Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 551/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_551/2014 {T 0/2}     

Urteil vom 13. März 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Ausgleichskasse des Kantons
St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A._________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV
(Berechnung des Leistungsanspruchs),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 1. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 29. Juni 2012 sprach die Sozialversicherungsanstalt des
Kantons St. Gallen, Ausgleichskasse (nachfolgend: Durchführungsstelle)
A._________ Ergänzungsleistungen zur Altersrente der AHV von monatlich Fr.
1'155.-- (Fr. 738.-- [nach Bundesrecht] + Fr. 417.-- [nach kantonalem Recht])
ab 1. des Monats zu. Mit Verfügung vom 27. Dezember 2012 setzte sie die
Leistungen ab 1. Januar 2013 auf Fr. 1'171.-- (Fr. 754.-- +    Fr. 417.--)
fest. Einnahmeseitig berücksichtigte sie Liegenschaftserträge von Fr. 32'520.--
(Eigenmietwert des vom Ansprecher zusammen mit der Ehefrau bewohnten
Einfamilienhauses), ausgabeseitig einen Mietzinsanteil von Fr. 20'000.-- (Fr.
15'000.-- + erhöhter Mietzinsanteil von Fr. 5'000.-- nach kantonalem Recht)
sowie Liegenschaftsaufwände (Hypothekarzinsen und Gebäudeunterhaltskosten)
von    Fr. 20'709.-- (total Fr. 40'709.--). Mit Einspracheentscheid vom 18.
März 2013 hielt die Durchführungsstelle an ihren Verfügungen vom 29. Juni und
27. Dezember 2012 fest.

B. 
Die Beschwerde des A._________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 1. Juli 2014 teilweise gut und sprach ihm ab 1. Juni
2012 eine ordentliche Ergänzungsleistung von Fr. 1'751.-- zu (Dispositiv-Ziffer
1); einen Anspruch auf eine ausserordentliche Ergänzungsleistung ab 1. Juni
2012 verneinte es (Dispositiv-Ziffer 2).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
Durchführungsstelle, der Entscheid vom 1. Juli 2014 sei aufzuheben.

Das kantonale Versicherungsgericht ersucht um Abweisung der Beschwerde, das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) um deren Gutheissung. A._________ hat
sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1. 
In Bezug auf die Streitgegenstand bildende Ergänzungsleistung nach Bundesrecht
(EL) und allenfalls kantonalem Recht ab 1. Juni 2012 und ab 1. Januar 2013 ist
einzig umstritten, ob der Eigenmietwert der selbstbewohnten Liegenschaft von
Fr. 32'520.-- bei den Einkünften aus unbeweglichem Vermögen (Art. 11 Abs. 1
lit. b ELG) zu berücksichtigen ist und wenn ja, ob derselbe Betrag als Ausgabe
nach Art. 10 Abs. 1 lit. b Ziffer 2 ELG (Mietzins einer Wohnung und die damit
zusammenhängenden Nebenkosten) anzuerkennen ist. Die Vorinstanz sprach dem
Eigenmietwert den Charakter eines Einkommens ab und bejahte auf der andern
Seite den Ausgabencharakter nur der Gebäudeunterhaltskosten und des
Hypothekarzinses. Damit setzt sie sich erklärtermassen in Widerspruch zur
Rechtsprechung (vgl. dazu nachstehend E. 4). Nach Auffassung der
Beschwerdeführerin und des BSV sind die Voraussetzungen für eine Praxisänderung
nicht gegeben.

