Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.929/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_929/2014

Urteil vom 13. April 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Josef Jacober,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Prozessvoraussetzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 11. Dezember 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ meldete sich am 7. Mai 2007 unter Hinweis auf Kniebeschwerden bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen klärte die medizinischen Verhältnisse ab und gab zu diesem Zweck bei der
Zentrum B.________ das interdisziplinäre Gutachten vom 25. Februar 2008 in
Auftrag. Mit Verfügung vom 21. Juli 2008 verneinte die IV-Stelle einen
Rentenanspruch. Im Rahmen der Abklärung von beruflichen Massnahmen holte sie
Berichte der behandelnden Ärzte und das Gutachten der Medizinischen
Abklärungsstelle D.________ vom 10. Juli 2009 ein. Mit Verfügung vom 27. Juli
2010 sprach sie dem Versicherten mit Wirkung ab 1. September 2008 eine halbe
Invalidenrente zu. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 10. Oktober 2012
teilweise gut und wies die Sache zur ergänzenden Abklärung und anschliessenden
Neuverfügung an die Verwaltung zurück. Nach Beizug weiterer Arztberichte wurde
A.________ auf Veranlassung des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) im Zentrum
C.________ erneut polydisziplinär begutachtet (Expertise vom 13. Januar 2014).
Die IV-Stelle führte das Vorbescheidverfahren durch. Mit Verfügung vom 24.
April 2014 stellte sie die bisherige halbe Rente mit sofortiger Wirkung ein und
entzog einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen in dem Sinne teilweise gut, dass es die angefochtene Verfügung aufhob
und die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung und anschliessenden
Neuverfügung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom
11. Dezember 2014).

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und die Sache
sei an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses ein Gerichtsgutachten
einhole.

 Das kantonale Gericht beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten;
eventuell sei diese abzuweisen. A.________ verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 138 V 318 E. 6 Ingress S. 320 mit Hinweis).

2. 
Gemäss Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das
Verfahren abschliessen. Ebenfalls zulässig ist nach Art. 91 Abs. 1 BGG die
Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren. Gegen einen sog. anderen
selbstständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG ist die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten demgegenüber nur zulässig,
wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a
BGG), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid
herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein
weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Ist die Beschwerde nicht
zulässig oder wurde von ihr kein Gebrauch gemacht, bleibt ein Zwischenentscheid
im Rahmen einer Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, sofern er sich
auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG). Rückweisungsentscheide, mit
denen eine Sache wie im vorliegenden Fall zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen wird, sind grundsätzlich Zwischenentscheide, die nur
unter den genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden
können (BGE 140 V 282 E. 2 S. 283 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 138 V 271).

3.

3.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, bezüglich der in somatischer Hinsicht
im Vordergrund stehenden Knie- und Hüftbeschwerden beantworte das Gutachten des
Zentrums B.________ nicht alle für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit
relevanten Fragen. Zudem fehle es an einer Auseinandersetzung mit der
abweichenden Beurteilung des Gesundheitszustandes und der Arbeitsfähigkeit in
den früheren medizinischen Gutachten des Zentrums B.________ und der
Medizinischen Abklärungsstelle D.________. In somatischer Hinsicht seien daher
ergänzende medizinische Abklärungen erforderlich, weshalb auf die Einschätzung
der Gutachter des Zentrums B.________, wonach beim Versicherten in einer
leidensadaptierten Tätigkeit eine volle Arbeitsfähigkeit bestehe, nicht
abgestellt werden könne. Die Sache sei daher dem Zentrum B.________ zur Klärung
der offenen Fragen und erneuten Beurteilung - allenfalls unter Vornahme von
weitergehenden Untersuchungen des Versicherten - vorzulegen. Diese habe
überdies zum Gutachten des Zentrums B.________ vom 28. Februar 2008 und der
Expertise der Medizinischen Abklärungsstelle D.________ vom 10. Juli 2009
Stellung zu nehmen. Die angefochtene Verfügung sei daher aufzuheben und die
Sache zur Ergänzung des Gutachtens des Zentrums B.________ an die IV-Behörde
zurückzuweisen. In psychiatrischer Hinsicht kam die Vorinstanz zum Schluss,
dass die mittelgradige depressive Episode als weitgehend therapieresistent zu
bezeichnen sei, deren invalidisierender Charakter nicht mit dem Argument einer
nicht konsequent befolgten Depressionsbehandlung verneint werden könne.

