Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 423/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_423/2014

Urteil vom 10. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Attinger.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Beat Hunziker,
Beschwerdegegner,

Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung (Haftung des Arbeitgebers; Verjährung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
15. April 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ war vom 3. Oktober 1995 bis 19. August 2003 Geschäftsführer und
anschliessend einziges Mitglied des Verwaltungsrates der B.________ AG, über
welche am 29. Januar 2007 der Konkurs eröffnet wurde. Das Konkursverfahren
wurde mit Verfügung des Konkursrichters des Bezirks C.________ vom 28. August
2012 für geschlossen erklärt und die Gesellschaft von Amtes wegen gelöscht. Die
Ausgleichskasse des Kantons Aargau (nachfolgend: Ausgleichskasse), welcher die
Konkursitin als beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen gewesen war,
verpflichtete A.________ mit Verfügung vom 10. Februar 2013 und
Einspracheentscheid vom 25. April 2013 zur Bezahlung von Schadenersatz in Höhe
von Fr. 450'373.65 für entgangene bundes- und kantonalrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich Verwaltungs- und
Betreibungskosten, Mahngebühren und Verzugszinsen; Verlustschein des
Konkursamtes Aargau über den genannten Betrag vom 15. August 2012).

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die von A.________ erhobene
Beschwerde, soweit es darauf eintrat, gut und hob den Einspracheentscheid vom
25. April 2013 wegen Verjährung der Schadenersatzforderung auf (Entscheid vom
15. April 2014).

C. 
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde ans Bundesgericht
mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und Rückweisung
der Sache an das kantonale Gericht zu neuer Entscheidung über die
Schadenersatzforderung; diese sei nicht verjährt.

Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst, beantragt die
Ausgleichskasse deren Gutheissung.

Erwägungen:

1. 
Das kantonale Gericht hat die subsidiäre Haftung von A.________ als Organ der
am 29. Januar 2007 in Konkurs gefallenen Arbeitgeberin nach Art. 52 AHVG (in
der hier anwendbaren, bis 31. Dezember 2011 gültig gewesenen Fassung) und § 35
Abs. 1 des aargauischen Gesetzes vom 23. Dezember 1963 über Kinderzulagen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (SAR 815.100; in Kraft bis 31. Dezember
2009) verneint, weil die Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse bereits
verjährt gewesen sei, als sie mittels Verfügung vom 10. Februar 2013 gegenüber
dem Beschwerdegegner geltend gemacht wurde.

2. 

2.1. Gemäss Art. 52 Abs. 3 AHVG verjährt der Schadenersatzanspruch zwei Jahre,
nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat,
spätestens aber fünf Jahre nach Eintritt des Schadens (erster Satz). Diese
Fristen können unterbrochen werden (zweiter Satz der genannten
Gesetzesbestimmung). Die zuständige Ausgleichskasse macht den
Schadenersatzanspruch durch Erlass einer Verfügung geltend (Art. 52 Abs. 4
AHVG, als Verfahrensvorschrift sofort in der ab 1. Januar 2012 geltenden
Fassung anwendbar).

2.2. Die Schadenersatzforderung entsteht mit dem Eintritt des Schadens, welcher
seinerseits auf einen rechtlichen Grund, die Verwirkung der Beiträge (Art. 16
Abs. 1 AHVG), oder aber auf einen tatsächlichen Grund, nämlich die
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers zurückgeht. In diesem Zeitpunkt beginnt
die absolute fünfjährige Verjährungsfrist gemäss Art. 52 Abs. 3 erster Satz
AHVG zu laufen, das heisst im Falle der Verwirkung der Beitragsforderung mit
deren Eintritt und im Falle der Uneinbringlichkeit, sobald die Beiträge wegen
der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht mehr im ordentlichen Verfahren
nach Art. 14 ff. AHVG erhoben werden können, in der Regel mit der Ausstellung
eines Pfändungsverlustscheins oder mit der Konkurseröffnung über den
Arbeitgeber (BGE 136 V 268 E. 2.6 S. 273; 134 V 257 E. 3.2 S. 263; 129 V 193 E.
2.2 S. 195; 123 V 12 E. 5b und 5c S. 15 f.; 168 E. 2a S. 170; 113 V 256 E. 3c
in fine S. 257 f.; Marco Reichmuth, Die Haftung des Arbeitgebers und seiner
Organe nach Art. 52 AHVG, 2008, S. 13 Rz. 62, S. 33 Rz. 147, S. 81 Rz. 329 bis
S. 89 Rz. 364, S. 206 Rz. 855-858; Mélanie Fretz, La responsabilité selon
l'art. 52 LAVS: une comparaison avec les art. 78 LPGA et 52 LPP, HAVE 2009 S.
239 f.; Ulrich Meyer, Die Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts zur Arbeitgeberhaftung, in: Temi scelti di diritto delle
assicurazioni sociali, 2006, S. 31; Thomas Nussbaumer, Die Haftung des
Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, AJP 1996 S. 1076; Jean-Maurice Frésard, La
responsabilité de l'employeur pour le non-paiement de cotisations d'assurances
sociales selon l'art. 52 LAVS, SVZ 55/1987 S. 8).

