Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 519/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_519/2014

Urteil vom 14. Oktober 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner,
nebenamtlicher Bundesrichter An. Brunner,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

 A.________, vertreten durch Procap für Menschen mit Handicap,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 10. Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 

A.a. A.________ meldete sich im November 2004 unter Hinweis auf
Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons St. Gallen tätigte Abklärungen in erwerblicher und
medizinischer Hinsicht. Mit Verfügung vom 14. Februar 2004 (recte: 2005)
verneinte sie einen Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine Rente.
Nachdem der Versicherte gegen den ablehnenden Entscheid Einsprache erhoben
hatte, widerrief die IV-Stelle am 24. Juni 2005 ihre Verfügung und beauftragte
die Medizinische Abklärungsstelle (im Folgenden: MEDAS) mit einer Begutachtung.
Gestützt auf das am 14. Juni 2006 erstattete Gutachten verneinte die IV-Stelle,
nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens, einen Leistungsanspruch
(berufliche Massnahmen und Rente; Verfügungen vom 27. Oktober 2006).

A.b. Im Juni 2007 meldete sich der Versicherte erneut zum Leistungsbezug an.
Mit Verfügung vom 26. Februar 2008 trat die IV-Stelle darauf nicht ein.

A.c. Während einer stationären psychiatrischen Behandlung stellte der
Versicherte am 16. Juli 2008 ein weiteres Leistungsbegehren. Die IV-Stelle nahm
ärztliche Berichte, insbesondere zum psychischen Gesundheitszustand des
Versicherten, zu den Akten und gab bei der MEDAS ein polydisziplinäres
Gutachten in Auftrag (erstattet am 3. März 2010). Sie holte weitere Berichte
bei den behandelnden psychiatrischen Fachärzten des Psychiatrie-Zentrums
B.________ (Bericht vom 10. April 2012) und beim Regionalen Ärztlichen Dienst
(RAD, Bericht vom 18. April 2012) ein. Mit Vorbescheid vom 20. August 2012
stellte sie die Verneinung des Rentenanspruchs in Aussicht. Daran hielt sie mit
Verfügung vom 1. Oktober 2012 fest.

B. 
A.________ liess Beschwerde erheben und beantragen, die Verfügung sei
aufzuheben und es sei ihm eine ganze Rente zuzusprechen. Eventualiter seien
zusätzliche medizinische Abklärungen vorzunehmen. Gleichzeitig legte er einen
weiteren Bericht des Psychiatrie-Zentrums B.________ vom 25. Januar 2013 auf.
Das angerufene Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die Beschwerde
gut, hob die Verfügung vom 1. Oktober 2012 auf und sprach dem Versicherten mit
Wirkung ab 1. Januar 2009 eine ganze Rente zu. Es wies die Sache zur
Festsetzung der Rentenhöhe sowie zur Ausrichtung der geschuldeten Leistungen an
die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 10. Juni 2014).

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und ihre Verfügung
vom 1. Oktober 2012 zu bestätigen.

A.________ und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist
somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen oder es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 140 V 136 E.
1.1 S. 137 f.). Das Bundesgericht prüft indessen, unter Berücksichtigung der
allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die
geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht
geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280; vgl. auch BGE 140 V
136 E. 1.1 S. 138).

1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2
BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat die
beschwerdeführende Person genau darzulegen. Dazu genügt es nicht, einen von den
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu
behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern (BGE 137 II 353 E. 5.1
S. 356; Urteil 9C_779/2010 vom 30. September 2011 E. 1.1.2 mit Hinweisen, nicht
publ. in: BGE 137 V 446, aber in: SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44).
Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig,
wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I
8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_967/2008 vom 5. Januar 2009 E. 5.1). Diese Grundsätze
gelten auch in Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung (Urteile 9C_999/2010 vom
14. Februar 2011 E. 1 und 9C_735/2010 vom 21. Oktober 2010 E. 3; Urteil 9C_779/
2010 vom 30. September 2011 E. 1.1.2 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 137 V
446, aber in: SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44).

2.

