Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.858/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_858/2014        
{T 0/2}

Urteil vom 24. April 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Schultz,
Beschwerdeführerin,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 20. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1969 geborene A.________ war bei der B.________ AG als kaufmännische
Angestellte tätig gewesen und dadurch bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unfallversichert. Am 26. Januar 2011 unterzog
sie sich aufgrund einer segmentalen Instabilität L3/L4 und L4/L5 und einer
medianen Diskushernie L3/L4 sowie einer Protrusion L4/L5 einer Mikrodiskektomie
L3/L4 von links sowie einer interspinösen Stabilisation L3/L4 (Diam) und L4/L5
(Bacjac). Dr. med. C.________, Facharzt FMH für Neurochirurgie, Klinik
D.________, führte im Operationsbericht vom 26. Januar 2011 aus, da sich
intraoperativ eine Überbeweglichkeit auch des Segments L4/L5 gezeigt habe, sei
dort eine interspinöse Bacjac-Stabilisation durchgeführt worden. Wegen eines
postoperativen Infekts erfolgte am 23. März 2011 eine Wundexzision auf der Höhe
L3/L4 (Austrittsbericht der Klinik D.________ vom 25. März 2011). Anlässlich
einer Kontrolluntersuchung bei unveränderten lumbosakralen Beschwerden schien
gemäss Dr. med. C.________ das Segment L4/L5 etwas überdistrahiert mit leicht
kyphotischer Fehlstellung. Am 16. Mai 2011 entfernte Dr. med. E.________,
Leitender Arzt/stellvertretender Chefarzt am Spital F.________, aufgrund des
lumbalen Infekts mit dem Probionibacterium acnes die beiden Implantate (Bericht
des Spitals F.________ vom 10. Juni 2011). Am 6. November 2011 liess A.________
das Ereignis vom 26. Januar 2011 als Unfall melden, da ein Behandlungsfehler
vorliege; ohne ihre Einwilligung habe Dr. med. C.________ ein zweites Implantat
im Segment L4/L5 eingesetzt. Gestützt auf eine chirurgisch-orthopädische
Beurteilung des Dr. med. G.________, Facharzt für Chirurgie FMH, Facharzt für
Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, SUVA
Versicherungsmedizin, vom 28. Januar 2013 verneinte die SUVA mit Verfügung vom
10. April 2013 ihre Leistungspflicht. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 18. Juli 2013).

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 20. Oktober 2014 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids seien ihr die
gesetzlichen Leistungen nach UVG rückwirkend ab dem 26. Januar 2011 zu
gewähren. Ferner wird um unentgeltliche Prozessführung ersucht.
Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wurde verzichtet.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280 mit Hinweisen).
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art.
97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.

2.1. Eine Leistungspflicht der Unfallversicherung setzt von hier nicht
anwendbaren Ausnahmen abgesehen voraus, dass der Gesundheitsschaden Folge eines
Unfalles ist. Ein Unfall ist gemäss Art. 4 ATSG die plötzliche, nicht
beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf
den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen
oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat.

2.2.

2.2.1. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist der äussere Faktor
ungewöhnlich, wenn er - nach einem objektiven Massstab - nicht mehr im Rahmen
dessen liegt, was für den jeweiligen Lebensbereich alltäglich und üblich ist (
BGE 134 V 72 E. 4.1 S. 76; 118 V 283 E. 2a S. 284). Dies gilt auch, wenn zu
beurteilen ist, ob ein ärztlicher Eingriff den gesetzlichen Unfallbegriff
erfüllt (BGE 118 V 283 E. 2b S. 28). Nach der Praxis ist es indessen mit dem
Erfordernis der Aussergewöhnlichkeit streng zu nehmen, wenn eine medizinische
Massnahme infrage steht (BGE 121 V 35 E. 1b S. 38; 118 V 283 E. 2b S. 284). Die
Vornahme des medizinischen Eingriffs muss unter den jeweils gegebenen Umständen
vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweichen und zudem, objektiv
betrachtet, entsprechend grosse Risiken in sich schliessen.

