Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 492/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_492/2014

Urteil vom 3. Juni 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt David Husmann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zug,
Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug
vom 8. Mai 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1958 geborene A.________, Mutter von sechs erwachsenen Kindern (geb.
1979-1991), war von 1995 bis Mitte März 2012 als Küchengehilfin
teilerwerbstätig. Im Juni 2012 meldete sie sich zum Leistungsbezug bei der
Invalidenversicherung an. Dabei erklärte sie, an verschiedenartigen
gesundheitlichen Beschwerden zu leiden, welche sich rasch verschlimmerten
(unter anderem Schmerzen an Rücken und Extremitäten, Schlafstörungen,
Kraftlosigkeit und Niedergeschlagenheit). Die IV-Stelle des Kantons Zug klärte
den Sachverhalt ab und holte unter anderem ein psychiatrisches Gutachten des
Dr. B.________, vom 30. April 2013 ein. Hernach stellte sie fest, es bestehe
keine anspruchsbegründende Invalidität (Verfügung vom 26. Juni 2013).

B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die dagegen erhobene Beschwerde ab
(Entscheid vom 8. Mai 2014).

C.

C.a. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, die IV-Stelle sei zu verpflichten, ihr eine ganze
Invalidenrente auszurichten. Eventuell sei die Vorinstanz anzuweisen, ein
interdisziplinäres Gerichtsgutachten "unter Wahrung der Mitwirkungsrechte und
unter korrekter Fragestellung" einzuholen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. A.________ nimmt zur
Eingabe der Verwaltung Stellung. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
verzichtet auf eine Stellungnahme.

C.b. Die I. und die II. sozialrechtliche Abteilung haben zu folgenden
Rechtsfragen ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 1 BGG durchgeführt:

1.- Sind bei der Diagnostik anhaltender somatoformer Schmerzstörungen und
vergleichbarer psychosomatischer Störungen der Aspekt der funktionellen
Auswirkungen sowie die Ausschlussgründe nach BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 51 zu
berücksichtigen?
2.- Ist das bisherige Regel/Ausnahmemodell (Überwindbarkeitsvermutung; BGE 131
V 49 E. 1.2 S. 50) in Weiterführung der Rechtsprechung (BGE 139 V 547) durch
ein strukturiertes Beweisverfahren zu ersetzen und liegt demnach
Erwerbsunfähigkeit im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Satz 2 ATSG nur vor, wenn mittels
objektivierbarer Indikatoren nachgewiesen werden kann, dass der versicherten
Person keine Arbeitsleistung mehr zuzumuten ist?
3.- Ist im strukturierten Beweisverfahren der Nachweis des funktionellen
Schweregrades und der Konsistenz der Gesundheitsschädigung unter Verwendung der
massgeblichen Indikatoren zu erbringen ?

Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben diese Rechtsfragen mehrheitlich
bejaht (Beschluss der Vereinigung der Abteilungen vom 13. Mai 2015).

Erwägungen:

1.

1.1. Das kantonale Gericht würdigte das medizinische Dossier und folgerte, die
Beschwerdeführerin sei nicht in rentenbegründendem Ausmass invalid. Für die
Beschwerden sei kein organisches Korrelat gefunden worden (E. 5). Die
Verwaltung habe die Beschwerdeführerin daher zu Recht (nur) psychiatrisch
begutachten lassen (E. 7). Die vom psychiatrischen Administrativgutachter
gestellten Hauptdiagnosen (anhaltende somatoforme Schmerzstörung,
Somatisierungsstörung) seien unstrittig (E. 9.2). Im Rahmen einer selbständigen
Überprüfung nach den Kriterien gemäss BGE 130 V 352 befasste sich die
Vorinstanz sodann mit den gutachtlichen Schlussfolgerungen über die
Arbeitsfähigkeit (E. 9.3). Die im kantonalen Beschwerdeverfahren nachgereichten
ärztlichen Berichte (der Psychiatrischen Klinik C.________, vom 27./28. August
2013 über eine anderthalbmonatige stationäre Behandlung sowie des behandelnden
Psychiaters Dr. D.________, vom 6. Dezember 2013) enthielten nicht wesentlich
andere Diagnosen. Sie wiesen auch keine Verschlechterung des
Gesundheitszustandes aus. Soweit die behandelnden Ärzte überhaupt zur Frage der
Arbeitsfähigkeit Stellung nähmen, seien deren Berichte nicht geeignet, die
gutachterliche Einschätzung zu entkräften (E. 10.1).

1.2. Zu beurteilen ist die häufige Fallkonstellation eines Schmerzleidens, das
mit gewissen weiterreichenden Symptomen (hier: grosse Erschöpfbarkeit)
einhergeht und aus dem die IV-Stelle nach rechtlichen Massstäben keine
anspruchserhebliche Arbeitsunfähigkeit ableitet, obwohl die versicherte Person
über eine erhebliche Einschränkung ihres Leistungsvermögens klagt und auch
verschiedene behandelnde Ärzte eine solche attestieren. Der Rechtsstreit bietet
Anlass, die Rechtsprechung seit BGE 130 V 352 zu überdenken. Rechnung getragen
werden soll dabei den Erfahrungen, die in den seit diesem Leiturteil
vergangenen elf Jahren gesammelt werden konnten, sowie der Kritik der
medizinischen und juristischen Lehre an der Rechtsprechung und ihrer Umsetzung.

2.

2.1. Ausgangspunkt der Anspruchsprüfung nach Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 6 ff.
und insbesondere Art. 7 Abs. 2 ATSG ist die  medizinische Befundlage. Eine
Einschränkung der Leistungsfähigkeit kann immer nur dann anspruchserheblich
sein, wenn sie Folge einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist, die fachärztlich
einwandfrei diagnostiziert worden ist (BGE 130 V 396).

2.1.1. Die Sachverständigen sollen die Diagnose einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung (ICD-10 Ziff. F45.40) so begründen, dass die Rechtsanwender
nachvollziehen können, ob die klassifikatorischen Vorgaben tatsächlich
eingehalten sind. Bislang fokussiert die Anspruchsklärung im Zusammenhang mit
der somatoformen Schmerzstörung vor allem auf die Anwendung des
Kriterienkatalogs, somit auf die Beurteilung der funktionellen Auswirkungen des
Leidens (dazu unten E. 3.2 und E. 4). Die Frage, ob die Schmerzstörung als 
Gesundheitsbeeinträchtigung überhaupt sachgerecht festgestellt worden ist, wird
in der Versicherungspraxis oft kaum beachtet. Dem  diagnose-inhärenten
Schweregrad der somatoformen Schmerzstörung ist vermehrt Rechnung zu tragen:
Als "vorherrschende Beschwerde" verlangt wird "ein andauernder, schwerer und
quälender Schmerz" (Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation
psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Leitlinien,
Dilling/Mombour/Schmidt [Hrsg.], 9. Aufl. 2014, Ziff. F45.4 S. 233). Im
Gegensatz zu anderen psychosomatischen, beispielsweise dissoziativen,
Störungen, die nicht schon an sich einen Bezug zum Schweregrad aufweisen, setzt
die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung per definitionem
Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionen voraus (Peter Henningsen, Probleme und
offene Fragen in der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit bei Probanden mit
funktionellen Körperbeschwerdesyndromen, in: SZS 2014 S. 535, 539 [Gutachten
des Prof. Dr. Peter Henningsen, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Technische Universität München, vom Mai 2014 zu
Fragen der Schweizer Praxis zur Invaliditätsfeststellung bei somatoformen und
verwandten Störungen]; Henningsen/Schickel, in: Begutachtung bei psychischen
und psychosomatischen Erkrankungen, Schneider et al. [Hrsg.], 2012, S. 277);
ICD-10 Ziff. F45.4 beschreibt als gewöhnliche Folge denn auch "eine
beträchtliche persönliche oder medizinische Betreuung oder Zuwendung". Die
schweizerische Versicherungspraxis beachtet diese grundlegenden Merkmale über
weite Strecken nicht; die Diagnose einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung findet meistens ohne ausreichenden Bezug auf die
funktionserhebliche Befundlage Eingang in ärztliche Berichte und Gutachten (zum
Erfordernis einer kriteriengeleiteten Diagnosestellung vgl. E. Colomb et al.,
Qualitätsleitlinien für psychiatrische Gutachten in der Eidgenössischen
Invalidenversicherung [vgl. unten E. 5.1.2], Ziff. 6.2). Vermutlich wird
deutlich zu häufig eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert
(Hans Georg Kopp, Die psychiatrische Begutachtung von Schmerzstörungen, in:
Psychiatrie 4/2006 S. 11).

2.1.2. Die gutachtlichen Ausführungen zur Diagnose sind nicht nur im Hinblick
auf eine gesicherte Feststellung des Krankheitswertes bedeutsam. Vielmehr
werden die in der Klassifikation vorausgesetzten konkreten Beeinträchtigungen
der Alltagsfunktionen bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit wieder
aufgegriffen. Die gestellte Diagnose ist "Referenz für allfällige
Funktionseinschränkungen" (Qualitätsleitlinien, Ziff. 6.3). In den
"konsistenten Nachweis einer gestörten Aktivität und Partizipation" (Jörg
Jeger, Die persönlichen Ressourcen und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und
Wiedereingliederungsfähigkeit - Eine kritische Auseinandersetzung mit der
Überwindbarkeitspraxis, in: Psyche und Sozialversicherung, Gabriela
Riemer-Kafka [Hrsg.], Zürich 2014, S. 184, 186 und 191 f.) einzubeziehen sind
nur funktionelle Ausfälle, die sich aus denjenigen Befunden ergeben, welche
auch für die Diagnose der Gesundheitsbeeinträchtigung massgebend gewesen sind.
Die Einschränkung in den Alltagsfunktionen, welche begrifflich zu einer lege
artis gestellten Diagnose gehört, wird mit den Anforderungen des Arbeitslebens
abgeglichen und anhand von Schweregrad- und Konsistenzkriterien in eine
allfällige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit umgesetzt (Renato Marelli, Nicht
können oder nicht wollen? Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei somatoformen
Störungen, typische Schwierigkeiten und ihre Überwindung, in: SZS 2007 S. 329
und 339). Auf diesem Weg können geltend gemachte Funktionseinschränkungen über
eine sorgfältige Plausibilitätsprüfung bestätigt oder verworfen werden (BGE 140
V 290 E. 3.3.1 S. 296 und E. 3.3.2 am Anfang S. 297).