2.1. Streitig ist der Rentenanspruch des Versicherten. Dabei ist zu prüfen, ob
das kantonale Gericht den Gesundheitszustand (Art. 3 Abs. 1 ATSG) und die
Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit (Art. 6 und Art. 7 ATSG) als wesentliche
Voraussetzungen für die Annahme einer Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG und Art.
4 Abs. 1 IVG) zutreffend beurteilt hat.

2.2. Im angefochtenen Entscheid werden die gesetzliche Bestimmung zum Umfang
des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 2 IVG) und die ärztliche Aufgabe bei der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261 mit Hinweisen) richtig
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.3. Zur Annahme einer Invalidität braucht es in jedem Fall ein medizinisches
Substrat, das (fach) ärztlicherseits schlüssig festgestellt wird und
nachgewiesenermassen die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wesentlich
beeinträchtigt. Je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im
Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen, desto
ausgeprägter muss eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von
Krankheitswert vorhanden sein. Das bedeutet, dass das klinische Beschwerdebild
nicht einzig in Beeinträchtigungen, welche von den belastenden soziokulturellen
und psychosozialen Faktoren herrühren, bestehen darf, sondern davon
psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen hat, z.B. eine von
depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde Depression im
fachmedizinischen Sinne oder einen damit vergleichbaren psychischen
Leidenszustand. Solche von der soziokulturellen oder psychosozialen
Belastungssituation zu unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte
psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
sind unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann. Wo
der Gutachter dagegen im Wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den
psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung
finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer
Gesundheitsschaden gegeben. Ist anderseits eine psychische Störung von
Krankheitswert schlüssig erstellt, kommt der Frage zentrale Bedeutung zu, ob
und inwiefern, allenfalls bei geeigneter therapeutischer Behandlung, von der
versicherten Person trotz des Leidens willensmässig erwartet werden kann, zu
arbeiten (eventuell in einem geschützten Rahmen) und einem Erwerb nachzugehen (
BGE 127 V 294 E. 5a S. 299 f.; Urteil 9C_710/2011 vom 20. März 2012 E. 4.2).

2.4. Unabhängig davon, ob es sich um eine nachweisliche organische Pathologie
oder um ein unklares Beschwerdebild handelt, setzt ein Anspruch auf Leistungen
der Invalidenversicherung stets eine nachvollziehbare ärztliche Beurteilung der
Auswirkungen des Gesundheitsschadens auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
voraus. Dabei können - insbesondere unklaren Beschwerdebildern inhärente -
Abklärungs- und Beweisschwierigkeiten die Berücksichtigung weiterer Lebens- und
Aktivitätsbereiche wie etwa Freizeitverhalten oder familiäres Engagement
erfordern, um das Ausmass der Einschränkungen zu plausibilisieren (vgl. BGE 139
V 547 E. 9.1.3 S. 566), wobei auch fremdanamnestische Angaben zu
berücksichtigen sind. Ohne Einbezug solcher Indizien, wie sie im Rahmen der
festen Praxis zu den organisch nicht nachweisbaren unklaren Beschwerdebildern
bei der Prüfung eines sozialen Rückzuges regelmässig zu berücksichtigen sind,
ist eine ärztliche Arbeitsfähigkeitsbeurteilung nicht beweiskräftig. Bei
medizinisch unklaren Beschwerdebildern nimmt die Plausibilitätsprüfung
naturgemäss einen besonderen Stellenwert ein (BGE 140 V 290 E. 3.3.2 S. 297).

Die medizinischen Experten, denen eine entscheidende Rolle zukommt, haben im
Einzelnen zu begründen und mittels ihrer Feststellungen und Einschätzungen zu
Leidensdruck, psychischen Ressourcen oder funktionellen Defiziten darzulegen,
in welchem Ausmass die Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist, oder aber
festzuhalten, dass die Beantwortung dieser Frage - trotz Ausschöpfung aller
Möglichkeiten fachgerechter Exploration - nicht oder nicht sicher genug möglich
ist (vgl. ULRICH MEYER, Die psychiatrische Begutachtung als Angelpunkt der
juristischen Beurteilung: Entwicklung und Perspektiven, in: Gächter/Mosimann
[Hrsg.], Berufliche Vorsorge, Stellwerk der Sozialen Sicherheit, FS Hermann
Walser, 2013, S. 136). Bleiben die Auswirkungen eines objektivierbaren wie auch
eines nicht (bildgebend) fassbaren Leidens auf die Arbeitsfähigkeit trotz in
Nachachtung des Untersuchungsgrundsatzes sorgfältig durchgeführter Abklärungen
vage und unbestimmt, ist der der versicherten Person obliegende Beweis für die
Anspruchsgrundlage nicht geleistet und nicht zu erbringen und besteht kein
Leistungsanspruch. Mit anderen Worten wird bei Beweislosigkeit vermutet, dass
sich der geklagte Gesundheitsschaden nicht invalidisierend auswirkt (BGE 140 V
290 E. 4.1 S. 297 f.; 139 V 547 E. 8.1 S. 563).