2. 
Bei EL-Ansprechern, die im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung leben,
stellt der im Wohnsitzkanton geltende steuerliche Mietwert der Liegenschaft (in
der Regel die bei Drittvermietung erzielbaren Mietzinseinnahmen) vor einer
allfälligen prozentualen Kürzung wegen Selbstnutzung (Art. 12 Abs. 1 ELV; BGE
138 V 9) Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen nach Art. 11 Abs. 1 lit. b ELG
dar (BGE 138 V 17 E. 4.2.3 S. 22; 126 V 252 E. 2a S. 254 f. [zu Art. 3c Abs. 1
lit. b aELG]). Umgekehrt ist gestützt auf Art. 10 Abs. 1 lit. b ELG ein
Mietzins (nach Ziffer 2 von höchstens 15 000 Franken bei Ehepaaren) als Ausgabe
anzuerkennen (BGE 126 V 252 E. 3 S. 257 und Urteil 9C_ 202/2009 vom 19. Oktober
2009 E. 3.2, in: SVR 2010 EL Nr. 1 S.1 [zu Art. 3b Abs. 1 lit. b und Art. 5
Abs. 1 lit. b aELG]; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts P 13/93 vom 27.
Oktober 1993 E. 2b [zu Art. 4 Abs. 1 lit. b und c aELG, in Kraft gestanden bis
31. Dezember 1996]; vgl. auch BGE 139 V 574 E. 3.3.3 S. 577 f.). Art. 6 des st.
gallischen Ergänzungsleistungsgesetzes vom 22. September 1991 (sGS 351.5)
erhöht diesen Betrag um einen Drittel, was allenfalls - zusätzlich zur
Ergänzungsleistung nach Bundesrecht - Anspruch auf Ergänzungsleistungen nach
kantonalem Recht gibt. Im Zusammenhang ist weiter Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG von
Bedeutung, nach welcher Bestimmung bei allen Personen Gebäudeunterhaltskosten
und Hypothekarzinsen bis zur Höhe des Bruttoertrages der Liegenschaft als
Ausgaben anerkannt werden. Dabei gilt diese Schranke für die
Gebäudeunterhaltskosten und die Hypothekarzinsen zusammen. Bei Personen, die in
ihrer eigenen Wohnung oder in ihrem Haus leben, entspricht der den Abzug von
Gebäudeunterhaltskosten und Hypothekarzinsen begrenzende Bruttoertrag der
Liegenschaft dem nach Art. 11 Abs. 1 lit. b ELG massgebenden Mietwert (BGE 138
V 17 E. 4.2.1-3 S. 20 ff.).

3. 
Eine Rechtsprechung ist zu ändern, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der
ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten
Rechtsanschauungen entspricht (BGE 134 V 72 E. 3.3 S. 76 mit Hinweisen). Eine
Praxisänderung muss sich auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die -
vor allem im Interesse der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je
länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erachtete Rechtsanwendung
gehandhabt worden ist (vgl. BGE 135 I 79 E. 3 S. 82 mit Hinweisen).
Nach Auffassung der Vorinstanz sind die Voraussetzungen für eine Änderung der
Rechtsprechung erfüllt. Zum einen könne das Gesetz (Art. 11 Abs. 1 lit. b ELG,
Art. 10 Abs. 1 lit. b ELG sowie Art. 10 Abs. 3 lit. b ELG) nur so verstanden
werden, dass bei einem in seiner eigenen Liegenschaft wohnenden EL-Ansprecher
lediglich die effektiven Wohnkosten, nämlich Hypothekarzinsen und
Gebäudeunterhaltskosten, als Ausgaben anzuerkennen seien, d.h. der
Eigenmietwert bei der Anspruchsberechnung weder als fiktive Einnahme noch als
fiktiver (Eigen-) Mietzins zu berücksichtigen sei (in gleichem Sinne Ralph
Jöhl, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2.
Aufl. 2007, S. 1700 f. Rz. 95 und 96 sowie S. 1780 Fn. 703 [zu Art. 3b Abs. 1
lit. b aELG, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2007]). Zu dieser besseren
Erkenntnis der ratio legis kämen veränderte Verhältnisse hinzu. Die
Hypothekarzinsen seien in der Vergangenheit weit höher gewesen als im
interessierenden Zeitraum. Es habe daher ein relatives Gleichgewicht zwischen
Eigenmietwert und zu bezahlenden Hypothekarzinsen bestanden, was eine
"Netto-Ausgabe" zur Folge gehabt habe. Bei den aktuellen tiefen
Hypothekarzinsen resultiere dagegen eine unter Umständen beträchtliche "
Netto-Einnahme", wodurch der Eigenheimbewohner erheblich schlechter gestellt
sei als der Mieter.

3.1. Der Begriff "Einkünfte" (aus unbeweglichem Vermögen) ist in erster Linie
so zu verstehen, dass effektiv Geld zufliesst, was bei selbstgenutztem
Wohneigentum in Bezug auf die "Miete" nicht der Fall ist, wie die Vorinstanz
richtig festhält. Dieser Wortlaut schliesst indessen nicht schlechthin aus, bei
Personen, die ihre Liegenschaft selbst bewohnen, von einem Ertrag (aus
unbeweglichem Vermögen) in Form von nicht zu bezahlenden, das Einkommen und
übrige Vermögen somit nicht schmälernden Mietzinsen auszugehen, jedenfalls
insofern, als im Gegenzug die mit der Wohnnutzung verbundenen Kosten für den
Gebäudeunterhalt sowie Hypothekarzinsen als Ausgaben anerkannt werden (vgl.
Urteil 9C_862/2013 vom 19. Februar 2014 E. 5.3). Dies gilt insbesondere unter
dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung mit Personen, die ihr Haus oder ihre
Wohnung vermieten und selber anderswo als Mieter wohnen (vgl. BGE 138 V 9 E.
4.4 S. 16 in fine). Die Beschwerdeführerin selber verweist auf Art. 21 Abs. 1
lit. b des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer
(DBG; SR 642.11), wonach der Mietwert von Liegenschaften oder
Liegenschaftsteilen, die aufgrund von Eigentum oder eines unentgeltlichen
Nutzungsrechts für den Eigengebrauch zur Verfügung stehen, steuerbarer Ertrag
aus unbeweglichem Vermögen darstellt. Dabei handelt es sich nicht um ein
fiktives, sondern ein echtes (Natural-Einkommen (Urteil 2A.126/1992 vom 19.
Februar 1993 E. 2a mit Hinweisen auf die Lehre, in: ASA 63 S. 155).