2.2. Die auf die Begrifflichkeit des medizinischen Klassifikationssystems
abstellende Diagnose der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung führt im
Weiteren nur dann zur Feststellung einer invalidenversicherungsrechtlich
erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigung, wenn die Diagnose auch unter dem
Gesichtspunkt der - in der Praxis zu wenig beachteten -  Ausschlussgründe nach
BGE 131 V 49 standhält.

2.2.1. Danach liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor, 
soweit die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen
Erscheinung beruht. Hinweise auf solche und andere Äusserungen eines sekundären
Krankheitsgewinns (dazu BGE 140 V 193 E. 3.3 S. 197) ergeben sich namentlich,
wenn: eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten Schmerzen und dem
gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht; intensive Schmerzen angegeben
werden, deren Charakterisierung jedoch vage bleibt; keine medizinische
Behandlung und Therapie in Anspruch genommen wird; demonstrativ vorgetragene
Klagen auf den Sachverständigen unglaubwürdig wirken; schwere Einschränkungen
im Alltag behauptet werden, das psychosoziale Umfeld jedoch weitgehend intakt
ist (BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 51 mit Hinweis auf KOPP/WILLI/KLIPSTEIN, Im
Graubereich zwischen Körper, Psyche und sozialen Schwierigkeiten, in:
Schweizerische Medizinische Wochenschrift 1997 S.1434, die wiederum eine
Untersuchung von WINCKLER und FOERSTER aufnehmen; ähnliche Aufstellungen bei:
Hans-Jakob Mosimann/Gerhard Ebner, "Objektiv nicht überwindbare"
Erwerbsunfähigkeit: Überlegungen zu Art. 7 Abs. 2 ATSG aus juristischer und
psychiatrischer Sicht, in: SZS 2008 S. 532; Henningsen/Schickel, a.a.O., S. 278
ff.; Peter Henningsen, Wie werden psychosomatische Störungen begutachtet?
Leitlinien für Grenzbereiche, in: Grenzwertige psychische Störungen,
Vollmoeller [Hrsg.], 2004, S. 105 f.; Thomas Merten, Lässt sich suboptimales
Leistungsverhalten messen? Diagnostik bei Simulationsverdacht, in: Grenzwertige
psychische Störungen, Vollmoeller [Hrsg.], 2004, S. 94; vgl. auch Kopp, a.a.O.,
S. 10 f.). Nicht per se auf Aggravation weist blosses verdeutlichendes
Verhalten hin (Henningsen, a.a.O., S. 104).

2.2.2. Besteht im Einzelfall Klarheit darüber, dass solche Ausschlussgründe die
Annahme einer Gesundheitsbeeinträchtigung verbieten, so besteht von vornherein
keine Grundlage für eine Invalidenrente, selbst wenn die klassifikatorischen
Merkmale einer somatoformen Schmerzstörung gegeben sein sollten (vgl. Art. 7
Abs. 2 ATSG erster Satz). Soweit die betreffenden Anzeichen  nebeneiner
ausgewiesenen verselbständigten Gesundheitsschädigung (BGE 127 V 294 E. 5a S.
299) auftreten, sind deren Auswirkungen derweil im Umfang der Aggravation zu
bereinigen.

3.

3.1. Auf der zweiten Ebene der Anspruchsprüfung wird die  Arbeits (un)
fähigkeit beurteilt, das heisst, es werden die funktionellen Folgen der
Gesundheitsschädigung qualitativ erfasst und quantitativ eingeschätzt. Hier
stellt sich die Frage (nachfolgend E. 3.4-3.5), ob an der  Vermutung
 festzuhalten ist, wonach eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder ein
vergleichbarer ätiologisch unklarer syndromaler Zustand mit zumutbarer
Willensanstrengung überwindbar ist (statt vieler: BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 66;
zuletzt: BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3 S. 13). Zu klären ist zudem, wie es sich mit
der Rechtsfigur der  Überwindbarkeit als solcher verhält; nach Art. 7 Abs. 2
zweiter Satz ATSG liegt eine Erwerbsunfähigkeit nur vor, wenn sie aus
objektiver Sicht nicht überwindbar ist (E. 3.7).

3.2. Mit BGE 130 V 352 E. 2.2.2 S. 353 legte das Bundesgericht die
Voraussetzungen fest, unter denen psychosomatische Beschwerdebilder (vgl. BGE
137 V 64 E. 4.3 S. 69) einen Anspruch auf Invalidenrente auslösen können (zur
Entstehungsgeschichte dieser Praxis BGE 135 V 201 E. 7.1.2 S. 212). In BGE 131
V 49 E. 1.2 S. 50 konsolidierte es die Kernerwägungen wie folgt:

"Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich (psychiatrisch)
gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten
Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 396 E. 5.3 und E. 6 S. 398 ff.). Wie
jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine
diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch keine
Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme
Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung
überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv
und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess
unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den
Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher
Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener
Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer psychischen Komorbidität
von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein können auch
weitere Faktoren, so: chronische körperliche Begleiterkrankungen; ein
mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder
progredienter Symptomatik ohne längerdauernde Rückbildung; ein sozialer Rückzug
in allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr
beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch
aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn; "Flucht in
die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten oder
stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz)
trotz kooperativer Haltung der versicherten Person (BGE 130 V 352). Je mehr
dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde
darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die Voraussetzungen für eine
zumutbare Willensanstrengung zu verneinen (...)."

3.3.

3.3.1. Seit BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50 geht die Rechtsprechung ausdrücklich von
der  Vermutung aus, der versicherten Person sei eine Willensanstrengung
zuzumuten, mit welcher die Folgen einer somatoformen Schmerzstörung (oder eines
gleichgestellten Krankheitsbildes) überwunden werden könnten. In der mit BGE
130 V 396 nicht publizierten E. 7.3 des Urteils I 457/02 vom 18. Mai 2004 hiess
es dazu:

"Die somatoforme Schmerzstörung ist nicht naturgesetzlich mit objektivierbaren
funktionellen Einschränkungen verbunden (...). Daher ist es angezeigt, bei der
Zumutbarkeitsprüfung zunächst von der Vermutung auszugehen, dass die
somatoforme Schmerzstörung grundsätzlich überwindbar ist, also die erwerbliche
Leistungsfähigkeit nicht in invalidisierendem Ausmass beeinträchtigt (...). Im
Einzelfall ist sodann aber zu prüfen, ob und inwieweit diese Vermutung durch
Umstände entkräftet wird, welche annehmen lassen, dass die Umsetzung der (aus
somatischer Sicht bestehenden) Leistungsfähigkeit unmöglich oder unzumutbar
ist".

Mit der Statuierung einer Vermutung sollte die in BGE 130 V 352 enthaltene
Grundannahme verdeutlicht werden, wonach bei entsprechender Diagnose "in der
Regel" keine andauernde, invalidisierende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
bestehe; Unzumutbarkeit sei nur "in Ausnahmefällen" anzunehmen (BGE 130 V 352
E. 2.2.3 S. 354). Die Rechtsprechung begründet die Vermutung unter anderem mit
Hinweis auf die medizinische Empirie (so statt vieler BGE 132 V 393 E. 3.2 a.E.
S. 399 mit Hinweisen). Medizinische (und auch juristische) Autoren bestreiten,
dass eine solche Regel wissenschaftlich fundiert ist (Henningsen, Probleme und
offene Fragen, S. 522 ff., 526; Jörg Jeger, Tatfrage oder Rechtsfrage?
Abgrenzungsprobleme zwischen Medizin und Recht bei der Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit in der Invalidenversicherung, in: SZS 2011 S. 601 f.; vgl.
auch Vivian Winzenried, Die Überwindbarkeitspraxis, in: Jahrbuch zum
Sozialversicherungsrecht 2012, Kieser/Lendfers [Hrsg.], 2012, S. 231 ff.; Ueli
Kieser, Entwicklungen im Sozialversicherungsrecht, in: Personen-Schaden-Forum
2011, Weber [Hrsg.], 2011, S. 268 f.; Thomas Gächter/Dania Tremp,
Schmerzrechtsprechung am Wendepunkt? in: Jusletter 16. Mai 2011 Rz. 13). Aus
juristischer Warte wird insbesondere argumentiert, es wäre Sache des
Gesetzgebers, eine derartige Vermutung zu statuieren (Jörg Paul Müller,
Verfahrensgerechtigkeit in der Sozialversicherung, in: Jusletter 27. Januar
2014 Rz. 17; Bettina Kahil-Wolff, Atteintes non objectivables à la santé: l'ATF
136 V 279 et d'autres développements dans la jurisprudence du Tribunal fédéral,
in: JdT 2011 I S. 24).

3.3.2. Die juristische Lehre ging zunächst von einer  Tatsachenvermutung aus:
Die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit werde zwar im Einzelfall, aber nach
verallgemeinerten Regeln geprüft; die Rechtsprechung zur somatoformen
Schmerzstörung führe insofern zu einer Beschränkung der Zumutbarkeitsprüfung,
als sie vorschreibe, welche subjektiven und objektiven Gegebenheiten
(Kriterien) dabei massgeblich seien (Thomas Gächter, Die Zumutbarkeit und der
sozialversicherungsrechtliche Beweis, in: Freiburger Sozialrechtstage 2008,
Murer [Hrsg.], Bern 2008, S. 259; Andreas Brunner/Noah Birkhäuser, Somatoforme
Schmerzstörung - Gedanken zur Rechtsprechung und deren Folgen für die Praxis,
insbesondere mit Blick auf die Rentenrevision, in: BJM 2007 S. 185). Dazu trat
die Auffassung, es handle sich um eine  qualifizierte natürliche Vermutung (Urs
Müller, Die natürliche Vermutung in der Invalidenversicherung, in: Soziale
Sicherheit - Soziale Unsicherheit, Festschrift für Erwin Murer zum 65.
Geburtstag, Riemer-Kafka/Rumo-Jungo [Hrsg.], Bern 2010, S. 559; Philipp Egli,
Was soll das Verwaltungsverfahren? Gedanken zu einem rechtsstaatlichen
IV-Abklärungsverfahren, dargestellt an der Gutachtens- und der
Überwindbarkeitspraxis des Bundesgerichts, in: recht 2013, S. 73; Gächter/
Tremp, a.a.O., Rz. 6). Im Gegensatz zur einfachen natürlichen Vermutung, bei
welcher das Gericht anhand der allgemeinen Lebenserfahrung aus konkreten
Umständen auf einen bestimmten Sachverhalt schliesst, übernimmt eine (auch 
Normhypothese genannte) qualifizierte natürliche Vermutung die Funktion einer
Norm, weil ein Erfahrungswert für gleich geartete Fälle allgemeingültig wirkt
(U. Müller, a.a.O., S. 551 f.). Sie betrifft demnach eine bundesgerichtlich
frei überprüfbare Rechtsfrage (U. Müller, a.a.O., S. 554 mit weiteren
Hinweisen; Art. 95 BGG).