2.3. Wie angeführt (E. 2.1 hievor), können die relative zweijährige und die
absolute fünfjährige Verjährungsfrist unterbrochen werden (BGE 135 V 74 E. 4.1
S. 77 und 4.2.2 S. 78; 131 V 425 E. 3.1 S. 427; je mit Hinweisen). Das AHVG
regelt nicht, durch welche Handlungen der Ausgleichskasse und der
Beschwerdeinstanzen (kantonales Versicherungsgericht, Bundesgericht) sowie der
in Anspruch genommenen Person die Verjährung unterbrochen wird; ebenso wenig
beantwortet es die Frage nach der Dauer der nach der Unterbrechung neu
laufenden Frist. Rechtsprechungsgemäss sind subsidiär die im Rahmen von Art. 60
OR massgeblichen allgemeinen Bestimmungen nach Art. 135 ff. OR heranzuziehen (
BGE 135 V 74 E. 4.2.1 S. 77 mit Hinweis auf BGE 123 III 213 E. 6a S. 219; vgl.
auch BGE 129 V 11 E. 3.5.1 und 3.5.2 S. 14 sowie BGE 131 V 55 E. 3.1 S. 56).

Die Verjährung wird unterbrochen u.a. durch Klage oder Einrede vor einem
staatlichen Gericht sowie durch Eingabe im Konkurs (Art. 135 Ziff. 2 OR). Mit
der Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem (Art. 137 Abs. 1 OR), wobei
die neue Verjährungsfrist der Dauer der unterbrochenen entspricht (SVR 2011 BVG
Nr. 4 S. 13, 9C_262/2010 E. 4.2 am Anfang; Urteil 9C_903/2008 vom 21. Januar
2009 E. 4 in fine; Robert K. Däppen, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht,
Bd. I, 5. Aufl. 2011, N. 2 zu Art. 137 OR). Bei der Anwendung dieser Regelung
im Rahmen von Art. 52 AHVG ist zu beachten, dass im Unterschied zum
Privatrecht, wo die Verjährung nur durch die in Art. 135 Ziff. 1 und 2 OR
genannten Handlungen unterbrochen werden kann, alle Akte, mit denen die
Schadenersatzforderung gegenüber dem Schuldner in geeigneter Weise geltend
gemacht wird, verjährungsunterbrechende Wirkung haben (BGE 135 V 74 E. 4.2.1 S.
77 f.; vgl. 133 V 579 E. 4.3.1 S. 583 mit Hinweisen; ASA 79 S. 863, 2C_188/2010
E. 6.3 in fine; vgl. auch Urteile 9C_289/2009 vom 19. Mai 2010 E. 4.2 f.,
9C_903/2008 vom 21. Januar 2009 E. 5.4 f. und H 136/05 vom 23. November 2006 E.
5.1 f., jeweils zum subsidiär herangezogenen Art. 138 Abs. 1 OR in der bis 31.
Dezember 2010 gültig gewesenen Fassung; Thomas Meier, Verjährung und Verwirkung
öffentlich-rechtlicher Forderungen, 2013, S. 213-231; Reichmuth, a.a.O., S. 214
f. Rz. 895; Stephen V. Berti, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2002, N. 18-34 zu
Art. 138 OR).

3. 
Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist zu Recht unbestritten, dass der
Schaden der Ausgleichskasse am 29. Januar 2007 eintrat, als über die B.________
AG der Konkurs eröffnet wurde und die von der Arbeitgeberfirma geschuldeten
Sozialversicherungsbeiträge mithin nicht mehr im ordentlichen Verfahren nach
Art. 14 ff. AHVG erhoben werden konnten. Ebenfalls nicht streitig ist, dass die
damals in Gang gesetzte absolute fünfjährige Verjährungsfrist gemäss Art. 52
Abs. 3 erster Satz AHVG bei Erlass der Schadenersatzverfügung gegen A.________
vom 10. Februar 2013 an sich bereits abgelaufen war, es sei denn, noch vor dem
29. Januar 2012 sei die Frist im Sinne der angeführten Rechtsprechung
unterbrochen worden.