3.

3.1. Es steht aufgrund des zweiten MEDAS-Gutachtens vom 3. März 2010 fest und
ist unbestritten, dass der Versicherte aufgrund seiner physischen
Beeinträchtigungen (persistierende chronische Lumboischialgie rechts bei
altersphysiologischen Veränderungen, lumbosakrale Chondrose, Diskusprotrusion
L4/5, aktivierte Spondylarthrose der unteren lumbalen Segmente, beginnende
Varusgonarthrose links mit Knorpelschaden 3. Grades und leichter
retropatellärer Chondropathie [zum Begutachtungszeitpunkt symptomlos]) die
frühere, bis 2004 ausgeübte Tätigkeit als Maschinenführer nicht mehr ausüben
kann, indessen in einer leidensangepassten, körperlich leichten bis
mittelschweren und wechselbelastenden Tätigkeit voll arbeitsfähig ist.

3.2. Streitig und zu prüfen ist einzig der psychische Gesundheitszustand und
die daraus allenfalls resultierende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit.

4.

4.1. Im Gutachten der MEDAS vom 3. März 2010 wird als psychiatrische
Hauptdiagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine
Disstress-Symptomatik bei psychosozialer Belastungssituation mit depressiven
und aggressiven Elementen festgehalten. Differentialdiagnostisch könne zwischen
einer andauernden Persönlichkeitsänderung (ICD-10 F62.8) und einer
Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten
(ICD-10 F43.25) noch nicht genügend unterschieden werden. Die Arbeitsfähigkeit
aus psychiatrischer Sicht könne aufgrund der diagnostischen Unklarheiten nur
ungenügend quantifiziert werden; gegenüber dem Vorgutachten aus dem Jahr 2006
sei jedenfalls eine Verschlechterung eingetreten; die Restarbeitsfähigkeit
liege sicher unter 70 %. MEDAS-Gutachter Dr. med. C.________, FMH Psychiatrie
und Psychotherapie, legte im psychiatrischen Teilgutachten vom 23. November
2009 und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 8. November 2010 dar, dass es
sich bei einer Anpassungsstörung in der Regel um eine reaktive Störung handle
und bei entsprechender biopsychosozialer Behandlung mit einer Genesung zu
rechnen sei; zum Untersuchungszeitpunkt habe die Arbeitsfähigkeit diesfalls
weniger als 70 % betragen. Werde aber von der Diagnose einer andauernden
Persönlichkeitsänderung ausgegangen, impliziere dies schwere krankheitsbedingte
Verhaltensstörungen und -auffälligkeiten mit konsekutiver Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit. Diesfalls liege die Restarbeitsfähigkeit unter 30 %.

In der Folge holte die IV-Stelle bei den behandelnden Ärzten des
Psychiatrie-Zentrums B.________, Dr. med. D.________, Assistenzärztin, und Dr.
med. E.________, Oberarzt, einen Bericht vom 10. April 2012 ein. Diese
diagnostizierten eine andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem
Schmerzsyndrom (ICD-10 F62.8) sowie eine rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig mittelgradige Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10 F33.11), und
äusserten den Verdacht auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10
F60.8). Dem Versicherten wurde eine vollständige Arbeitsfähigkeit ab 20. Mai
2008 (Eintritt in die Klinik F.________) bis auf Weiteres attestiert. Aufgrund
dieses Berichtes der behandelnden Ärzte gelangte RAD-Arzt Dr. med. G.________
in seiner Stellungnahme vom 18. April 2012 zum Ergebnis, das MEDAS-Gutachten
vom 3. März 2010 sei dahingehend zu interpretieren, dass eine schwere dauernde
psychische Beeinträchtigung mit einer Arbeitsfähigkeit von weniger als 30 % auf
dem freien Arbeitsmarkt vorliege, welche mindestens seit Mai 2008 objektiviert
sei. In ihrer vom Versicherten im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren
eingereichten Stellungnahme vom 25. Januar 2013 stellten Dres. med. D.________
und E.________ neu zusätzlich die Hauptdiagnose "kombinierte
Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und impulsiven Anteilen (ICD-10
F61.0) "; dabei legten sie die Arbeitsfähigkeit auf unter 30 % fest.