3.3.3. Das Bundesgericht hat sich zur Rechtsnatur der Vermutung nie
ausdrücklich geäussert. Der Frage muss auch an dieser Stelle nicht weiter
nachgegangen werden, wie sich aus dem Nachfolgenden ergibt.

3.4. Anhand der aktuellen medizinischen Erkenntnisse über psychosomatische
Beschwerden ist zu prüfen, ob die Vermutung, das Leiden respektive seine Folgen
seien überwindbar, weiterhin das richtige Instrument darstellt, um den
beweismässigen Besonderheiten solcher gesundheitlicher Beeinträchtigungen
gerecht zu werden.

3.4.1.

3.4.1.1. In der Zeit vor BGE 130 V 352 akzeptierten die rechtsanwendenden
Stellen bei Schmerzsyndromen und vergleichbaren psychosomatischen Leiden häufig
tel quel die Einschätzungen behandelnder Ärzte, welche sehr verbreitet von der
Diagnose direkt auf Arbeitsunfähigkeit schlossen (vgl. Erwin Murer,
Invalidenversicherungsgesetz [Art. 1-27 bis IVG], Handkommentar, 2014, N. 22 zu
Art. 8a IVG; ders., Die verfehlte rechtliche Behandlung der "Versicherungsfälle
unklarer Kausalität" und ihre Auswirkungen auf die Rentenexplosion in der IV,
in: Freiburger Sozialrechtstage 2004, S. 3 ff.). Die Folgen waren eine
ubiquitäre Verbreitung solcher Krankheitsbilder und eine starke Zunahme der
rentenbeziehenden Personen um 27 Prozent allein in der Zeit von Dezember 2000
bis Dezember 2005 (Bundesamt für Sozialversicherungen, IV-Statistik 2013, Bern
2014, S. 21 f.). Hiedurch war die Einhaltung der gesetzlichen
Anspruchsvoraussetzungen offensichtlich nicht mehr gewährleistet. Die mit BGE
130 V 352 S. 354 begründete  Regel/Ausnahme-Vorgabe sollte die gesetzmässige
Praxis wiederherstellen. Die Bedeutung der Überwindbarkeitsvermutung
beschränkte sich auf dieses Ziel.

3.4.1.2. Später griff das Bundesgericht Lehrmeinungen auf, welche die Vermutung
der Überwindbarkeit vorab als Frage der Beweisbarkeit ansahen (insbesondere
Jörg Jeger, Die Beurteilung der medizinischen Zumutbarkeit, in: Freiburger
Sozialrechtstage 2008, Murer [Hrsg.], S. 118 ff.). Es betonte, dass dieses
Konzept nicht nur eine Verschärfung der Beweisanforderungen bedeutet, sondern
auch eine gewährleistende Dimension  zugunsten der Versicherten umfasst, welche
die Folgen tragen müssen, wenn die den Anspruchsvoraussetzungen zugrunde
liegenden Tatsachen unbewiesen bleiben (BGE 139 V 547 E. 9.1.3 S. 566; 140 V
290 E. 4.2 S. 298). Der Beweis über funktionelle Auswirkungen von unklaren
Beschwerdebildern kann nicht anders als indirekt, im Sinne eines
Ersatzbeweises, gestützt auf Indizien ("Hilfstatsachen" [Henningsen, Probleme
und offene Fragen, S. 533 und 538]) geführt werden (dazu Hans-Jakob Mosimann,
Perspektiven der Überwindbarkeit, in: SZS 2014 S. 212 f.; kritisch: Evalotta
Samuelsson, Wieviel Evidenz für welche Objektivität?, in: Jusletter vom 27.
Januar 2014, passim). Diese beweisrechtliche Betrachtungsweise änderte noch
nichts an der Regel/Ausnahme-Gewichtung, wie sie der Rechtsfigur der
Überwindbarkeitsvermutung zugrundeliegt (vgl. BGE 139 V 547 E. 9.1 S. 565).

3.4.2. Indessen steht die Überwindbarkeitsvermutung in zweifacher Hinsicht
einer umfassenden Abklärung der für die Arbeitsunfähigkeit massgebenden
Umstände entgegen.

3.4.2.1. Zunächst führt die darin angelegte Konzentration auf Indizien, welche
die Vermutung allenfalls entkräften könnten, dazu, dass vor allem nach - den
Ausnahmefall (Arbeitsunfähigkeit) begründenden -  belastenden Elementen
gesucht, die  Ressourcen hingegen tendenziell vernachlässigt werden. Der
rechtlich geforderte Zumutbarkeitsmassstab gibt indessen vor, dass den
gesundheitsbedingten Belastungen alle Gesichtspunkte gegenübergestellt werden,
welche sich schadenmindernd auswirken (vgl. Mosimann/Ebner, a.a.O., S. 535 f.).
Im Rahmen der Würdigung von Funktionseinschränkungen soll auch das positive
Leistungsbild untersucht und nicht nur aufgezeigt werden, welche Defizite
vorhanden sind, sondern das ganze Leistungsprofil mit sowohl negativen als auch
positiven Anteilen beschrieben werden (Renato Marelli, Das psychiatrische
Gutachten, Einflüsse und Grenzen, in: Psyche und Sozialversicherung,
Riemer-Kafka [Hrsg.], 2014, S. 85). Arbeitsunfähigkeit leitet sich gleichsam
aus dem Saldo aller wesentlichen Belastungen und Ressourcen ab (zu den
Ressourcen Jörg Jeger, Die persönlichen Ressourcen, S. 131 ff., 147 f.;
Gabriela Riemer-Kafka [Hrsg.], Versicherungsmedizinische Gutachten, 2. Aufl.,
2012, S. 121).
Häufig wird kritisiert, die Rechtsprechung baue auf ein unsachgemäss eng
gefasstes (bloss bio-psychisches) Krankheitsmodell (so David Husmann/Silvio
Riesen, Unklare Beschwerdebilder aus der Geschädigtenperspektive, in:
Personen-Schaden-Forum 2015, Weber [Hrsg.], Zürich 2015, S. 47; Philip Stolkin,
Von der Europäischen Menschenrechtskonvention, den adäquaten
Kausalzusammenhängen, den Normhypothesen und dem Gleichheitssatz oder: Warum
die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Gesundheitsbegriff das
Diskriminierungsverbot verletzt - ein Erklärungsversuch, in: HAVE 2011 S. 386
f.). Der im Hinblick auf Rentenleistungen der Invalidenversicherung geltende
enge Krankheitsbegriff klammert soziale Faktoren jedoch nur soweit aus, als es
darum geht, die für die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit  kausalen
 versicherten Faktoren zu umschreiben (vgl. Urteil 9C_776/2010 vom 20. Dezember
2011 E. 2.3.3, SVR 2012 IV Nr. 32 S. 127; Jörg Paul Müller, Rechtsgutachten
[mit Matthias Kradolfer], Stellungnahme aus der Sicht allgemein
rechtsstaatlicher Grundsätze der Bundesverfassung und der EMRK, 2012, S. 32 f.;
Brunner/Birkhäuser, a.a.O., S. 185). Die funktionellen Folgen von
Gesundheitsschädigungen werden durchaus auch mit Blick auf psychosoziale und
soziokulturelle Belastungsfaktoren abgeschätzt, welche den Wirkungsgrad der
Folgen einer Gesundheitsschädigung beeinflussen (vgl. Thomas Locher, Die
invaliditätsfremden Faktoren in der rechtlichen Anerkennung von
Arbeitsunfähigkeit und Invalidität, in: Schmerz und Arbeitsunfähigkeit,
Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], 2003, S. 253; Jeger, Die persönlichen
Ressourcen, S. 177; ders., Wer bemisst invaliditätsfremde [soziokulturelle und
psychosoziale] Ursachen der Arbeitsunfähigkeit - der Arzt oder der Jurist?, in:
Sozialversicherungsrechtstagung 2008, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], 2009, S.
166 ff.). Konsequenterweise soll das Prüfungsprogramm so ausgestaltet werden,
dass auch Ressourcen, welche das Leistungsvermögen begünstigen, tatsächlich
erfasst werden.

3.4.2.2. Der Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG)
verpflichtet Verwaltung und Gericht, von Amtes wegen Gründe für und gegen das
Vorliegen oder Fehlen eines Sachumstandes heranzuziehen. In der Doktrin wird zu
Recht vorgebracht, diesem Grundsatz werde in der Praxis nur ungenügend
nachgelebt (U. Müller, a.a.O., S. 560; Jeger, Die persönlichen Ressourcen, S.
178). Tatsächlich verleitet die Überwindbarkeitsvermutung mitunter dazu, die
kriterienorientierte Auswahl der massgebenden Sachverhaltselemente so zu
gestalten, dass der Regelfall verwirklicht wird; dies wohl auch zum Ausgleich
dafür, dass die Ressourcen (bisher) nicht den ihrer tatsächlichen Bedeutung
entsprechenden Platz im Prüfungsraster erhalten. Ein solcher  Bias begünstigt
zudem Schematismen, welche der freien Beweiswürdigung und der Rechtsanwendung
von Amtes wegen zuwiderlaufen (Egli, a.a.O., S. 71 ff.; Kahil-Wolff, a.a.O., S.
24; Gächter/Tremp, a.a.O., Rz. 16; Brunner/Birkhäuser, a.a.O., S. 188 f.). Die
so gestaltete Beurteilung ist - freilich in einem den Gründen gemäss E. 3.4.2.1
entgegengesetzten Sinne - nicht mehr auf umfassende Erkenntnis über das
tatsächliche Leistungsvermögen ausgerichtet. Überdies begünstigt die Vermutung
die Auffassung, die Überwindbarkeit sei unteilbar, so dass im Ausnahmefall
letztlich immer nur eine  vollständige Arbeitsunfähigkeit in Frage komme (vgl.
Urteile 9C_468/2013 vom 24. April 2014 E. 4.2 und 9C_710/2011 vom 20. März 2012
E. 4.4; dazu Mosimann, Perspektiven, S. 199; Husmann/Riesen, a.a.O., S. 52;
Jeger, Tatfrage oder Rechtsfrage, S. 599; Thomas Gächter, Grundsätzliche
Einordnung von BGE 136 V 279, in: HAVE 2011 S. 57).