Das beschwerdeführende BSV macht denn auch geltend, die Ausgleichskasse habe
mehrere verjährungsunterbrechende Handlungen vorgenommen, und verweist
diesbezüglich auf zwei Nachzahlungsverfügungen (vom 5. November 2009 und 30.
August 2010), zwei Einspracheentscheide (vom 8. Mai 2007 und 9. März 2012)
sowie insgesamt vier Forderungseingaben im Konkursverfahren der ehemaligen
Arbeitgeberin in Liquidation (vom 8. Mai 2007, 5. November 2009, 30. August
2010 und 20. April 2012).

4. 

4.1. Wie die Vorinstanz richtigerweise darlegt, betreffen sämtliche erwähnten
Akte ausschliesslich das Beitrags- oder das Konkursverfahren gegen die
B.________ AG und nicht den Schadenersatzanspruch gegenüber dem
Beschwerdegegner als subsidiär haftendem Organ der früheren Arbeitgeberfirma.
Bei der (auch im Konkursverfahren eingegebenen) Beitragsforderung der
zuständigen Ausgleichskasse gemäss Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art.
34 ff. AHVV (SR 831.101) und der Schadenersatzforderung nach Art. 52 AHVG
handelt es sich rechtlich nicht um identische Forderungen, zumal erstere
unmittelbar auf gesetzlicher Beitragsabrechnungs- und -zahlungspflicht der
B.________ AG beruht, letztere dagegen - zeitlich nachgeordnet - erst mit dem
Eintritt des Schadens zufolge Zahlungsunfähigkeit der angeschlossenen
Arbeitgeberin entstand (E. 2.2 hievor). Die strikte Unterscheidung von
Beitrags- und Schadenersatzforderung aufgrund ihres Gegenstandes und ihrer
Rechtsnatur wurde von Rechtsprechung und Literatur in verschiedenen
Rechtsanwendungslagen stets betont und beachtet (BGE 136 V 268 E. 2.2 S. 270;
126 V 443 E. 4c S. 449 Mitte; 123 V 168 E. 3a und 3b S. 171 f.; 121 III 382 E.
3c S. 385; 119 V 89 E. 4b/bb S. 95 Mitte; SVR 2010 AHV Nr. 6 S. 19, 9C_720/2008
E. 5.5.1; 2006 AHV Nr. 9 S. 35, H 162/01 E. 5.2.2; 2005 AHV Nr. 22 S. 77, H 128
/01 E. 5.2 und 6.2; Reichmuth, a.a.O., S. 33 Rz. 147 bis S. 35 Rz. 158; 
derselbe, Die Haftung des Arbeitgebers nach Art. 52 AHVG, in: Aktuelle Fragen
des Sozialversicherungs- und Migrationsrechts aus der Sicht der KMU, 2009, S.
128; Ueli Kieser, Alters- und Hinterlassenenversicherung, 3. Aufl. 2012, S. 316
f. Rz. 3;  derselbe, Alters- und Hinterlassenenversicherung, in: Soziale
Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1291 f. Rz. 256 und 260; Michela
Bottinelli und andere, La procedura di risarcimento danni della Cassa di
compensazione AVS/AI/IPG nei confronti del datore di lavoro ex art. 52 LAVS,
RtiD 2006 II S. 360 f.; Nussbaumer, a.a.O., S. 1074;  derselbe, Das
Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG, in: Aktuelle Fragen aus dem
Beitragsrecht der AHV, 1998, S. 101; Frésard, Les développements récents de la
jurisprudence du Tribunal fédéral des assurances relative à la responsabilité
de l'employeur selon l'art. 52 LAVS, SVZ 59/1991 S. 164 Fn. 10).