4.2. Das kantonale Gericht stellte im Rahmen der Beurteilung des
Leistungsanspruches fest, dass der Beschwerdegegner an einer kombinierten
Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F61.0), einer andauernden
Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom (ICD-10 F62.8) sowie
einer rezidivierenden depressiven Störung mit somatischem Syndrom (ICD-10
F33.1) leidet. Die psychischen Beschwerden seien nicht bloss die
Begleiterscheinung eines Schmerzsyndroms, sondern hätten eigenständigen
Charakter. Eine Erkrankung mit primärer Schmerzkomponente stehe nicht im
Zentrum der erhobenen Diagnosen. Bei dieser Sachlage finde die vom
Bundesgericht zu den pathogenetisch (ätiologisch) unklaren syndromalen
Zuständen entwickelte Rechtsprechung keine Anwendung. Weiter bestehe das
klinische Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen, welche von den
belastenden soziokulturellen Faktoren herrührten; es lägen davon zu
unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte psychische Störungen mit
Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit vor. Dementsprechend sei von
einer Restarbeitsfähigkeit von weniger als 30 % auszugehen.

5.

5.1. Die IV-Stelle macht geltend, die vorinstanzliche Feststellung, wonach der
Versicherte an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F61.0) leidet,
sei offensichtlich unrichtig.

5.2. Die entsprechende Diagnose findet sich in den früheren ärztlichen
Stellungnahmen, insbesondere im MEDAS-Gutachten vom 3. März 2010, nicht. Sie
wurde erstmals im Bericht der behandelnden Ärzte des Psychiatrie-Zentrums
B.________ vom 25. Januar 2013 gestellt. Darin erwähnten Dres. med. D.________
und E.________, dass sie bei der letzten Beurteilung im April 2012 den Verdacht
auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ICD-10 F60.8 gehabt hätten und im
weiteren Verlauf zum Ergebnis gelangt seien, dass beim Beschwerdegegner eine
Persönlichkeitsstörung vorliege, die ihn in der Lebensführung schwer
beeinträchtige, die aber nicht die spezifischen Symptombilder der in ICD-10 F60
beschriebenen Störungen aufweise. In allen Beurteilungen seien Kriterien einer
Persönlichkeitsstörung aufgeführt. Der Lebenslauf des Versicherten mit
wiederholten Brüchen und Neuorientierungen in der Arbeitswelt liessen eine
vorbestehende Persönlichkeitsstörung plausibel erscheinen.