3.5. Die angeführten Überlegungen betreffen ernsthafte sachliche Gründe, die
einem allfälligen Interesse an der Weiterführung einer auch langjährigen Praxis
vorgehen. Die Voraussetzungen für eine Änderung der Rechtsprechung sind daher
erfüllt (vgl. BGE 138 III 359 E. 6.1 S. 361; 137 V 282 E. 4.2 S. 291; 134 V 72
E. 3.3 S. 76). Die Überwindbarkeitsvermutung ist aufzugeben.

3.6. Daraus ergibt sich in methodischer Hinsicht Folgendes: Die Frage, ob die
diagnostizierte Schmerzstörung zu einer ganzen oder teilweisen
Arbeitsunfähigkeit führe, stellt sich nicht mehr im Hinblick auf die
Widerlegung einer Ausgangsvermutung. Das bisherige Regel/Ausnahme-Modell wird
durch einen strukturierten, normativen (unten E. 5.1) Prüfungsraster ersetzt.
Anhand eines Kataloges von Indikatoren (vgl. E. 4) erfolgt eine ergebnisoffene
 symmetrische Beurteilung des - unter Berücksichtigung leistungshindernder
äusserer Belastungsfaktoren einerseits und Kompensationspotentialen
(Ressourcen) anderseits - tatsächlich erreichbaren Leistungsvermögens (vgl.
Pierre-André Fauchère, Somatoformer Schmerz, 2008, S. 279).

3.7. 

3.7.1. Zu betonen ist, dass die Aufgabe der Überwindbarkeitsvermutung an den
Regeln betreffend die  Zumutbarkeit nichts ändert, namentlich nicht am
Erfordernis einer objektivierten Beurteilungsgrundlage. Nach Art. 7 Abs. 2
zweiter Satz ATSG liegt eine Erwerbsunfähigkeit nur vor, wenn sie  aus
objektiver Sicht nicht überwindbar ist. Damit ist eine langjährige
Rechtsprechung Gesetz geworden. Demgemäss ist für die Frage, ob es der
versicherten Person zuzumuten ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen, insofern
eine objektivierte Betrachtungsweise massgeblich, als es nicht auf ihr
subjektives Empfinden ankommen kann (Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Änderung
des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision, BBl 2005 4530
f.]; BGE 140 V 290 E. 3.3 S. 296; 139 V 547 E. 5.7 S. 557; 135 V 215 E. 7.2 S.
229; 130 V 352 E. 2.2.4 S. 355; 127 V 294 E. 4c S. 298; 109 V 25 E. 3c S. 28;
102 V 165; Mosimann/Ebner, a.a.O., S. 524 f.; Brunner/Birkhäuser, a.a.O., S.
184 ff.). Medizinisch-psychiatrisch nicht begründbare Selbsteinschätzungen und
-limitierungen, wie sie, gerichtsnotorisch, ärztlicherseits sehr oft
unterstützt werden - wobei erst noch häufig gar keine konsequente Behandlung
stattfindet -, sind auch künftig nicht als invalidisierende
Gesundheitsbeeinträchtigung anzuerkennen.

3.7.2. Des Weitern bringt diese Änderung der Rechtsprechung keine Abkehr von
der (zu lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen zur IV-Revision 6a ergangenen)
Rechtsprechung gemäss BGE 139 V 547. Gegenteils wird die dort in einlässlicher
Auseinandersetzung mit der legislatorischen und judiziellen Entwicklung (BGE
139 V 547 E. 5 und 6 S. 554 ff.) gewonnene Rechtserkenntnis, dass die
Abschätzung der Folgen psychosomatischer Leiden auf die Arbeitsfähigkeit
deutlicher, als es bisher die dort nachgezeichnete Rechtsprechung zum Ausdruck
brachte,  als Aufgabe - indirekter - Beweisführung zu positionieren ist (BGE
139 V 547 E. 7 S. 560 ff., insbesondere E. 7.2 S. 562), unter Berücksichtigung
des verfügbaren medizinisch-psychiatrischen Wissens  konsequent weitergeführt 
(in diesem Sinne schon BGE 140 V 193 und 290; oben E. 3.4.1.2). Unverändert ist
sodann auch in Zukunft dem klaren Willen des Gesetzgebers gemäss Art. 7 Abs. 2
ATSG Rechnung zu tragen, wonach im Zuge der objektivierten Betrachtungsweise
(oben E. 3.7.1) von der grundsätzlichen "Validität" (BGE 139 V 547 E. 8.1 S.
563) der die materielle Beweislast tragenden versicherten Person auszugehen
ist.

3.7.3. Arbeits- resp. Erwerbsunfähigkeit ist in allen Fällen das  Resultat der
- einem objektivierten Massstab folgenden - Beurteilung, ob die versicherte
Person trotz des ärztlich diagnostizierten Leidens einer angepassten Arbeit
zumutbarerweise ganz oder teilweise nachgehen kann. Es fehlt daher am
Gegenstand für eine gesonderte, weitergehende Prüfung einer Überwindbarkeit
(vgl. etwa BGE 136 V 279 E. 3.3 S. 284; 132 V 65 E. 5.1 S. 73). Ebensowenig
kann es unter diesen Vorzeichen eine unüberwindbare Arbeitsunfähigkeit (BGE 136
V 279 E. 4.1 S. 285) geben. In dieser überschiessenden Form ist der Begriff
Relikt der früheren Praxis zu den verschiedenen Spielarten der
Versicherungsneurosen; diese ging davon aus, dass die neurotische Fixierung
unter Umständen gelöst werden könne, wenn Versicherungsleistungen abgelehnt
werden oder - wo gesetzlich vorgesehen - eine Abfindung ausgerichtet wird
("probatorische Leistungsverweigerung"; vgl. BGE 107 V 239 und 102 V 165;
Urteil I 504/82 vom 31. Oktober 1983, ZAK 1984 S. 341; Ulrich Meyer, Das
Schleudertrauma, anders betrachtet, in: Ausgewählte Schriften, Gächter [Hrsg.],
2013, S. 302 f.; ders., Krankheit als leistungsauslösender Begriff im
Sozialversicherungsrecht, in: Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff, Gächter/
Schwendener [Hrsg.], 2009, S. 17 und 21).

4. 
Zu klären bleiben die Auswirkungen der Praxisänderung auf den Kriterienkatalog
nach BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f. Dieser umfasst Standard-Faktoren, anhand
welcher die funktionelle Tragweite der für die Diagnose massgeblichen Befunde
(oben E. 2.1.2) auf dem Weg indirekter Beweisführung (E. 3.4.1.2 und 3.7.2)
rechtlich erhärtet werden kann (unten E. 5.2).

4.1.

4.1.1. Nach Aufgabe des Konzepts der Vermutung konzentriert sich die
Beurteilung des funktionellen Leistungsvermögens, wie erwähnt, nicht mehr auf
die Widerlegung einer Ausgangsannahme, die Schmerzstörung sei nicht
invalidisierend. Im Fokus stehen daher vermehrt auch Ressourcen, welche die
schmerzbedingte Belastung kompensieren können und damit die Leistungsfähigkeit
begünstigen (oben E. 3.4.2.1). Dieser neue Ansatz führt zu Anpassungen in der
Formulierung der Indikatoren. Auch ist im Zuge der Preisgabe der
Überwindbarkeitsvermutung eine gewisse sachliche Erweiterung der massgeblichen
Prüfungsgesichtspunkte angezeigt. Dabei kann beim bisherigen Kriterienkatalog
angeknüpft werden (vgl. dazu auch den Katalog in der [deutschen] AWMF-Leitlinie
"Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen
Körperbeschwerden" ["Empfehlung 143"]; Henningsen, Probleme und offene Fragen,
S. 534; unten E. 5.1.2).
Nach wie vor gilt, dass die Handhabung des Katalogs stets den Umständen des
Einzelfalls gerecht werden muss. Es handelt sich nicht um eine "abhakbare
Checkliste" (Urteil 8C_420/2011 vom 26. September 2011 E. 2.4.2 mit Hinweis auf
Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., München 2004, S.
650). Im Übrigen ist auch der Katalog als solcher nicht unverrückbar, sondern
grundsätzlich offen gegenüber neu etablierten medizinischen Erkenntnissen;
diese prägen als Rechtstatsachen die Ausgestaltung des Katalogs mit (vgl. unten
E. 5.1). So drängt es sich nunmehr auf, die  vorrangige Beachtlichkeit der
psychischen Komorbidität aufzugeben und auf die Heranziehung des primären
Krankheitsgewinns zu verzichten (E. 4.3.1.1 und 4.3.1.3).

4.1.2. Die bisherige Bezeichnung "Kriterien" legt nahe, es handle sich dabei um
Merkmale, welche für eine Entscheidung in dem Sinne bedeutsam sind, dass von
mehreren vorgegebenen Szenarien eines zutreffe. Nach Aufgabe der Vermutung,
welche durch eine ergebnisoffene Beurteilung des funktionellen
Leistungsvermögens als zentralem Beweisgegenstand abgelöst wird, scheint der
Begriff des Kriteriums nicht mehr geeignet. Das Bundesgericht spricht fortan
von  Indikatoren, einem Begriff, der massgebliche Beweisthemen bezeichnet,
anhand welcher ein bestimmter Sachverhalt ermittelt wird (vgl. dazu auch
Henningsen, Probleme und offene Fragen, S. 533 und 541).

4.1.3. Die im Regelfall beachtlichen Standardindikatoren können nach
gemeinsamen Eigenschaften  systematisiert werden:

Kategorie "funktioneller Schweregrad" (E. 4.3)
       Komplex "Gesundheitsschädigung" (E. 4.3.1)
              Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde (E. 4.3.1.1)
Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz (E. 4.3.1.2)
              Komorbiditäten (E. 4.3.1.3)
Komplex "Persönlichkeit" (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen; E.
4.3.2)
       Komplex "Sozialer Kontext" (E. 4.3.3)
Kategorie "Konsistenz" (Gesichtspunkte des Verhaltens; E. 4.4)
gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren
Lebensbereichen (E. 4.4.1)
behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck (E.
4.4.2).

Die Antworten, welche die medizinischen Sachverständigen anhand der (im
Einzelfall relevanten) Indikatoren geben, verschaffen den Rechtsanwendern
Indizien, wie sie erforderlich sind, um den Beweisnotstand im Zusammenhang mit
der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bei psychosomatischen Störungen zu
überbrücken (vgl. oben E. 3.4.1.2 und 3.7.2).

4.2. Das Gesagte und noch Auszuführende gilt für die anhaltende somatoforme
Schmerzstörung und für vergleichbare psychosomatische Leiden (vgl. BGE 140 V 8
E. 2.2.1.3 S. 13).

