit. Es bleibe offen, ob unter der gegenwärtigen
Therapie in einer normalen Alltags- und Berufsbelastung weiterhin
Anfallsfreiheit bestehen würde. Es bestehe der Verdacht, dass unter normalen
Berufsanforderungen wie in der bisherigen Tätigkeit zumindest aus
psychiatrischer Sicht eine rasche und vollständige Dekompensation eintreten
würde, dies zumindest so lange, als keine adäquate Behandlung stattfinde. Bei
der Beantwortung der Frage nach der Arbeitsunfähigkeit nahmen die Gutachter
hinsichtlich des angestammten Berufes deshalb seit 31. Mai 2006 eine
vollständige, für eine körperlich leichte und kognitiv wenig anforderungsreiche
Tätigkeit ohne Arbeit an Maschinen mit Fremd- oder Selbstgefährdung sowie
Schichtarbeit eine 50%ige Arbeitsunfähigkeit ebenfalls seit 31. Mai 2006 an,
ausgenommen eine vorübergehende, sechsmonatige vollständige Arbeitsunfähigkeit
ab 5. Juli 2008 (Autounfall mit Rehabilitationsphase; ). Empfohlen werde aus
neurologischer Sicht namentlich die Umstellung der antiepileptischen Therapie,
was auch die psychotherapeutischen Bemühungen unterstützen würde und die
Neurasthenie günstig beeinflussen könnte. Psychiatrischerseits benötige die
Beschwerdeführerin dringend eine intensivere psychiatrisch-psychotherapeutische
Behandlung, gegebenenfalls mit antidepressiver Medikation. Sollte dies nichts
helfen, müsste eine intensive, stationäre oder teilstationäre
psychotherapeutische Behandlung erfolgen. Erst nach einer solchen Behandlung
könne die Restarbeitsfähigkeit definitiv beurteilt werden resp. könne mit einer
Verbesserung gerechnet werden. Deshalb werde eine erneute psychiatrische
Beurteilung in spätestens einem Jahr empfohlen.

3.2. Das kantonale Gericht ist vom Ergebnis des polydisziplinären
Administrativgutachtens vom 31. Dezember 2012 in mehrfacher Hinsicht
abgewichen:

3.2.1. Zum einen wich es von der neurologischen Beurteilung ab, weil nicht
nachvollziehbar erscheine, weshalb in einer stressfreien Tätigkeit keine volle
Arbeitsfähigkeit gegeben sein soll. Dem kann insoweit gefolgt werden, als die
gutachterlichen Ausführungen zur Arbeitsfähigkeit nicht ohne Weiteres
einleuchten: Während im Hauptgutachten die Frage aufgeworfen wird, ob "in
einer  normalen Alltags- und Berufsbelastung" weiterhin Anfallsfreiheit
bestünde, wobei die Gutachter die bisherige Tätigkeit offenbar als normal
einstuften ("unter normalen Berufsanforderungen wie in der bisherigen
Tätigkeit"; S. 34 des Hauptgutachtens), deuten die Ausführungen im
neurologischen Teilgutachten darauf hin, dass wegen der stressabhängigkeit der
epileptischen Anfälle auch in einer  adaptierten (d.h. u.a. stressfreien)
Tätigkeit lediglich eine 50%ige Arbeitsfähigkeit bestehe (S. 8 des
neurologischen Teilgutachtens). Allerdings ist die entsprechende Aussage im
Teilgutachten - auch mit Blick auf das Hauptgutachten - unklar formuliert bzw.
interpretationsbedürftig (gemäss Wortlaut des Teilgutachtens habe durch den
sozialen und beruflichen Rückzug die Stressabhängigkeit der epileptischen
Anfälle aufrecht erhalten werden können, wohingegen dieser Rückzug gemäss Ziff.
7.4 des Hauptgutachtens zur Stabilisierung der Epilepsie bzw. zur
Anfallsfreiheit geführt habe). Ist wie in concreto ein grundsätzlich
beweistaugliches Gutachten in einem Punkt unstimmig bzw. unklar, hätte nach der
Rechtsprechung erst einmal eine Rückfrage bei den Sachverständigen erfolgen
müssen. Indem die Vorinstanz das neurologische Teilgutachten bzw. die
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit ohne Weiterungen unberücksichtigt liess -
womit die polydisziplinäre Konsensbeurteilung als Ganzes in Frage gestellt wird
- und stattdessen auf das neurologische Gutachten des Universitätsspitals
C.________ AG vom 8. Dezember 2011 abstellte, hat es den bundesrechtlichen
Grundsatz der freien und umfassenden Beweiswürdigung verletzt (BGE 137 V 210 E.
6.2.2 S. 269).