5.3. Diese ärztlichen Ausführungen genügen nicht, um in der hier massgebenden
Zeit bis zum Verfügungserlass (1. Oktober 2012) von einer kombinierten
Persönlichkeitsstörung auszugehen. Vorab fällt auf, dass die Diagnose trotz den
getätigten umfangreichen medizinischen Abklärungen erstmals vier Monate nach
Verfügungserlass gestellt wurde. Sodann ist sie nicht nachvollziehbar
begründet, stützt sie sich doch im Wesentlichen darauf, dass sich in den
vorangehenden Beurteilungen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung fänden, was
nicht genügt, weil die Diagnose das Vorliegen sämtlicher hierfür erforderlichen
Merkmale voraussetzt. Ebenso wenig überzeugt, wenn die Ärzte erklären, die
Diagnose sei mit Blick auf den Lebenslauf des Versicherten "plausibel". So ist
beispielsweise nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer in Kindheit oder
Jugendzeit unter spezifischen Beeinträchtigungen gelitten hat - gegenteils hat
auch die zweite psychiatrische Exploration frühe psychotraumatische Ereignisse
ausdrücklich verneint und richtigerweise beigefügt, dass
Persönlichkeitsstörungen nach der ICD-Kodifizierung meist in der Kindheit oder
in der Adoleszenz in Erscheinung treten (psychiatrisches Gutachten des Dr. med.
C.________ vom 23. November 2009). Auch in der Folgezeit sind keine
schwerwiegenden traumatischen Begebenheiten im Leben des Beschwerdeführers
aktenkundig. Der in seiner Heimat gut ausgebildete Beschwerdeführer (8 Jahre
Schule, 4-jährige Lehre mit Abschluss) hat nach seiner Einreise in die Schweiz
im Jahr 1993 jahrelang an verschiedenen Stellen vollzeitig gearbeitet, seit
2002 als Maschinenführer, welche Arbeit er wegen Rückenproblemen nicht mehr
verrichten konnte. Von einem Nachweis, dass die (Persönlichkeits-) Störung von
langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen hat,
wie dies die ICD-Diagnose-Kriterien "in den meisten Fällen" vorsehen, kann hier
jedenfalls nicht gesprochen werden. Hinzu kommt, dass eine
Persönlichkeitsstörung, wie die Beschwerdeführerin zu Recht vorbringt, nicht zu
vereinbaren ist mit der von denselben Ärzten gleichzeitig diagnostizierten
andauernden Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom (ICD-10
F62.8), weil sich nach dem ICD-10-Klassifikationssystem eine andauernde
Persönlichkeitsänderung (F62) bei Personen  ohne vorbestehende
Persönlichkeitsstörung entwickelt.

6.

6.1. Streitig und zu prüfen verbleibt, ob die Vorinstanz beim Beschwerdegegner
zu Recht von der Diagnose einer andauernden Persönlichkeitsänderung bei
chronischem Schmerzsyndrom (ICD-10 F62.8) ausging.