4.3. Auf den  funktionellen Schweregrad bezogene Indikatoren bilden das
Grundgerüst der Folgenabschätzung (Hans Georg Kopp/Renato Marelli, "Somatoforme
Störungen, wie weiter?", in: SZS 2012 S. 255). Die daraus gezogenen Folgerungen
müssen einer Konsistenzprüfung standhalten (dazu unten E. 4.4).

4.3.1. Zum  Komplex Gesundheitsschädigung drängen sich folgende Bemerkungen
auf.

4.3.1.1. Als erster Indikator zu nennen ist die  Ausprägung der
diagnoserelevanten Befunde und Symptome. Feststellungen über die konkreten
Erscheinungsformen der diagnostizierten Gesundheitsschädigung helfen dabei,
Funktionseinschränkungen, welche auf diese Gesundheitsschädigung zurückzuführen
sind, von den (direkten) Folgen nicht versicherter Faktoren zu scheiden (oben
E. 3.4.2.1 zweiter Abs.). Ausgangspunkt ist der diagnose-inhärente
Mindestschweregrad (oben E. 2.1.1; vgl. Henningsen, Probleme und offene Fragen,
S. 535 und 539). Spielen auf der andern Seite  Ausschlusskriterien (BGE 131 V
49 E. 1.2 a.E. S. 51) eine gewisse Rolle, ohne dass deswegen eine
rechtserhebliche Gesundheitsschädigung a priori auszuschliessen wäre (vgl. oben
E. 2.2.2), sind die auf Aggravation usw. hinweisenden Umstände zu bewerten. Die
Schwere des Krankheitsgeschehens ist auch anhand aller verfügbaren Elemente aus
der diagnoserelevanten Ätiologie und Pathogenese zu plausibilisieren.
Insbesondere die Beschreibung der somatoformen Schmerzstörung in ICD-10 Ziff.
F45.4 hebt ätiologische Faktoren hervor: Merkmal der Störung ist, dass sie "in
Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen"
auftritt, denen die Hauptrolle für Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder
Aufrechterhaltung der Schmerzen zukommt (dazu U.T. Egle/R. Nickel, Die
somatoforme Schmerzstörung, in: Der medizinische Sachverständige 2007 S. 129).
Hingegen sollen Rückschlüsse auf den Schweregrad  nicht mehr über den Begriff
des primären Krankheitsgewinnserfolgen. Dabei handelt es sich um ein
psychoanalytisches Konzept, das viele Vertreter anderer psychiatrischer Schulen
skeptisch betrachten oder ablehnen. Nach Henningsen ist der primäre
Krankheitsgewinn als "stark an eine bestimmte Schule der Psychotherapie
gebundenes und untersucherabhängiges Konstrukt kaum reliabel zu erheben"
(Probleme und offene Fragen, S. 540; vgl. auch Jeger, Die persönlichen
Ressourcen, S. 169 f.).

4.3.1.2.  Behandlungserfolg oder -resistenz, also Verlauf und Ausgang von
Therapien, sind wichtige Schweregradindikatoren. Das definitive Scheitern einer
indizierten, lege artis und mit optimaler Kooperation des Versicherten
durchgeführten Therapie weist auf eine negative Prognose hin (zu den
Behandlungszielen bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung Fauchère,
a.a.O., S. 219 f.; Hans Morschitzky, Somatoforme Störungen, 2007, S. 271 ff.).
Wenn dagegen die erfolglos gebliebene Behandlung nicht (mehr) dem aktuellen
Stand der Medizin entspricht oder im Einzelfall als ungeeignet erscheint, so
ist daraus für den Schweregrad der Störung nichts abzuleiten (vgl. Urteil
9C_662/2009 vom 17. August 2010 E. 3.2, SVR 2011 IV Nr. 26 S. 73). Psychische
Störungen der hier interessierenden Art gelten nach der Rechtsprechung nur als
invalidisierend, wenn sie schwer und therapeutisch nicht (mehr) angehbar sind,
was sich e contrario aus der ständigen Rechtsprechung ergibt (statt vieler
Urteil 9C_736/2011 vom 7. Februar 2012 E. 4.2.2.1 mit Hinweisen). Daran ist
festzuhalten. Bei einem erst relativ kurze Zeit andauernden - somit noch kaum
chronifizierten - Krankheitsgeschehen dürften regelmässig noch therapeutische
Optionen bestehen, eine Behandlungsresistenz also ausgeschlossen sein. Dies
zeigt, dass die Frage nach der Chronifizierung einer ("anhaltenden")
somatoformen Schmerzstörung bei der Beurteilung des Schweregrades meist nicht
wesentlich weiter führt: Ohne langjährige, verfestigte Schmerzentwicklung ist
eine invalidisierende Arbeitsunfähigkeit kaum vorstellbar; Entsprechendes gilt
schon für die Diagnose (Henningsen, Probleme und offene Fragen, S. 536). Soweit
im Übrigen aus der Inanspruchnahme von Therapien und der Kooperation auf
Vorhandensein oder Ausmass des Leidensdrucks zu schliessen ist, geht es um die 
Konsistenz der Auswirkungen einer Gesundheitsschädigung (unten E. 4.4.2).
Rückschlüsse auf den Schweregrad einer Gesundheitsschädigung ergeben sich nicht
nur aus der medizinischen Behandlung, sondern auch aus der  Eingliederung im
Rechtssinne. Denn so wie die zumutbare ärztliche Behandlung (welche, unter
Vorbehalt von Art. 12 IVG, nicht zulasten der Invalidenversicherung geht) die
versicherte Person als eine Form von Selbsteingliederung in die Pflicht nimmt,
hat sich jene in beruflicher Hinsicht primär selbst einzugliedern und, soweit
angezeigt, an entsprechenden beruflichen Eingliederungs- und
Integrationsmassnahmen (Art. 8 f., Art. 14 ff. IVG) teilzunehmen. Fallen solche
Massnahmen nach ärztlicher Einschätzung in Betracht, bietet die
Durchführungsstelle dazu Hand und nimmt die rentenansprechende Person dennoch
nicht daran teil, gilt dies als starkes Indiz für eine nicht invalidisierende
Beeinträchtigung. Umgekehrt kann eine trotz optimaler Kooperation misslungene
Eingliederung im Rahmen einer gesamthaften, die jeweiligen Umstände des
Einzelfalles berücksichtigenden Prüfung bedeutsam sein.

4.3.1.3. Die bisherige Rechtsprechung hat der psychiatrischen  Komorbidität
 herausragende Bedeutung beigemessen (so noch BGE 139 V 547 E. 9.1.1 S. 565).
Diese Präponderanz des Leitkriteriums lässt sich nicht länger aufrechterhalten,
da sie empirisch nicht belegt ist (Henningsen, Probleme und offene Fragen, S.
539 f.; Jeger, Die persönlichen Ressourcen, S. 166 f.; ders., Die Entwicklung
der Foerster-Kriterien und ihre Übernahme in die bundesgerichtliche
Rechtsprechung: Geschichte einer Evidenz, in: Jusletter vom 16. Mai 2011, Rz.
137). Die psychische Komorbidität ist nicht mehr generell vorrangig, sondern
lediglich gemäss ihrer konkreten Bedeutung im Einzelfall beachtlich, so
namentlich als Gradmesser dafür, ob sie der versicherten Person Ressourcen
raubt (Jeger, Die persönlichen Ressourcen, S. 167 f.; Kopp, a.a.O., S. 12). Der
bisher verwendete Zusatz "von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer" war
Ausdruck der früheren Funktion als Ausnahmekriterium sowie dessen vorrangigem
Stellenwert. Zufolge der in beiden Punkten geänderten Rechtsprechung verlieren
die genannten Attribute insofern ihre Funktion.
Die bisherigen Kriterien "psychiatrische Komorbidität" und "körperliche
Begleiterkrankungen" sind zu einem einheitlichen Indikator zusammenzufassen.
Erforderlich ist eine Gesamtbetrachtung der Wechselwirkungen und sonstigen
Bezüge der Schmerzstörung zu sämtlichen begleitenden krankheitswertigen
Störungen. Eine Störung, welche nach der Rechtsprechung als solche nicht
invalidisierend sein kann (vgl. E. 4.3.1.2; Urteil 9C_98/2010 vom 28. April
2010 E. 2.2.2, SVR 2011 IV Nr. 17 S. 44; dazu Wolfgang Vollmoeller [Hrsg.],
Grenzwertige psychische Störungen, 2004, passim), ist nicht Komorbidität (vgl.
Urteil 9C_1040/2010 vom 6. Juni 2011 E. 3.4.2.1, SVR 2012 IV Nr. 1 S. 1),
sondern allenfalls im Rahmen der Persönlichkeitsdiagnostik (unten E. 4.3.2) zu
berücksichtigen. Das Erfordernis einer Gesamtbetrachtung gilt grundsätzlich
unabhängig davon, wie es um den Zusammenhang zwischen dem Schmerzsyndrom und
der Komorbidität bestellt ist. Daher verliert beispielsweise eine Depression
nicht mehr allein wegen ihrer (allfälligen) medizinischen Konnexität zum
Schmerzleiden jegliche Bedeutung als potentiell ressourcenhemmender Faktor (so
noch beispielsweise die Urteile 9C_210/2012 vom 9. Juli 2012 E. 3.1; I 176/06
vom 26. Februar 2007 E. 5.2, SVR 2008 IV Nr. 1 S. 1; zum komplexen Verhältnis
zwischen Schmerz und Depression: Fauchère, a.a.O., S. 74 ff.). Beschwerdebilder
jedoch, die bloss als diagnostisch unterschiedlich erfasste Varianten 
derselben Entität mit identischen Symptomen erscheinen, sind von vornherein
keine Komorbidität (Urteil I 767/03 vom 9. August 2004 E. 3.3.2). Andernfalls
würde die auf mehrere Arten erfass- und beschreibbare
Gesundheitsbeeinträchtigung doppelt veranschlagt (vgl. Urteil 9C_709/2009 vom
14. Dezember 2009 E. 4.1.4 a.E.).
Fraglich ist, ob zwischen der Anzahl der nicht ausreichend organisch erklärten
Körperbeschwerden (bzw. der Anzahl von somatoformen Syndromen in verschiedenen
Erscheinungsformen) und dem Schweregrad der funktionellen Beeinträchtigung ein
linearer Zusammenhang besteht (so Henningsen, Probleme und offene Fragen, S.
523 und 536). Ein solcher Zusammenhang wäre jedenfalls nicht in eine starre
Vorgabe umzusetzen. Denn eine Handhabung im Sinne von "je grösser die Anzahl
der Einzelbeschwerden, desto höher die funktionelle Einschränkung" ginge in
Richtung derjenigen Art von - schematischem - Prüfkriterium, die es nach dem
Gesagten gerade zu vermeiden gilt (oben E. 4.1.1; siehe auch Henningsen,
a.a.O., S. 533 und 541). Es bestünde die Gefahr, dass in der Praxis einzelne
Symptome und Befunde bloss aneinandergereiht und rein quantitativ-mechanisch
bewertet würden, was den Blick auf die Gesamtwirkung des Beschwerdebildes für
den Funktionsstatus verstellte.