2.2.2. Ob der Unfallbegriff, namentlich das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren
Faktors, im Rahmen einer Krankenbehandlung, für welche der Unfallversicherer
grundsätzlich nicht leistungspflichtig ist, ausnahmsweise erfüllt ist, ist
aufgrund objektiver medizinischer Kriterien zu prüfen. Die Frage ist nur dann
zu bejahen, wenn die ärztliche Vorkehr als solche den Charakter des
ungewöhnlichen äusseren Faktors aufweist, denn das Merkmal der
Aussergewöhnlichkeit bezieht sich nach der Definition des Unfallbegriffs nicht
auf die Wirkungen des äusseren Faktors, sondern allein auf diesen selbst. Ein
Behandlungsfehler kann den Unfallbegriff namentlich dann erfüllen, wenn es sich
um grobe und ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder
sogar um absichtliche Schädigungen handelt, mit denen niemand rechnet oder zu
rechnen braucht. Ob ein Unfall im Sinne des obligatorischen
Unfallversicherungsrechts vorliegt, beurteilt sich unabhängig davon, ob der
Arzt oder die Ärztin einen Kunstfehler begangen hat, der eine (zivil- oder
öffentlichrechtliche) Haftung begründet (SZS 2014 S. 593, 8C_283/2014; SVR 2012
UV Nr. 11 S. 37, 8C_708/2011).

3.

3.1. In sachverhaltlicher Hinsicht steht fest und ist unbestritten, dass Dr.
med. C.________ den Eingriff vom 26. Januar 2011 intraoperativ auf ein weiteres
Wirbelsäulensegment ausdehnte, indem er neben der mit der Beschwerdeführerin
abgesprochenen Mikrodiskektomie L3/L4 und der interspinösen Stabilisation L3/L4
auch eine interspinöse Stabilisation auf der Höhe L4/L5 mittels eines
Bacjac-Implantats vornahm, wofür keine Operationseinwilligung vorlag.

3.2. Das kantonale Gericht verneinte in Würdigung der medizinischen Aktenlage,
namentlich gestützt auf die versicherungsmedizinische Aktenbeurteilung des Dr.
med. G.________ vom 28. Januar 2013, dass dieses Vorgehen als äusserer Faktor
das Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit erfülle. Dr. med. G.________ habe
überzeugend dargelegt, dass der von Dr. med. C.________ durchgeführte Eingriff
sowohl in Bezug auf dessen intraoperativer Erweiterung als auch bezüglich der
Implantatwahl nicht derart aussergewöhnlich sei, um den Unfallbegriff zu
erfüllen. Vor dem Hintergrund der während der Operation gestellten Diagnose sei
die Versorgung eines weiteren Wirbelsäulensegments weder mit einer
ausserordentlichen Verwechslung beziehungsweise Ungeschicklichkeit noch mit
einer absichtlichen Schädigung, mit der niemand rechnet oder zu rechnen
braucht, zu vergleichen. Ebenso wenig liege mit Blick auf den postoperativen
Verlauf mit der Wundinfektion ein Unfall vor.

3.3. Die Vorbringen der Beschwerdeführerin rechtfertigen kein anderes Ergebnis.
Sie macht erneut geltend, sie sei präoperativ nicht darüber aufgeklärt worden,
dass intraoperativ erhobene, vorher nicht bekannte Befunde einen erweiterten
Eingriff indizieren könnten. Sie habe keine Einwilligung zum Einsetzen des
Bacjac-Implantats auf der Höhe L4/5 erteilt. Sie habe die möglichen Risiken
nicht gekannt und hätte mit diesen auch nicht rechnen können. Überdies sei
nicht erwiesen, dass die präoperative Diagnostik ausreichend war und ob
Wirbelsäuleninstabilitäten bei einem generalisierten Hypermobilitätssyndrom
überhaupt mit interspinösen Implantaten zu behandeln seien. Bei ohnehin
äusserst umstrittener Diagnose habe sie nicht damit rechnen müssen, dass der
operierende Arzt ein zusätzliches - und schon gar nicht ein anderes als das
besprochene - Implantat einbaue, zumal die Operation ambulant erfolgt sei; die
Fachärzte seien sich zudem über dessen Einsatz bei der vorliegenden Diagnose
nicht einig.