4.2. Die Unterscheidung der beiden Forderungen erstreckt sich auch auf die hier
zu beantwortende Rechtsfrage. Die Schadenersatzforderung stellt eine
eigenständige Forderung dar, welche auch in Bezug auf die Verjährung ein
eigenes, von der Beitragsforderung unabhängiges Schicksal hat (BGE 136 V 268 E.
2.6 S. 272 f.). Konsequenterweise kann deshalb die Verjährung des
Schadenersatzanspruchs gegenüber dem Arbeitgeberorgan (Art. 52 Abs. 3 AHVG) nur
durch Rechtsakte unterbrochen werden, welche sich auf die
Schadenersatzforderung selber beziehen. Rechtshandlungen hinsichtlich der
Beitragsforderung gegenüber der Arbeitgeberin kommt keine fristunterbrechende
Wirkung zu. Die Schadenersatzverfügung stellt denn auch in der Regel die erste
verjährungsunterbrechende Handlung dar (BGE 135 V 74 E. 4.2.2 am Anfang S. 78;
Urteil 9C_903/2008 vom 21. Januar 2009 E. 4 am Anfang). Die Ausgleichskasse
darf diesbezüglich bei drohendem Eintritt der absoluten Verjährungsfrist (etwa
wegen eines langwierigen Konkursverfahrens) nicht einfach zuwarten, sondern hat
gegebenenfalls noch vor genauer Kenntnis des Schadensumfangs eine
Schadenersatzverfügung unter Abtretung einer allfälligen Konkursdividende zu
erlassen (vgl. BGE 139 V 176 E. 9.2 S. 191 mit Hinweisen auf verschiedene
Rechtsgebiete; Doris Galeazzi Wangeler, La responsabilité des organes de
sociétés en cas de non-paiement des charges sociales (Art. 52 LAVS) : questions
choisies, CGSS 47/2011 S. 122; Nussbaumer, Die Ausgleichskasse als Partei im
Schadenersatzprozess nach Art. 52 AHVG, ZAK 1991 S. 391). Der (nicht näher
begründeten) abweichenden Lehrmeinung von Reichmuth, wonach die absolute
Verjährung der Schadenersatzforderung auch durch Eingabe der Beitragsforderung
im Konkurs des Arbeitgebers unterbrochen werde (S. 212 Rz. 887 des in E. 2.2
hievor ersterwähnten Literaturhinweises), ist nach dem Gesagten nicht zu
folgen.

Das kantonale Gericht hat mangels einer einschlägigen fristunterbrechenden
Handlung zu Recht festgestellt, dass ein allfälliger Schadenersatzanspruch der
Ausgleichskasse fünf Jahre nach der Konkurseröffnung über die B.________ AG vom
29. Januar 2007, d.h. noch vor Erlass der Schadenersatzverfügung vom 10.
Februar 2013 absolut verjährte.

4.3. Entgegen der Auffassung des beschwerdeführenden Bundesamtes lässt sich aus
SVR 2006 AHV Nr. 9 S. 35 (H 162/01) nichts Gegenteiliges ableiten.

4.3.1. Dieses Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 15.
September 2005 bezog sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis 31. Dezember
2000, in welchem die AHV/IV/EO/AlV-Beitragsforderungen konkursrechtlich
vorübergehend nicht in der zweiten Klasse privilegiert waren. Die damals
betroffene Ausgleichskasse stimmte als Gläubigerin dritter Klasse dem an einer
Gläubigerversammlung vorgelegten (später gerichtlich genehmigten)
Nachlassvertrag bezüglich des gesamten Beitragsforderungsbetrages zu, ohne
gegenüber dem in der Folge als schadenersatzpflichtig belangten
Arbeitgeberorgan die Verfahrensvorschriften des Art. 303 Abs. 2 SchKG
eingehalten zu haben. Das BSV, welches (auch) seinerzeit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde führte, stellte sich auf den Standpunkt, die in
Art. 303 SchKG statuierten Verfahrensvorschriften müssten nur gegenüber
solidarisch oder subsidiär haftenden Schuldnern ein- und derselben Forderung
beachtet werden. Diese Identität sei bezüglich AHV/IV/EO-Beitragsforderungen
einerseits und Schadenersatzforderungen andererseits nicht gegeben, weshalb die
einem Nachlassvertrag zustimmende Ausgleichskasse ihre Rechte gegenüber
Schadenersatzpflichtigen ungeachtet einer Einhaltung der Formalien gemäss Art.
303 Abs. 2 SchKG wahre. Das Eidgenössische Versicherungsgericht verwarf diese
Ansicht und entschied, dass die Ausgleichskassen von 1997 bis 2000 gegenüber
den nach Art. 52 AHVG haftbaren Organen die Verfahrensvorschriften des Art. 303
Abs. 2 SchKG (oder - alternativ - Abs. 3 dieser Norm) auch bei den nicht
identischen Beitrags- und Schadenersatzforderungen einhalten mussten, um einem
Nachlassvertrag ohne Verlust ihrer Schadenersatzansprüche zustimmen zu können
(E. 5 und 6 des genannten Urteils). Beitrags- und Schadenersatzpflichtige
wurden dabei als Mitverpflichtete im Sinne von Art. 303 SchKG betrachtet und
mit Blick auf den in Abs. 1 dieser Vorschrift erwähnten Bürgen wurde erwogen,
dass das privatrechtliche Institut der Bürgschaft durchaus Ähnlichkeiten mit
der gesetzlichen Haftung nach Art. 52 AHVG aufweist (E. 5.3.2 des zitierten
Urteils H 162/01). Die Unterstellung des Schadenersatzpflichtigen unter Art.
303 SchKG, in dessen Randtitel sich der Begriff "Mitverpflichtete" findet,
wurde mit dem Schutznorm-Gedanken des Gesetzgebers begründet, wonach es
ungerecht wäre, wenn der Gläubiger einem Nachlassvertrag zustimmen und sich
anschliessend beim Mitverpflichteten vollumfänglich schadlos halten könnte,
ohne dass Letzterem die Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich am
Nachlassverfahren zu beteiligen. Denn es wäre so für den Gläubiger einfach, den
Nachlassvertrag zu Lasten des Mitverpflichteten anzunehmen und ihm ein Opfer
aufzuerlegen, zu welchem er sich nicht bereit erklärt hätte (H 162/01 E.
5.3.1).