4.3.2. Mit dem schon mehrfach erwähnten stärkeren Einbezug der Ressourcenseite
gewinnt der  Komplex der Persönlichkeit (Persönlichkeitsentwicklung und
-struktur, grundlegende psychische Funktionen) an Bedeutung (dazu Kopp/Marelli,
a.a.O., S. 257 f.; Marelli, Nicht können oder nicht wollen?, S. 332 ff.). Das
Bundesgericht hat in einem früheren Entscheid bereits auf "eine auffällige
vorbestehende Persönlichkeitsstruktur" Bezug genommen (in BGE 130 V 396 nicht
publizierte E. 7.4 des Urteils I 457/02 vom 18. Mai 2004, SVR 2005 IV Nr. 6 S.
21). Neben den herkömmlichen Formen der Persönlichkeitsdiagnostik, die auf die
Erfassung von Persönlichkeitsstruktur und -störungen abzielt (vgl. Fauchère,
a.a.O., S. 101 ff.), fällt auch das Konzept der sogenannten "komplexen
Ich-Funktionen" in Betracht. Diese bezeichnen in der Persönlichkeit angelegte
Fähigkeiten, welche Rückschlüsse auf das Leistungsvermögen zulassen (u.a.
Selbst- und Fremdwahrnehmung, Realitätsprüfung und Urteilsbildung,
Affektsteuerung und Impulskontrolle sowie Intentionalität [Fähigkeit, sich auf
einen Gegenstand zu beziehen] und Antrieb; Kopp/Marelli, a.a.O., S. 258;
Marelli, Nicht können oder nicht wollen?, S. 335 ff.). Auf die Kontroverse
hinsichtlich der komplexen Ich-Funktionen in der psychiatrischen Doktrin (vgl.
die Beiträge von Felix Schwarzenbach und Renato Marelli, in: SZS 2008 S. 555
ff.; Marelli, Nicht können oder nicht wollen?, S. 339 f.) braucht nicht näher
eingegangen zu werden. Entscheidend ist nicht die begriffliche Herkunft,
sondern die Eignung dieser Kategorien, zur Klärung der funktionellen Folgen der
Gesundheitsschädigung beizutragen. Wo dies nach den Umständen des Einzelfalles
zutrifft, ist von diesem Ansatz Gebrauch zu machen. Da die
Persönlichkeitsdiagnostik mehr als andere (z.B. symptom- und
verhaltensbezogene) Indikatoren untersucherabhängig ist (vgl. Henningsen,
Probleme und offene Fragen, S. 537), bestehen hier besonders hohe
Begründungsanforderungen. Diesen Konturen zu verleihen, wird Aufgabe noch zu
schaffender medizinischer Leitlinien sein (vgl. unten E. 5.1.2).

4.3.3. Neben den Komplexen "Gesundheitsschädigung" und "Persönlichkeit"
bestimmt auch der  soziale Kontext mit darüber, wie sich die (kausal allein
massgeblichen) Auswirkungen der Gesundheitsbeeinträchtigung konkret
manifestieren. Dazu ist zweierlei festzuhalten: Soweit soziale Belastungen
direkt negative funktionelle Folgen zeitigen, bleiben sie nach wie vor
ausgeklammert (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299; dazu oben E. 2.1.2 und 3.4.2.1
zweiter Abs.). Anderseits hält der Lebenskontext der versicherten Person auch
(mobilisierbare) Ressourcen bereit, so die Unterstützung, die ihr im sozialen
Netzwerk zuteil wird (vgl. Riemer-Kafka [Hrsg.], Versicherungsmedizinische
Gutachten, S. 121). Immer ist sicherzustellen, dass gesundheitlich bedingte
Erwerbsunfähigkeit zum einen (Art. 4 Abs. 1 IVG) und nicht versicherte
Erwerbslosigkeit oder andere belastende Lebenslagen zum andern nicht ineinander
aufgehen; alles andere widerspräche der klaren Regelungsabsicht des
Gesetzgebers.

4.4. Beweisrechtlich entscheidend ist der Aspekt der  Konsistenz (Kopp/Marelli,
a.a.O., S. 256). Darunter fallen verhaltensbezogene Kategorien.

4.4.1. Der Indikator einer  gleichmässigen Einschränkung des Aktivitätenniveaus
in allen vergleichbaren Lebensbereichen zielt auf die Frage ab, ob die
diskutierte Einschränkung in Beruf und Erwerb (bzw. bei Nichterwerbstätigen im
Aufgabenbereich) einerseits und in den sonstigen Lebensbereichen (z.B.
Freizeitgestaltung) anderseits gleich ausgeprägt ist (vgl. Riemer-Kafka
[Hrsg.], Versicherungsmedizinische Gutachten, S. 121; Mosimann, Perspektiven,
S. 214; Susanne Bollinger, Invalidisierende Krankheitsbilder nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung, in: Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht
2015, Kieser/Lendfers [Hrsg.], S. 114; zur praktischen gutachtlichen Erfassung
der einschlägigen Umstände: Kopp, a.a.O., S. 10). Aus den schon erwähnten
Gründen ist das bisherige Kriterium des sozialen Rückzugs wiederum so zu
fassen, dass neben Hinweisen auf Einschränkungen auch Ressourcen erschlossen
werden; umgekehrt kann ein krankheitsbedingter Rückzug aber auch Ressourcen
zusätzlich vermindern (vgl. Jeger, Die persönlichen Ressourcen, S. 168 f.).
Soweit erhebbar, empfiehlt sich auch ein Vergleich mit dem Niveau sozialer
Aktivität vor Eintritt der Gesundheitsschädigung. Das Aktivitätsniveau der
versicherten Person ist stets im Verhältnis zur geltend gemachten
Arbeitsunfähigkeit zu sehen (Urteile 9C_148/2012 vom 17. September 2012 E.
2.2.4, SVR 2013 IV Nr. 6 S. 13; 9C_785/2013 vom 4. Dezember 2013 E. 3.2).

4.4.2. Die  Inanspruchnahme von therapeutischen Optionen, das heisst das
Ausmass, in welchem Behandlungen wahrgenommen oder eben vernachlässigt werden,
weist (ergänzend zum Gesichtspunkt Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder
-resistenz; oben E. 4.3.1.2) auf den tatsächlichen  Leidensdruck hin. Dies gilt
allerdings nur, solange das betreffende Verhalten nicht durch das laufende
Versicherungsverfahren beeinflusst ist (Henningsen, Probleme und offene Fragen,
S. 537). Nicht auf fehlenden Leidensdruck zu schliessen ist, wenn die
Nichtinanspruchnahme einer empfohlenen und zugänglichen Therapie oder die
schlechte Compliance klarerweise auf eine (unabwendbare) Unfähigkeit zur
Krankheitseinsicht zurückzuführen ist (vgl. Jeger, Die persönlichen Ressourcen,
S. 171). In ähnlicher Weise zu berücksichtigen ist das Verhalten der
versicherten Person im Rahmen der beruflichen (Selbst-) Eingliederung.
Inkonsistentes Verhalten ist auch hier ein Indiz dafür, die geltend gemachte
Einschränkung sei anders begründet als durch eine versicherte
Gesundheitsbeeinträchtigung.

5. 
Der dargestellte Prüfungsraster ist rechtlicher Natur. Es fragt sich, wofür
Recht und Medizin zuständig sind, das heisst, wie es sich im Einzelnen mit der
Arbeitsteilung der beiden Disziplinen verhält (E. 5.1) und wie sie bei der
Ermittlung der Arbeitsunfähigkeit im konkreten Einzelfall zusammenwirken (E.
5.2).

5.1.

5.1.1. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat ursprünglich psychiatrische
Prognosekriterien (vgl. BGE 135 V 201 E. 7.1.2 S. 212; Klaus Foerster,
Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei Patienten mit psychogenen Störungen, SZS
1996 S. 486 ff., 498) zu einem rechtlichen Anforderungsprofil verselbständigt
(Urteil 9C_776/2010 vom 20. Dezember 2011 E. 2.4; vgl. auch Urteil 8C_420/2011
vom 26. September 2011 E. 2.4) und insoweit der medizinischen Diskussion
entzogen (kritisch dazu Jörg Jeger, Die persönlichen Ressourcen, S. 163 ff.;
ders., Entwicklung, Rz. 133 ff. und 159; Matthias Kradolfer, Rechtsgutachten
[mit Jörg Paul Müller], Pathogenetisch-ätiologisch syndromal unklare
Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage: Rechtsgutachten zur
Vereinbarkeit mit der EMRK, 2012, Rz. 164 ff.; Liliana Scasascia Kleiser/
Evalotta Samuelsson, Wieviel Leid ist zumutbar? Über die höchstrichterliche
Vermutung der Überwindbarkeit von Schmerzerkrankungen, in: Jusletter vom 17.
Dezember 2012, Rz. 37). Auch die hier eingeführten Indikatoren sind nicht
unmittelbar vom (herrschenden) medizinisch-empirischen Kenntnisstand abhängig.
Im Unterschied zur Medizin hat das Recht eine einheitliche und rechtsgleiche
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten (BGE 135 V 201 E. 7.1.3 S.
213; Mosimann, Perspektiven, S. 212; Bollinger, a.a.O., S. 111; Ulrich Meyer,
Somatoforme Schmerzstörung - ein Blick zurück auf eine Dekade der Entwicklung,
in: Sozialversicherungsrechtstagung 2010, Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], St.
Gallen 2011, S. 19 und 31 f.). Dies verlangt nach einer objektivierten
Zumutbarkeitsbeurteilung, welche durch Verwendung von - juristisch, jedoch
unter Berücksichtigung der medizinischen Empirie, festgelegten -
Standardkriterien zu harmonisieren ist. Da die Rechtsanwendung auf geänderte
Rechtstatsachen (rascher) reagieren kann (vgl. oben E. 4.1.1), besteht kein
Grund, um in der Hinsicht eine funktionelle Zuständigkeit des Gesetzgebers
anzunehmen.