3.4. Mit dieser Argumentation verkennt die Beschwerdeführerin, dass auch eine
allenfalls mangelhafte Aufklärung über den geplanten Eingriff mit möglicher
Erweiterung desselben nicht vermöchte, die vorgenommene Behandlung als solche
als ungewöhnlich im Sinne des Unfallbegriffs erscheinen zu lassen. Für Dr. med.
G.________ war die von Dr. med. C.________ beschriebene, während der Operation
vorgefundene, vermehrte segmentale Beweglichkeit auch in Höhe L4/L5
hinsichtlich des im Austrittsbericht der Klinik H.________ vom 28. Juli 2011
festgehaltenen, chronischen lumbovertebralen Syndroms unter anderem bei
Hyperlaxidität nachvollziehbar. Die intraoperative Ausdehnung des Eingriffs im
Sinne der Durchführung eines für ein Wirbelsäulensegment bewilligten
Operationsverfahrens auf ein weiteres Wirbelsäulensegment, wofür dieselbe
Diagnose gestellt wurde, weiche aus medizinischer Sicht nicht ganz erheblich
vom medizinisch Üblichen ab, auch wenn normalerweise präoperativ allgemein
aufgeklärt werde, dass während der Operation neu erhobene Befunde eine
Ausdehnung des Eingriffs indizieren könnten. Die Vorinstanz schloss hieraus
zutreffend, dass mit diesem operativen Vorgehen die Ungewöhnlichkeit im Sinne
des Unfallbegriffs nicht vorliegt. Die Versicherte wurde unbestrittenermassen
über das Operationsverfahren als solches und die möglichen Risiken des
Eingriffs aufgeklärt, wobei sie ihre Einwilligung zur Stabilisierung des
Wirbelsäulensegments auf der Höhe L3/L4 gab. Auch wenn fachärztlicherseits
umstritten sein sollte, ob die Einsetzung der Implantate im Generellen und die
Benützung eines Bacjac-Implantats im Besonderen als indizierte Behandlung bei
der vorliegenden Diagnose anzusehen ist und zudem einzig das Einsetzen eines
Implantats auf der Höhe L3/L4 mit der Versicherten besprochen worden war,
besitzt die Vorkehr des Dr. med. C.________ (einschliesslich der Implantatwahl)
mit Blick auf den intraoperativen Befund nicht den Charakter eines
ungewöhnlichen äusseren Faktors, wie sich aus der nachvollziehbaren Beurteilung
des Dr. med. G.________ ergibt. Anders als beim zu beurteilenden Eingriff im
von der Versicherten angerufenen Urteil 8C_526/2007 vom 29. April 2008, in: SVR
2008 UV Nr. 22 S. 82, ergibt sich aus der medizinischen Aktenlage nicht, dass
bei der hier vorzunehmenden Mikrodiskektomie und der Implantateinlage in grober
Weise nicht sachgerecht vorgegangen worden wäre. Anhaltspunkte für grobe und
ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder für absichtliche
Schädigungen, mit denen niemand rechnet oder zu rechnen braucht, liegen keine
vor, weshalb kein unfallversicherungsrechtlich relevanter Behandlungsfehler
ausgewiesen ist. Dem steht auch der komplikationsbehaftete, postoperative
Verlauf nicht entgegen. Ein Unfall im Rechtssinne ist daher mit dem kantonalen
Gericht nicht anzunehmen.

4. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs.
1, Art. 68 Abs. 2 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihr gewährt
werden; sie hat der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in
der Lage ist (Art. 64 Abs. 1, 2 und 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Markus Schultz wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. April 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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