6.2. Es steht aufgrund des psychiatrischen Teilgutachtens des Dr. med.
C.________ vom 23. November 2009 fest, dass das psychische Gleichgewicht des
Versicherten seit ca. Mitte 2008 durch psychosoziale Stressoren - nicht
gelungene Integration in den Erwerbsprozess, Statusverlust durch
Einkommenseinbusse, Verschlechterung der ehelichen Beziehung, Konflikte mit
Verwandten der Ehefrau, Schulden - labilisiert wurde. Während die behandelnden
Psychiater die daraus resultierende Disstress-Symptomatik als andauernde
Persönlichkeitsänderung (ICD-10 F62.8) qualifizierten, gelangte Dr. med.
C.________ zum Ergebnis, dass eine andauernde Persönlichkeitsänderung lediglich
differentialdiagnostisch neben einer Anpassungsstörung mit gemischter Störung
von Gefühlen und Sozialverhalten (ICD-10 F43.25) in Betracht zu ziehen sei. Er
führte dazu aus, dass eine Differenzierung aktuell noch nicht möglich sei und
er aufgrund der diagnostischen Unsicherheiten auch die Restarbeitsfähigkeit -
sie liege bei einer Anpassungsstörung unter 70 % und bei einer
Persönlichkeitsänderung unter 30 % - nicht abschliessend quantifizieren könne
(MEDAS-Gutachten vom 3. März 2010 und psychiatrisches Teilgutachten vom 23.
November 2009). Dies bestätigte er in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 8.
November 2010. Dr. med. C.________ stellte anlässlich seiner Untersuchung fest,
dass die kognitiven Fähigkeiten bzw. die Konzentrations- und Merkfähigkeit
erhalten seien (psychiatrisches Teilgutachten vom 23. November 2010). Er wies
darauf hin, dass sich die Diagnose einer Persönlichkeitsänderung zwar in den
Klinikberichten finde, aber nicht psychiatrisch schlüssig begründet worden sei.
Der Migrationshintergrund und der Arbeitsplatzverlust mit sozialer
Desintegration und entsprechender Zunahme des intrapsychischen Disstresses
genüge hierfür nicht. Des Weitern seien beim Beschwerdegegner aus Kindheit und
Jugend keine lang dauernden Disstresssituationen explorierbar, die die
Entwicklung einer andauernden Persönlichkeitsänderung begünstigen würden. Im
Weiteren Verlauf bestätigten die behandelnden Ärzte zwar die Diagnose einer
andauernden Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom (ICD-10
F62.8; Bericht vom 1. März/10. April 2012; vgl. auch Bericht des
Psychiatrie-Zentrums B.________ vom 25. Januar 2013). Indessen sind ihre
diesbezüglichen Aussagen hinsichtlich der Persönlichkeitsänderung entweder
nicht substantiiert oder nicht einsichtig: Aus dem kurzen Bericht vom 25.
Januar 2013 lässt sich dazu nichts entnehmen, weil er sich hinsichtlich der
Persönlichkeitsänderung darauf beschränkt, sie als Diagnose aufzuführen; die
unter "Stellungnahme" enthaltenen Ausführungen beziehen sich allesamt auf die
neu diagnostizierte kombinierte Persönlichkeitsstörung (vgl. dazu E. 5.3). Im
Bericht vom 1. März/10. April 2012 wird ausgeführt, es habe eine eigen- und
fremdanamnestisch erlebte Veränderung der Persönlichkeit stattgefunden, und der
Versicherte sei in seinem ganzen Erleben und kognitiv auf seine subjektiv
erlebte Beeinträchtigung und Stigmatisierung eingeengt; er könne keine engen
und vertrauensvollen persönlichen Beziehungen aufnehmen und beibehalten und sei
sozial isoliert. Gleichzeitig gaben die behandelnden Ärzte Dres. med.
E.________ und D.________ an, dass der Versicherte bewusstseinsklar und
allseits orientiert sei und keine Störung in Aufmerksamkeit oder Gedächtnis
habe. Er sei leicht affektarm, mittel ausgeprägt deprimiert, hoffnungslos,
dyphorisch gereizt und innerlich unruhig, mittel ausgeprägt affektlabil, leicht
antriebsarm und leicht antriebsgehemmt, mittel ausgeprägt motorisch unruhig,
leicht logorrhoisch sowie mittel ausgeprägt aggressiv. Weiter hielten die Ärzte
eine mittel ausgeprägte Störung der Vitalgefühle, mittel ausgeprägte Ein- und
Durchschlafstörungen sowie einen mittel ausgeprägten sozialen Rückzug fest.
Eine psychiatrisch schlüssige Begründung der diagnostizierten
Persönlichkeitsänderung fehlt damit nach wie vor. Denn trotz zusätzlicher
Abklärungen waren die Ärzte im weiteren Verlauf nach der MEDAS-Begutachtung
nicht in der Lage, die gesundheitlichen Einschränkungen zu plausibilisieren.
Unter diesen Umständen besteht kein Anlass für eine erneute Begutachtung. Sind
die Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit nicht hinreichend
erstellt, wirkt sich die diesbezügliche Beweislosigkeit zu Lasten der
Versicherten aus (vgl. dazu E. 2.4).

6.3. Zu der von Dr. med. C.________ lediglich differentialdiagnostisch neben
der andauernden Persönlichkeitsänderung in Betracht gezogenen Anpassungsstörung
mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (ICD-10 F43.25) nahmen
die behandelnden Ärzte nicht Stellung. Dr. med. C.________ äusserte sich im
Zusammenhang mit der Anpassungsstörung dahingehend, dass es sich in der Regel
um eine vorübergehende  reaktive Störung handle und beim Versicherten
jedenfalls vor allem psychosoziale Stressoren krankheitswirksam seien; eine
Ausnahme wurde nicht einmal ansatzweise in Betracht gezogen (vgl. Teilgutachten
vom 23. November 2009 und Stellungnahme vom 8. November 2010). Bei dieser
Sachlage fehlt es diesbezüglich von Vornherein an einer anspruchsrelevanten
Beeinträchtigung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit.

7.

7.1. Gestützt auf die Stellungnahme des RAD vom 18. April 2012 sowie die
Berichte der Dres. med. D.________ und E.________ vom 10. April 2012 und vom
25. Januar 2013 gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis, dass sich die psychisch
bedingten Beschwerden chronifiziert hätten und von den belastenden
soziokulturellen Faktoren zu unterscheidende und in diesem Sinne
verselbständigte psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit vorlägen.