5.1.2. Der rechtliche Anforderungskatalog beschränkt sich auf einen
Grundbestand von normativ massgeblichen Gesichtspunkten. Innerhalb dieses
Rahmens muss die Begutachtungspraxis durch konkretisierende Leitlinien der
medizinischen Fachgesellschaften angeleitet werden (vgl. Jeger, Tatfrage oder
Rechtsfrage, S. 602 f.). In diesen soll der aktuelle medizinische Grundkonsens
zum Ausdruck kommen. Bezüglich Leitlinien der (psychiatrischen) Begutachtung
besteht dringender Handlungsbedarf. Bisher bestehende Leitlinien (E. Colomb et
al., Qualitätsleitlinien für psychiatrische Gutachten in der Eidgenössischen
Invalidenversicherung, Februar 2012 [Schweizerische Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychotherapie, SGPP, und Schweizerische Gesellschaft für
Versicherungspsychiatrie, SGVP]; Leitlinien der SGVP für die Begutachtung
psychosomatischer Störungen, in: SAeZ 2004 S. 1048 ff.) vereinheitlichten die
methodischen, formalen und inhaltlichen Grundanforderungen (Marelli, Das
psychiatrische Gutachten, S. 76 f. und 83 ff.). Spezifische Leitlinien zur
versicherungsmedizinischen Begutachtung somatoformer Störungen - im Sinne eines
"materiellen Beurteilungskorridors" (Meyer, Dekade, S. 29) - stehen indessen
noch aus. In Deutschland gibt es seit langem entsprechende Leitlinien der
Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF; vgl. Urteil 9C_776/2010 E. 2.4 a.E.; Schneider et al., Manual zum
Leitfaden, in: Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen,
Schneider et al. [Hrsg.], 2012, S. 425 ff.; Jeger, Die persönlichen Ressourcen,
S. 192; ders., Tatfrage oder Rechtsfrage, S. 596, 602 f.). Die Universitären
Psychiatrischen Kliniken Basel (Volker Dittmann et al.) haben zuhanden des BSV
eine "Literaturstudie als Grundlage zur Entwicklung von evidenzbasierten
Gütekriterien zur Beurteilung von psychischen Behinderungen" (2009) erarbeitet.
Die Autoren stellen einen "immensen Forschungsbedarf bezüglich der Entwicklung
und Validierung von Kriterien, Indikatoren und Merkmalen für die Beschreibung
von Gesundheitsstörungen in der Versiche-rungsmedizin" fest und empfehlen,
künftige Leitlinien unter anderem zu den somatoformen Störungen aufgrund einer
stark zu erweiternden Datenbasis zu entwickeln. Zur Erhebung von deren
Implementierungsgrad und zur Bestimmung der Effekte der Leitlinienanwendung sei
eine begleitende Evaluation zwingend (S. 37 ff.). In künftige Leitlinien
einzubeziehen sein werden auch Schlussfolgerungen aus der laufenden
Nationalfonds-Studie des Universitätsspitals Basel "Reliable psychiatrische
Begutachtung im Rentenverfahren" (RELY-Studie), welche die Verlässlichkeit
einer funktionsorientierten psychiatrischen Begutachtung untersucht.

5.2. 

5.2.1. Über das Zusammenwirken von Recht und Medizin bei der  konkreten
Rechtsanwendung hat sich das Bundesgericht verschiedentlich, auch jüngst,
geäussert. Danach ist es sowohl den begutachtenden Ärzten als auch den Organen
der Rechtsanwendung aufgegeben, die Arbeitsfähigkeit im Einzelfall mit Blick
auf die normativ vorgegebenen Kriterien zu beurteilen. Die medizinischen
Fachpersonen und die Organe der Rechtsanwendung prüfen die Arbeitsfähigkeit je
aus ihrer Sicht (BGE 137 V 64 E. 5.1 S. 69). Bei der Abschätzung der Folgen aus
den diagnostizierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nimmt zuerst der Arzt
Stellung zur Arbeitsfähigkeit (Mosimann, Perspektiven, S. 206 und 210). Seine
Einschätzung ist eine wichtige Grundlage für die anschliessende juristische
Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistung der versicherten Person noch
zugemutet werden kann (BGE 140 V 193 E. 3.2 S. 196; Ulrich Meyer, Der
Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in der
Sozialversicherung, namentlich für den Einkommensvergleich in der
Invaliditätsbemessung, in: Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, Schaffhauser/
Schlauri [Hrsg.], 2003, S. 49).

5.2.2. In diesem Sinne lautet die normativ bestimmte Gutachterfrage, wie die
sachverständige Person das Leistungsvermögen einschätzt, wenn sie dabei den
einschlägigen Indikatoren folgt. Die Rechtsanwender überprüfen die betreffenden
Angaben frei, insbesondere dahin, ob die Ärzte sich an die massgebenden
normativen Rahmenbedingungen gehalten haben, das heisst, ob sie ausschliesslich
funktionelle Ausfälle berücksichtigt haben, welche Folgen der gesundheitlichen
Beeinträchtigung sind (Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG), sowie, ob die
versicherungsmedizinische Zumutbarkeitsbeurteilung auf objektivierter Grundlage
erfolgt ist (Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz ATSG; vgl. BGE 137 V 64 E. 1.2 in fine
S. 66). Dies sichert die einheitliche und rechtsgleiche Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit (BGE 140 V 290 E. 3.3.1 S. 296; 135 V 201 E. 7.1.3 S. 213).

5.2.3. Jedenfalls in der Invalidenversicherung tragen Recht und Medizin, je
nach ihren fachlichen und funktionellen Zuständigkeiten, zur Feststellung ein
und derselben Arbeitsunfähigkeit bei. Das heisst, dass die medizinischen
Gutachter nicht, wie häufig anzutreffen, eine quasi freihändige Beurteilung
abgeben und  daneben noch Grundlagen liefern sollen, anhand derer die
Rechtsanwender eine von der subjektiven ärztlichen Einschätzung losgelöste
Parallelüberprüfung vornehmen. Es gibt keine unterschiedlichen Regeln
gehorchende, getrennte Prüfung einer medizinischen und einer rechtlichen
Arbeitsfähigkeit. Daher existiert entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin auch keine "sozialpolitische Zurechenbarkeit im Sinne einer
Sonderadäquanz", welche gesondert von der Arbeitsunfähigkeit - diese verstanden
als "medizinische Tatfrage der fehlenden Möglichkeit, eine bestimmte Tätigkeit
ausüben zu können" - zu betrachten wäre.

6. 
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Invaliditätsbemessung bei
psychosomatischen Störungen stärker als bisher den Aspekt der  funktionellen
Auswirkungen zu berücksichtigen hat, was sich schon in in den diagnostischen
Anforderungen niederschlagen muss (E. 2). Auf der Ebene der  Arbeitsunfähigkeit
 (E. 3) bezweckte die durch BGE 130 V 352 begründete Rechtsprechung die
Sicherstellung eines gesetzmässigen Versicherungsvollzuges (E. 3.4.1.1) mittels
der  Regel/Ausnahme-Vorgabe bzw. (seit E. 7.3 von BGE 130 V 396 und BGE 131 V
49) der  Überwindbarkeitsvermutung (E. 3.1 und 3.2). Deren Rechtsnatur kann 
offen bleiben (E. 3.3). Denn an dieser Rechtsprechung ist  nicht festzuhalten
(E. 3.4 und 3.5). Das bisherige Regel/Ausnahme-Modell wird durch ein 
strukturiertes Beweisverfahrenersetzt (E. 3.6). An der Rechtsprechung zu Art. 7
Abs. 2 ATSG -  ausschliessliche Berücksichtigung der Folgen der 
gesundheitlichen Beeinträchtigung und  objektivierte Zumutbarkeitsprüfung bei 
materieller Beweislast der rentenansprechenden Person (Art. 7 Abs. 2 ATSG) -
ändert sich dadurch nichts (E. 3.7). An die Stelle des bisherigen
Kriterienkatalogs (bei anhaltender somatoformer Schmerzstörung und
vergleichbaren psychosomatischen Leiden) treten im Regelfall beachtliche 
Standardindikatoren (E. 4). Diese lassen sich in die Kategorien  Schweregrad 
(E. 4.3) und  Konsistenz der funktionellen Auswirkungen einteilen (E. 4.4). Auf
den  Begriff des primären Krankheitsgewinnes (E. 4.3.1.1) und die  Präponderanz
der psychiatrischen Komorbidität (E. 4.3.1.3) ist zu  verzichten. Der
Prüfungsraster ist  rechtlicher Natur (E. 5 Ingress). Recht und Medizin wirken
sowohl bei der Formulierung der Standardindikatoren (E. 5.1) wie auch bei deren
-  rechtlich gebotener - Anwendung im Einzelfall zusammen (E. 5.2). Im Grunde
konkretisieren die in E. 4 und 5 formulierten Beweisthemen und Vorgehensweisen
für die Invaliditätsbemessung bei psychosomatischen Leiden (E. 4.2) die
gesetzgeberischen Anordnungen nach Art. 7 Abs. 2 ATSG. Die Anerkennung eines
rentenbegründenden Invaliditätsgrades ist nur zulässig, wenn die funktionellen
Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen Anspruchsgrundlage
im Einzelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig und widerspruchsfrei mit
(zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind. Fehlt es daran,
hat die Folgen der Beweislosigkeit nach wie vor die materiell beweisbelastete
versicherte Person zu tragen.

7. 
Nach den dargelegten Anpassungen im Prüfungsprogramm stellt sich die Kognition
des Bundesgerichts (Art. 95 lit. a, 97 Abs. 1 und 105 Abs. 1 und 2 BGG) wie
folgt dar (vgl. BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 66) : Im Hinblick auf die Beurteilung,
ob eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung - oder ein vergleichbares
psychosomatisches Leiden - invalidisierend wirkt, zählen als 
Tatsachenfeststellungen, welche das Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfen
kann, alle Feststellungen der Vorinstanz, die auf der Würdigung von ärztlichen
Angaben und Schlussfolgerungen betreffend Diagnose und Folgenabschätzung
beruhen. Als  Rechtsfrage frei überprüfbar ist hingegen, ob und in welchem
Umfang die ärztlichen Feststellungen anhand der rechtserheblichen Indikatoren
auf Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) schliessen lassen.