3.2.2. Zum anderen ist das kantonale Gericht - entgegen dem Gutachten der
Gutachterstelle D.________ - nicht von einer kombinierten
Persönlichkeitsstörung ausgegangen, wobei es weder darlegte, der psychiatrische
Experte habe die entsprechenden klassifikatorischen Vorgaben nicht eingehalten
(erwähntes Urteil 9C_492/2014 E. 2.1.1), noch aufzeigte, aus welchen (anderen)
Gründen die Expertise den bundesrechtlichen Anforderungen an den Beweiswert
ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) nicht genügen
soll. Vielmehr hat es sein Abweichen damit begründet, das Bestehen einer
Persönlichkeitsstörung und damit einer sich daraus ergebenden Einschränkung der
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sei gestützt auf das Gutachten nicht mit dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. BGE 138 V 218 E. 6 S. 221
mit Hinweisen) erstellt. Dieses Vorgehen hält vor Bundesrecht nicht stand: Zur
Begründung, dass die Persönlichkeitsstörung nicht überwiegend wahrscheinlich
erstellt sei, hat die Vorinstanz in äusserst selektiver Weise (nur) jene
Passagen wiedergegeben, welche das Vorliegen einer solchen Störung als
lediglich möglich erscheinen lassen (z.B. "Ferner ist es  möglich, dass bei der
Explorandin eine kombinierte Persönlichkeitsstörung [...] besteht";
psychiatrisches Teilgutachten S. 10). Dabei hat sie den Umstand übergangen,
dass sich im Gutachten nebst sehr vage formulierten Aussagen auch solche
finden, welche weit über eine blosse Möglichkeit, dass eine solche Störung
besteht, hinausgehen ("besteht derzeit der  dringende Verdacht auf eine
kombinierte Persönlichkeitsstörung"; "Es liegt ein  klares Mischbildeiner
neurologischen und psychiatrischen Störung vor"; "Unter Berücksichtigung der
eindrücklichen psychiatrischen Komorbidität "; Hauptgutachten S. 34 und 35).

Vor allem aber hat sie bei ihrer Würdigung die Ausführungen zur
Arbeitsfähigkeit ausgeblendet. Diese zeigen, dass die Experten das Vorliegen
einer Persönlichkeitsstörung offenbar für derart erstellt erachteten, dass sie
davon bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit (vorbehaltlos) ausgegangen
sind. Mithin hat das kantonale Gericht, indem es gestützt auf einzelne Passagen
des Gutachtens der Gutachterstelle D.________ das Vorliegen einer
Persönlichkeitsstörung verneinte, die Beweise willkürlich (zum Begriff der
Willkür: BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f. mit Hinweisen) gewürdigt. Auch hier
wäre eine Rückfrage bei den Gutachtern angezeigt gewesen, da diese die
diagnostische Unsicherheit zwar transparent kommunizierten, was grundsätzlich
für den Beweiswert eines Gutachtens spricht, indes - bei gleichzeitiger
Verwendung widersprüchlicher Formulierungen - ohne zum Wahrscheinlichkeitsgrad
hinsichtlich des Bestehens der Persönlichkeitsstörung Stellung zu nehmen (vgl.
Susanne Bollinger, Der Beweiswert psychiatrischer Gutachten in der
Invalidenversicherung, Jusletter vom 31. Januar 2011, Rz. 24 mit Hinweisen;
Volker Dittmann, Qualitätskriterien psychiatrischer Gutachten. Was darf der
Jurist vom psychiatrischen Gutachter erwarten?, in: Ebner/Dittmann/Gravier/
Hoffmann/Raggenbass [Hrsg.], Psychiatrie und Recht, Zürich 2005, S. 154).

3.3. Nach dem Gesagten hält der angefochtene Entscheid vor Bundesrecht nicht
stand und ist aufzuheben. Aufgrund der unaufgelösten Unklarheiten (E. 3.2.1)
bzw. Unsicherheiten (E. 3.2.2) im Gutachten der Gutachterstelle D.________ und
weil die Gutachter sich explizit für weitere Abklärungen hinsichtlich der
psychischen Problematik bzw. deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit
aussprachen, hat eine Ergänzung des medizinischen Sachverhalts zu erfolgen. Die
Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie ergänzende Abklärungen
veranlasse und hiernach über den Leistungsanspruch neu entscheide.

3.4. Abschliessend ist auf Folgendes hinzuweisen: Zum einen sind bei der
ergänzenden Abklärung bzw. der Neubeurteilung - mit Blick auf die im Gutachten
der Gutachterstelle D.________ gestellte Diagnose Neurasthenie - den
Anforderungen der Rechtsprechung gemäss Urteil 9C_492/2014 Rechnung zu tragen.
Zum anderen ist - entgegen der Ansicht der Vorinstanz, welche von einem
frühstmöglichen Rentenbeginn per 1. August 2008 und damit von der Anwendbarkeit
des am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Art. 29 IVG ausging (E. 5.2.2 i.f.
des angefochtenen Entscheids) - aufgrund der im Februar 2008 erfolgten
Anmeldung zum Leistungsbezug gegebenenfalls (je nach Ablauf der einjährigen
Wartezeit) das bis 31. Dezember 2007 in Kraft gestandene Recht (namentlich
aArt. 48 Abs. 2 IVG) massgebend (BGE 138 V 475 E. 3.4 S. 480).

4. 
Die unterliegende Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 Satz 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 4. Juni 2014 wird aufgehoben. Die
Sache wird zum Vorgehen im Sinne der Erwägungen und neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Swisscanto Sammelstiftung der
Kantonalbanken, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. August 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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