3.2. Die beschwerdeführende IV-Stelle macht unter Hinweis auf BGE 137 V 210 E.
4.4.1.4 S. 264 geltend, die Beschwerdeinstanz habe in der Regel ein
Gerichtsgutachten einzuholen, wenn sie im Rahmen der Beweiswürdigung zum
Schluss komme, ein bereits erhobener medizinischer Sachverhalt müsse -
insgesamt oder in wesentlichen Teilen - gutachtlich geklärt werden oder eine
Administrativexpertise sei in einem rechtserheblichen Punkt nicht
beweiskräftig. Eine Rückweisung der Sache an die IV-Stelle bleibe auch möglich,
wenn es darum gehe, zu einer bisher vollständig ungeklärten Frage ein Gutachten
einzuholen oder eine Klarstellung, Präzisierung oder Ergänzung von
gutachterlichen Ausführungen zu veranlassen. In der vorliegenden Streitsache
sei indessen weder ersichtlich noch werde im angefochtenen Entscheid dargetan,
dass die Voraussetzungen für eine Rückweisung an die Verwaltung erfüllt seien.
Die vorinstanzliche Rückweisung leide daher an einem Rechtsmangel. Die
IV-Stelle beruft sich überdies auf BGE 139 V 99. Bereits im damaligen Verfahren
habe sie einen Verstoss derselben Vorinstanz gegen die bundesgerichtliche
Rechtsprechung gerügt. Mit dem beanstandeten Entscheid vom 11. Dezember 2014
und dem ebenfalls angefochtenen Entscheid vom 15. Dezember 2014 bringe diese
klar zum Ausdruck, dass sie nicht gewillt sei, den verfahrensmässigen Vorgaben
gemäss BGE 137 V 210 Folge zu leisten. Auf die Beschwerde sei daher
einzutreten.

4.

4.1. Der Eintretensgrund von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG fällt hier ohne weiteres
ausser Betracht und wird auch nicht geltend gemacht.

4.2. Mit Blick auf das in Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG festgehaltene Erfordernis
des nicht wieder gutzumachenden Nachteils gilt es folgende Konstellationen zu
unterscheiden: Dient die Rückweisung einzig noch der Umsetzung des vom
kantonalen Gericht Angeordneten und verbleibt dem Versicherungsträger somit
kein Entscheidungsspielraum mehr, handelt es sich materiell nicht - wie bei
Rückweisungsentscheiden sonst grundsätzlich der Fall - um einen
Zwischenentscheid, gegen den ein Rechtsmittel letztinstanzlich bloss unter den
Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG zulässig ist, sondern um einen sowohl
von der betroffenen versicherten Person wie auch von der Verwaltung
anfechtbaren Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG. Enthält der
Rückweisungsentscheid demgegenüber Anordnungen, die den Beurteilungsspielraum
der Verwaltung zwar nicht gänzlich, aber doch wesentlich einschränken, stellt
er einen Zwischenentscheid dar. Dieser bewirkt in der Regel keinen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG, weil die
rechtsuchende Person ihn später zusammen mit dem neu zu fällenden Endentscheid
wird anfechten können (vgl. Art. 93 Abs. 3 BGG). Anders verhält es sich für den
Versicherungsträger, da er durch den Entscheid gezwungen wird, eine seines
Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Während er sich ausserstande
sähe, seinen eigenen Rechtsakt anzufechten, wird die versicherte Person im
Regelfall kein Interesse haben, einem zu ihren Gunsten lautenden Endentscheid
zu opponieren. Der kantonale Rückweisungsentscheid könnte mithin nicht mehr
korrigiert werden. Der irreversible Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a
BGG wird in diesen Fällen deshalb regelmässig bejaht. Das gilt aber nur, soweit
der Rückweisungsentscheid materiellrechtliche Vorgaben enthält, welche die
untere Instanz bei ihrem neuen Entscheid befolgen muss. Erschöpft sich der
Rückweisungsentscheid darin, dass eine Frage ungenügend abgeklärt und deshalb
näher zu prüfen ist, ohne dass damit materiellrechtliche Anordnungen verbunden
sind, so entsteht der Behörde, an die zurückgewiesen wird, kein nicht wieder
gutzumachender Nachteil. Die Rückweisung führt lediglich zu einer das Kriterium
nicht erfüllenden Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens (BGE 140 V 282
E. 4.2 S. 285 mit Hinweisen).