8. 
In intertemporalrechtlicher Hinsicht ist  sinngemäss wie in BGE 137 V 210
(betreffend die rechtsstaatlichen Anforderungen an die medizinische
Begutachtung) vorzugehen. Nach diesem Entscheid verlieren gemäss altem
Verfahrensstandard eingeholte Gutachten nicht per se ihren Beweiswert. Vielmehr
ist im Rahmen einer gesamthaften Prüfung des Einzelfalls mit seinen
spezifischen Gegebenheiten und den erhobenen Rügen entscheidend, ob ein
abschliessendes Abstellen auf die vorhandenen Beweisgrundlagen vor Bundesrecht
standhält (BGE a.a.O. E. 6 in initio S. 266). In sinngemässer Anwendung auf die
nunmehr materiell-beweisrechtlich geänderten Anforderungen ist in jedem
einzelnen Fall zu prüfen, ob die beigezogenen administrativen und/oder
gerichtlichen Sachverständigengutachten - gegebenenfalls im Kontext mit
weiteren fachärztlichen Berichten - eine schlüssige Beurteilung im Lichte der
massgeblichen Indikatoren erlauben oder nicht. Je nach Abklärungstiefe und
-dichte kann zudem unter Umständen eine punktuelle Ergänzung genügen.

9. 
Die Beschwerdeführerin beantragt, bei der Schweizerischen Gesellschaft für
Versicherungspsychiatrie sei ein Grundsatzgutachten einzuholen über die
Grundsätze, nach denen unklare Beschwerdebilder zu beurteilen seien; das
Verfahren sei zu diesem Zweck zu sistieren. Dies erübrigt sich schon deswegen,
weil sich der versicherungsmedizinisch definierte Gegenstand der Begutachtung
im Einzelfall (Bestimmung der Arbeitsunfähigkeit) seinerseits nach rechtlichen
Vorgaben richtet. Ein allenfalls veränderter medizinischer Konsens über die
Umsetzung dieser Grundsätze kann umgekehrt in die Rechtspraxis einfliessen
(oben E. 5.1.1). Die zuständigen medizinischen Fachgesellschaften werden den
aktuellen Stand der Erkenntnisse zuhanden der gutachterlichen Praxis in
Leitlinien fassen (vgl. BGE 140 V 260 E. 3.2.2 S. 262; E. 5.1.2).

10. 
Für den konkreten Fall ergibt sich:

10.1.

10.1.1. Die Beschwerdeführerin rügt unter anderem, die vorinstanzliche Prüfung
der Arbeitsfähigkeit erfolge weitgehend losgelöst von den Einschätzungen des
Administrativgutachters, welcher freilich seinerseits keine Arbeitsunfähigkeit
attestiert hatte. Der angefochtene Entscheid beruhe auf offensichtlich
unrichtiger Feststellung des Sachverhalts. Dieser Vorwurf ist unbegründet. Die
angesprochenen Erwägungen betreffen eine Rechtsfrage, nicht eine
Sachverhaltsfeststellung. Denn ein Gericht bedient sich zwar grundsätzlich der
gleichen Indikatoren, an denen sich schon die gutachterliche Einschätzung
orientiert hat; es prüft aber frei, ob die gutachtlich festgestellte
Arbeitsunfähigkeit einzig auf den gesetzlich vorgesehenen kausalen Faktoren
(gesundheitliche Einschränkungen im engeren Sinne) beruht und ob die
gutachtlichen Schlussfolgerungen den rechtlich vorausgesetzten
Zumutbarkeitsvorgaben entsprechen (oben E. 5.2.2). Zudem wendet es die
allgemeinen Beweiswertkriterien rechtlicher Natur an (BGE 134 V 231 E. 5.1 S.
332).
Die Rüge wäre also begründet, wenn die Vorinstanz vom Sachverständigen
bereitgestellte Entscheidungsgrundlagen unbeachtet gelassen hätte, ohne dass
dieses Vorgehen aufgrund der Würdigung des Gutachtens im Kontext mit den
weiteren medizinischen Berichten gerechtfertigt wäre, wenn sie gutachtliche
Erkenntnisse offensichtlich unrichtig erfasst hätte, wenn sie unzulässig in den
Aufgabenbereich der Medizin eingegriffen hätte (vgl. oben E. 5.2) oder wenn die
Umsetzung der gutachtlichen Schlussfolgerungen in die rechtliche Beurteilung
der Arbeitsfähigkeit nicht mit dem spezifischen Erkenntnisziel der Indikatoren
im Einzelnen oder in ihrer Gesamtheit (oben E. 4) zu vereinbaren wäre. Nichts
davon trifft hier zu.

10.1.2. Die Vorinstanz hielt fest, die gutachterlich diagnostizierte leicht-
bis höchstens mittelgradige depressive Episode entspreche einer reaktiven
Symptomatik, somit einer unselbständigen Begleiterscheinung der
Schmerzkrankheit. Das depressive Geschehen sei daher praxisgemäss nicht als
psychische Komorbidität zu betrachten, zumal es auch nicht genügend schwer
wiege (angefochtener Entscheid E. 9.3). Hierbei übersieht die Vorinstanz den
Umstand, dass sich die Beschreibung einer erheblich reduzierten Belastbarkeit
respektive einer andauernden, ausgeprägten Kraftlosigkeit und Müdigkeit - und
damit einhergehenden Schmerzzunahme - wie ein roter Faden durch das Gutachten
zieht (vgl. S. 6 f., 9, 11 f., 14 und 16). Behandelnde Ärzte haben gleichartige
Beobachtungen zum Anlass genommen, eine mittelgradige depressive Störung zu
diagnostizieren (vgl. etwa die Berichte der Psychiatrischen Klinik C.________
vom 27./28. August 2013 und des behandelnden Psychiaters Dr. D.________ vom 6.
Dezember 2013). Angesichts der administrativgutachtlichen Feststellungen über
eine stark herabgesetzte Belastbarkeit besteht keine unüberbrückbare Diskrepanz
zu den Stellungnahmen der behandelnden Ärzte. Wenn der Gutachter die anhaltende
Erschöpfung (anders als die behandelnden Ärzte) nicht einer depressiven Störung
zuordnen wollte, drängt sich die Frage auf, ob dieser Befund insofern nicht zu
einer anderen Einschätzung des Schweregrades der Schmerzstörung hätte führen
müssen, zumal persönlichkeitsdiagnostische Auffälligkeiten (unter anderem
"ängstliche Persönlichkeitsanteile", Gutachten S. 17) zu veranschlagen sind und
die Anamnese Gründe für eine erhöhte Vulnerabilität der Beschwerdeführerin
aufweist (kriegsbedingte Flucht, langandauernde Überlastung im Zusammenhang mit
der prekären Existenz ihrer achtköpfigen Familie, vgl. Gutachten S. 5 f., 10
f., 12 f. und 16 f.; dazu Egle/Nickel, a.a.O., S. 129; vgl. oben E. 3.4.2.1).

10.1.3. Unter diesen Umständen verbietet sich - nach dem in E. 8 Gesagten - ein
abschliessendes Abstellen auf die verfügbaren medizinischen Grundlagen. Es
fehlt insbesondere an einer umfassenden Beurteilung nach Massgabe der bei der
Beschwerdeführerin - anamnestisch, aktuell und prognostisch - relevanten
Indikatoren. Grundsätzlich wäre es denkbar, die offenen Punkte mit einer
ergänzenden Stellungnahme des psychiatrischen Administrativgutachters zu
bereinigen. Angesichts der in den E. 2-5 vorgenommenen Anpassungen ist indessen
dem Eventualbegehren zu entsprechen und die Sache zur Einholung eines
Gerichtsgutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen.

10.2. Es bleibt die Frage nach dem fachlichen Umfang der neuen Expertise. Die
Beschwerdeführerin beantragt eine interdisziplinäre Begutachtung. Das kantonale
Gericht habe den Untersuchungsgrundsatz verletzt (Art. 61 lit. c ATSG), indem
es ein psychiatrisches Gutachten genügen liess. Da neben dem psychiatrisch zu
erfassenden gesundheitlichen Geschehen auch eine "immer wieder attestierte"
Fibromyalgie im Raum stehe, hätte die Vorinstanz nach Auffassung der
Beschwerdeführerin auf eine rheumatologische Begutachtung nicht verzichten
dürfen. In diesem Zusammenhang vertritt die Beschwerdeführerin die These,
Fibromyalgie und somatoforme Schmerzstörung stellten "zwei ätiologisch
unterschiedliche Krankheitsbilder" dar (dazu oben E. 4.3.1.3; vgl. BGE 132 V 65
). Wohl mag das Schmerzleiden der Beschwerdeführerin alternativ mit der
rheumatologischen Diagnose der Fibromyalgie erfassbar sein (vgl. A. Batra,
Fibromyalgie und somatoforme Schmerzstörung aus psychiatrischer Sicht, in: Der
medizinische Sachverständige 2007 S. 124 ff.). Die betreffenden Befunde sind
aber auch mit der psychiatrischen Kategorie der somatoformen Schmerzstörung
abschliessend zu klassifizieren (vgl. Fauchère, a.a.O., S. 49 f.; zur
Fachkompetenz psychiatrischer und rheumatologischer Sachverständiger
hinsichtlich von Schmerzzuständen mit massgeblicher psychogener Komponente:
Urteile 9C_621/2010 vom 22. Dezember 2010 E. 2.2.2 und I 704/03 vom 28.
Dezember 2004 E. 4.1.1). Eine psychiatrische Expertise genügt, weil das
Beschwerdebild keine weiteren Befunde einschliesst, die originär
rheumatologischer Natur wären (vgl. den Bericht des Dr. I.________,
Medizinische Klinik am Spital J.________, vom 26. April 2012).

10.3. Ein abschliessender materieller Entscheid anhand des gegebenen
medizinischen Dossiers ist nicht möglich. Die Sache wird an das kantonale
Gericht zurückgewiesen, damit es ein psychiatrisches Gerichtsgutachten (bei
einem anderen Sachverständigen) einhole und gestützt darauf neu entscheide. Was
das Begehren der Beschwerdeführerin angeht, die Vorinstanz sei zu verpflichten,
ein Gerichtsgutachten "unter Wahrung der Mitwirkungsrechte und unter korrekter
Fragestellung" einzuholen, so verstehen sich diese Anforderungen im Grundsatz
von selbst. Im Einzelnen verfügt das kantonale Gericht aber auch über
Spielräume der Verfahrensgestaltung, welche nicht vorab verengt werden dürfen.

11. 

11.1. Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu erneuter Abklärung gilt
für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der
Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1
sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt und ob das
entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 137
V 210 E. 7.1 S. 271 mit Hinweisen).

11.2. Die unterliegende IV-Stelle trägt die Gerichtskosten und bezahlt der
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 8. Mai 2014 wird aufgehoben. Die Sache
wird zur Einholung eines psychiatrischen Gerichtsgutachtens und neuer
Entscheidung an das kantonale Gericht zurückgewiesen. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Juni 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Traub

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