4.3.2. Wenn das BSV im hier zu beurteilenden Fall aus dem dargelegten Urteil
die Schlussfolgerung zieht, der als Arbeitgeberorgan subsidiär haftende
Beschwerdegegner sei als Bürge im Sinne von Art. 136 Abs. 2 OR zu betrachten
und als solchem sei ihm die unbestrittene Unterbrechung der Verjährungsfrist
gegenüber der Hauptschuldnerin (B.________ AG) ebenfalls zuzurechnen, ist der
Aufsichtsbehörde nicht zu folgen. Zunächst darf nicht aus den Augen gelassen
werden, dass der Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts im
Hinblick auf den geschilderten Schutzzweck erging und nur für jene Sachverhalte
praktische Bedeutung entfaltete, die sich im Zeitraum verwirklicht haben, in
welchem die Sozialversicherungsbeiträge konkursrechtlich nicht privilegiert
waren. Nach Wiedereinführung des Konkursprivilegs auf den 1. Januar 2001 fielen
derartige Haftungsfälle aufgrund der für die Bestätigung des Nachlassvertrages
vorausgesetzten vollen Deckung der privilegierten Forderungen (Art. 306 Abs. 2
Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 219 Abs. 4 SchKG [in der vom 1. Januar 2001 bis
31. Dezember 2013 geltenden Fassung]) in aller Regel ausser Betracht. Die vom
BSV nunmehr in Anlehnung an das frühere Urteil vorgenommene weite Auslegung von
Art. 136 Abs. 2 OR überzeugt nicht: Wohl findet sich in den Randtiteln zu Art.
303 SchKG und Art. 136 OR jeweils der Begriff "Mitverpflichtete (n) ". Darin
erschöpfen sich aber auch schon sämtliche Gemeinsamkeiten der beiden hier
interessierenden Normen. Während Letztere materielles Recht bildet, stellt Art.
303 Abs. 2 SchKG eine reine Verfahrensvorschrift dar (zitiertes Urteil H 162/01
E. 4.3). Die Art. 135 f. dienen dem Schutz des Gläubigers, wogegen Art. 303
Abs. 2 SchKG den Schuldner schützt (E. 4.3.1 hievor in fine). Wenn schon
Parallelen zu ziehen wären, spräche auch das erwähnte, im Lichte des
Schuldnerschutzes ergangene Urteil zu Art. 303 Abs. 2 SchKG dafür, dass die
Verjährung der Schadenersatzforderung nur unterbrochen wird, wenn die
Ausgleichskasse spezifisch gegen das subsidiär haftende Organ als Schuldner
dieser Forderung vorgeht (E. 4.2 hievor). Hier aber ist letztlich entscheidend,
dass Art. 136 OR die Folgen der Verjährungsunterbrechung ausschliesslich für
Solidarschuldner und Bürgen regelt (Däppen, a.a.O., N. 1 zu Art. 136 OR),
während im Gegensatz dazu die gesetzliche Aufzählung der Mitverpflichteten
gemäss Art. 303 SchKG nicht abschliessend, sondern beispielhaft ist (H 162/01
E. 5.2.1; Alexander Vollmar, in: Basler Kommentar, SchKG, Bd. II, 2. Aufl.
2010, N. 7 zu Art. 303 SchKG). Die Subsumtion des schadenersatzpflichtigen
Arbeitgeberorgans unter Art. 136 Abs. 2 OR ist demnach ausgeschlossen.

5. 
Das beschwerdeführende Bundesamt trägt keine Verfahrenskosten (Art 66 Abs. 4
BGG), hat jedoch dem obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner die
Parteikosten zu ersetzen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Beschwerdeführer hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 5'000.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. August 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Attinger

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