3.2. Aus der Entstehungsgeschichte der heutigen gesetzlichen Regelung
(einschliesslich der Materialien zum ELG vom 19. März 1965 [AS 1965 537] und zu
den seitherigen Revisionen, u.a. vom 4. Oktober 1985 [AS 1985 2017], 20. Juni
1997 [AS 1997 2952] und 6. Oktober 2006 [AS 2007 6055]) ergeben sich keine
Hinweise, dass eine Anrechnung des Mietwertes der selbstbewohnten Liegenschaft
als Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen nach Art. 11 Abs. 1 lit. b ELG
(früher: Art. 3 Abs. 1 lit. b bzw. Art. 3c Abs. 1 lit. b aELG) ausgeschlossen
werden sollte. Erstmals im Urteil P 4/66 vom 11. Januar 1967 (ZAK 1967 S. 234)
bestätigte das Eidg. Versicherungsgericht die Verwaltungspraxis, wonach das
Wohnen in der eigenen Liegenschaft - i.c. bestand ein unentgeltliches Wohnrecht
- anrechenbaren Vermögensertrag darstellt. Im Urteil P 36/67 vom 15. Dezember
1967 (ZAK 1968 S. 246) anerkannte das Gericht aus Gründen der Gleichbehandlung
mit Personen, die ihr Haus oder ihre Wohnung vermieten und selber anderswo als
Mieter wohnen, einen Mietzinsabzug in der vom massgebenden kantonalen Recht
nach Art. 4 lit. c aELG festgesetzten Höhe.

3.3. Der Gesetzgeber hat im Rahmen der verschiedenen Revisionen darauf
verzichtet, eine andere Regelung für Personen zu schaffen, die in der eigenen
Liegenschaft leben. Dies ist als Bestätigung der Gerichts- und
Verwaltungspraxis zu werten, wonach bei solchen EL-Ansprechern bei den
Einnahmen ein Eigenmietwert und bei den Ausgaben neben Gebäudeunterhaltskosten
und Hypothekarzinsen ein (Eigen-) Mietzins zu berücksichtigen ist. Insofern
lässt sich aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 lit. b ELG, wo von "Mietzins"
(einer Wohnung und die damit zusammenhängenden Nebenkosten) die Rede ist, den
die betreffende Person wohl nicht effektiv zahlt, aber in natura konsumiert,
nichts zugunsten einer Praxisänderung ableiten. Insofern kann den Ausführungen
im kantonalen Entscheid nicht gefolgt werden. Die Beschränkung des
Mietzinsabzuges, der tiefer sein kann als der Mietwert der (selbstbewohnten)
Liegenschaft, ist unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung mit Personen,
die ihr Haus oder ihre Wohnung vermieten und selber anderswo als Mieter wohnen,
als vom Gesetzgeber gewollt hinzunehmen (Art. 190 BV).

3.4. Die vorinstanzliche Auffassung, weshalb auch aus teleologischer Sicht die
geltende Rechtsprechung zu ändern sei, beruht ausdrücklich auf der Hypothese,
dass der anrechenbare Eigenmietwert der (selbstbewohnten) Liegenschaft grösser
ist als die Summe aus Mietzins, Gebäudeunterhaltskosten und Hypothekarzinsen,
soweit als Ausgaben anerkannt. Ein solcher Tatbestand liegt indessen nicht vor
(vgl. Sachverhalt lit. A [Fr. 32'520.-- < Fr. 15'000.-- resp. Fr. 20'000.--
{bundes- und kantonalrechtliche Grösse} + Fr. 20'709.--]). Auf die
diesbezüglichen Erwägungen im angefochtenen Entscheid ist daher nicht weiter
einzugehen.

Es besteht somit kein Grund für eine Praxisänderung, was zur Gutheissung der
Beschwerde führt.

4. 
Ausgangsgemäss hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 1. Juli 2014 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid
der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Ausgleichskasse, vom 18.
März 2013 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. März 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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