Der angefochtene Entscheid schränkt, indem er die Angelegenheit zur ergänzenden
medizinischen Abklärung und zu neuer Verfügung an die Beschwerdeführerin
zurückweist, deren Entscheidungsspielraum nicht in einem Masse ein, dass nur
noch eine Umsetzung des vom kantonalen Gericht Angeordneten in Frage käme. Auch
enthält er keine verbindlichen Anweisungen, in welcher Weise der Fall
materiellrechtlich zu behandeln ist.

4.3. Holt eine Beschwerdeinstanz zu Unrecht kein Gerichtsgutachten ein und
weist die Sache stattdessen an die IV-Stelle zurück, so beeinträchtigt dieses
Vorgehen zwar die mit BGE 137 V 210 E. 4 S. 258 verfolgte Zielsetzung. Nach BGE
139 V 99 begründet die nicht gerechtfertigte vorinstanzliche Rückweisung an die
Verwaltung dennoch regelmässig keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil
(Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Denn eine ausnahmsweise Anfechtbarkeit des
Zwischenentscheids unter diesem Titel stünde nur zur Diskussion, wenn ein
effektiver Rechtsschutz nicht auf andere Weise gewährleistet werden könnte.
Indessen wird das Bundesgericht im Fall eines Weiterzugs des Endentscheids
prüfen, ob die Rückweisung an die Verwaltung gerechtfertigt war. Verneint es
diese Frage, so kann es die Sache seinerseits an die erste Beschwerdeinstanz
zurückweisen, damit diese ein Gerichtsgutachten einhole (BGE 139 V 99 E. 2.3.1
S. 102). Dies wird geschehen, sobald der Beweiswert des nach einer
ungerechtfertigten Rückweisung eingeholten Administrativgutachtens auch nur
relativ geringfügig beeinträchtigt erscheint (BGE a.a.O. E. 2.3.2 S. 103).

4.4. BGE 139 V 99 E. 2.5 S. 104 befasst sich mit der Frage, was geschieht, wenn
eine Vorinstanz die Sache regelmässig zur gutachtlichen Abklärung an die
Verwaltung zurückweist, obwohl sie jeweils ein Gerichtsgutachten einholen
sollte. Das Bundesgericht behält sich vor, in einem solchen Fall ausnahmsweise
auf die Beschwerde gegen einen ungerechtfertigten Rückweisungsentscheid
einzutreten. Dahinter steht die Überlegung, dass eine strikte
Einzelfallbehandlung der Eintretensvoraussetzungen es verunmöglichen würde,
eine Fehlpraxis zu korrigieren. Es verhält sich insofern ähnlich, wie wenn
unter bestimmten Bedingungen auf das Eintretenserfordernis des aktuellen
praktischen Interesses (Art. 89 Abs. 1 BGG) verzichtet wird, damit eine
bestimmte Frage von allgemeinem Interesse überhaupt je einmal beurteilt werden
kann (Urteil 9C_454/2014 vom 31. Juli 2014 E. 2.3; vgl. BGE 140 III 92 E. 1.1
S. 93; 137 I 23 E. 1.3.1 S. 25).

Die IV-Stelle nennt über den vorliegend streitigen kantonalen Gerichtsentscheid
und den BGE 139 V 99 zugrunde liegenden Fall hinaus einen weiteren Entscheid
derselben Vorinstanz vom 15. Dezember 2014, mit welchem diese gegen die durch
BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 S. 264 definierte Verpflichtung der
Beschwerdeinstanzen, Gerichtsgutachten einzuholen, verstossen haben soll.
Entgegen der beschwerdeführerischen Auffassung kann nicht bereits anhand von
höchstens drei - nicht näher auf eine Verletzung der genannten Vorgaben der
Rechtsprechung hin geprüften - Fällen geschlossen werden, dass das kantonale
Gericht systematisch entsprechend vorgeht. Es besteht daher im vorliegenden
Fall kein Grund, vom Grundsatz der Nichtanhandnahme direkter Beschwerden gegen
ungerechtfertigte Rückweisungsentscheide eine Ausnahme zu machen.

4.5. Zusammenfassend sind die Voraussetzungen der Anfechtbarkeit nach Art. 93
Abs. 1 BGG zu verneinen. Die Beschwerde erweist sich daher als unzulässig.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Verfahrenskosten zu tragen (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66
Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. April 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Hofer

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