7.2. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. In seiner Stellungnahme vom
18. April 2012 stellte sich zwar RAD-Arzt Dr. med. G.________ auf den
Standpunkt, das MEDAS-Gutachten vom 3. März 2010 (mit Ergänzung vom 8. November
2010) müsse dahingehend interpretiert werden, dass von einer schweren dauernden
psychischen Beeinträchtigung auszugehen sei, welche mindestens seit Mai 2008
(erste Hospitalisation in der Klinik F.________) objektiviert sei. Diese
Interpretation des RAD lässt ausser Acht, dass der psychiatrische
MEDAS-Gutachter Dr. med. C.________ von der durch ihn empfohlenen
medikamentösen antidepressiven und der integrierten
psychiatrisch-psychotherapeutischen Therapie (welche ziel- und
ressourcenorientiert sein und die Ehefrau einbeziehen sollte) bei guter
Compliance eine Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes des
Beschwerdegegners erwartete. Im Laufe der weiteren Entwicklung hielten zwar die
behandelnden Ärzte fest, dass sich die depressiven Symptome trotz gegebener
Compliance als therapieresistent erwiesen hätten. Allerdings ergibt sich aus
den Akten, dass lediglich alle zwei bis drei Wochen supportive
psychotherapeutische Gespräche stattfanden (im Übrigen ohne dass der empfohlene
Einbezug der Ehefrau aktenkundig wäre), welche Frequenz die Psychotherapie als
zu wenig engmaschig ausweist. Ebenso berichteten die behandelnden Ärzte, dass
eine medikamentöse Therapie mit mehreren Antidepressiva unterschiedlicher
Wirkungsweise ohne Erfolg "ausprobiert" worden sei, ohne dass dazu
substantiierte Angaben gemacht wurden (Bericht vom 10. April 2012). Angesichts
der - jedenfalls aktenkundlich - geringen Intensivität der unternommenen
Bemühungen kann von einer konsequenten Depressionstherapie, die auf eine
Ausschöpfung aller therapeutischen Möglichkeiten und damit auf die Resistenz
des Leidens schliessen liesse, nicht die Rede sein. Des Weitern enthalten die
Akten Hinweise auf Selbstlimitierungstendenzen, konnten doch keine beruflichen
Massnahmen durchgeführt werden, weil sich der Versicherte subjektiv nicht
arbeitsfähig fühlte (Mitteilung der IV-Stelle vom 16. Juni 2011. Dass die
psychischen Probleme durch invaliditätsfremde Faktoren bestimmt sind und
deshalb keine Invalidität zu begründen vermögen (vgl. E. 2.3 vorne), zeigte
sich sodann nicht nur anlässslich des ersten stationären Aufenthaltes in der
Klinik F.________ im Jahre 2008 (Bericht vom 13. November 2008), sondern auch
im Rahmen der Begutachtung durch die MEDAS Ende 2009, als eine Zunahme des
psychosozialen Disstresses (Vergrösserung des Schuldenberges, Verschlechterung
der Beziehung mit der Ehefrau etc.) und damit einhergehend eine
Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes festgehalten wurde
(psychiatrisches Teilgutachten vom 23. November 2009). Im Übrigen gehen auch
die behandelnden Ärzte in ihrem Bericht vom 10. April 2012 davon aus, dass es
sich bei der depressiven Problematik um eine reaktive Begleiterscheinung zur
Schmerzstörung handelt und damit nicht um ein selbstständiges, vom psychogenen
Schmerzsyndrom losgelöstes depressives Leiden.

8. 
Bei dieser Sachlage muss es mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass -
entgegen dem angefochtenen Entscheid - keine anspruchserhebliche Einschränkung
der Leistungsfähigkeit gegeben ist. Die Verfügung vom 1. Oktober 2012, mit
welcher die IV-Stelle einen Rentenanspruch verneint hat, ist demnach rechtens.

9. 
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Der obsiegenden IV-Stelle steht keine Parteientschädigung zu
(Art. 68 Abs. 3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 10. Juni 2014 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 1. Oktober 2012 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Oktober 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann

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