Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.851/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]               
{T 0/2}
                             
8C_851/2014, 8C_852/2014

Urteil vom 14. April 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
8C_851/2014
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin,

und

8C_852/2014
IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerden gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 14. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1960 geborene A.________ arbeitete zuletzt bis 31. August 2009 als
Pflegeassistentin/Behindertenbetreuerin für die Stiftung B.________. Die
Kündigung erfolgte, weil sie nach Auftreten eines lumboradikulären
Schmerzsyndroms mit rechtsseitiger Diskushernie L5 die angestammte Tätigkeit
nicht mehr vollumfänglich aufnehmen konnte. Am 30. Mai 2009 meldete sie sich
unter Hinweis auf Rückenprobleme bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Gestützt auf die eingeholten Arztberichte sowie eine
interdisziplinäre Begutachtung der Dres. med. Frau C.________, FMH
Rheumatologie und Innere Medizin, und Frau D.________, FMH Psychiatrie und
Psychotherapie (Expertise vom 27. Oktober 2010), gelangte die IV-Stelle Bern
zur Auffassung, dass die Voraussetzungen nicht erfüllt seien, um die
vorliegende somatoforme Schmerzstörung als invalidisierend anzusehen.
Dementsprechend lehnte sie einen Rentenanspruch am 16. Juli 2012
verfügungsweise ab. Die Beschwerde der A.________ wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 18. Januar 2013 ab.

A.b. Mit Urteil 8C_162/2013 vom 17. Juli 2013 hob das Bundesgericht den
Entscheid vom 18. Januar 2013 auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück,
damit sie, nach Einholung eines psychiatrischen Gerichtsgutachtens, über die
Beschwerde neu entscheide.

B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess mit Entscheid vom 14. Oktober
2014 die Beschwerde der A.________ gut. Es hob die Verfügung der IV-Stelle Bern
vom 16. Juli 2012 auf und sprach der Versicherten ab 1. Dezember 2009 eine
halbe Invalidenrente zu. Zur Beurteilung des Rentenanspruchs für die Zeit nach
dem 16. Juli 2012 wies es die Sache an die IV-Stelle zurück.

C. 
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, der Entscheid vom 14. Oktober 2014 sei aufzuheben und ihr eine
ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache an das kantonale
Gericht zu weiteren medizinischen Abklärungen im Sinne von Ergänzungsfragen an
die Gerichtsgutachter zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. 
Die IV-Stelle Bern führt ihrerseits Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheids sei die Sache zur Einholung eines Obergutachtens an die Vorinstanz,
eventualiter an die IV-Stelle, zurückzuweisen. Ferner ersucht sie um Erteilung
der aufschiebenden Wirkung des eingereichten Rechtsmittels.
A.________ lässt beantragen, es sei die Beschwerde abzuweisen und dieser keine
aufschiebende Wirkung zu erteilen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Da den beiden Beschwerden derselbe Sachverhalt zugrunde liegt, sich die
gleichen Rechtsfragen stellen und die Rechtsmittel den nämlichen
vorinstanzlichen Entscheid betreffen, rechtfertigt es sich, die beiden
Verfahren zu vereinigen und in einem Urteil zu erledigen (BGE 128 V 124 E. 1 S.
126).

2. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung gemäss Art. 95 BGG
beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind
die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen sowie die Beachtung des
Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231
E. 5.1 S. 232). Die aufgrund dieser Berichte gerichtlich festgestellte
Gesundheitslage bzw. Arbeitsfähigkeit und die konkrete Beweiswürdigung sind
Sachverhaltsfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397; nicht publ. E. 4.1 des Urteils
BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164, 9C_204/2009).

3.

3.1. Zu prüfen ist, ob die Versicherte ab 1. Dezember 2009 Anspruch auf eine
Invalidenrente hat. In diesem Verfahren sind, wie die Vorinstanz richtig
festgehalten hat, nur die Verhältnisse bis zum Zeitpunkt der strittigen
Verfügung vom 16. Juni 2012 zu betrachten (BGE 121 V 362 E. 1b S. 366). Im Raum
steht die Frage, ob es sich bei der diagnostizierten depressiven Problematik um
eine reaktive Begleitsymptomatik der in der Expertise vom 27. Oktober 2010
festgestellten somatoformen Schmerzstörung handelt oder ob ein davon
losgelöstes, selbstständiges Leiden vorliegt. Die dafür massgebenden
Rechtsgrundlagen hat das kantonale Gericht zutreffend dargelegt, worauf
verwiesen wird.

3.2. Der Versicherungsträger und im Beschwerdeverfahren das
Sozialversicherungsgericht haben im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes den
rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen (Art. 43 Abs. 1,
Art. 61 lit. c ATSG). Es gilt das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Danach
haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsgericht die Beweise frei, d.h.
ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu
würdigen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass das
Sozialversicherungsgericht alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie
stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren
Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches
gestatten. Insbesondere darf es bei einander widersprechenden medizinischen
Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu
würdigen und die Gründe anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die
andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines
Arztberichtes ist also entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange
umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten
Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben
worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der
Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die
Schlussfolgerungen des Experten begründet sind. Ausschlaggebend für den
Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch
die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als
Bericht oder Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; vgl. auch BGE 134 V 231 E.
5.1 S. 232; 133 V 450 E. 11.1.3 S. 469). Dennoch hat es die Rechtsprechung mit
dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung als vereinbar erachtet, in Bezug auf
bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die
Beweiswürdigung aufzustellen (BGE 125 V 351 E. 3b Ingress S. 352).

3.3. Die Vorinstanz erwog, im psychiatrischen Gerichtsgutachten der
psychiatrischen Dienste E.________ vom 2. Mai 2014 seien eine posttraumatische
Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) und eine rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig schwere Episode, (ICD-10: F33.2) diagnostiziert worden. Die
Gutachter hätten trotz entsprechender Symptomatik die somatoforme
Schmerzstörung und die soziale Phobie nicht als separate, eigenständige
Störungsbilder diagnostiziert, da sowohl eine posttraumatische
Belastungsstörung als auch eine schwere depressive Episode zu einem
ausgeprägten sozialen Rückzug führen könnten. Die bestehenden Leiden seien
gemäss den Experten nicht nur als psychische Komorbiditäten von erheblicher
Schwere, Intensität und Dauer, sondern auch als eigenständig invalidisierende
Gesundheitsgebrechen anzusehen. Gestützt hierauf wertete das kantonale Gericht
die depressive Störung nicht als reaktive Begleiterkrankung der somatoformen
Schmerzstörung. Dass die Gutachter sich nicht mit den sog. "Foerster-Kriterien"
gemäss der Rechtsprechung zur willentlichen Überwindbarkeit von somatoformen
Schmerzstörungen (vgl. BGE 139 V 547 E. 9.1.1 S. 565) auseinandergesetzt
hätten, spiele keine Rolle. Die psychische Krankheit habe sich
verselbstständigt, weshalb sie inzwischen unabhängig vom Weiterbestehen oder
Wegfallen der ungünstigen psychosozialen und soziokulturellen Faktoren andaure.
Die von der Psychiaterin Frau Dr. med. D.________ in der Expertise vom 27.
Oktober 2010 festgestellte rezidivierende depressive Störung habe somit
invalidisierenden Charakter, wobei die vom Bundesgericht im Urteil 8C_162/2013
unbeanstandet gelassene gutachterliche Feststellung einer 50%igen
Arbeitsfähigkeit zu berücksichtigen sei. Wie genau es sich mit der
posttraumatischen Belastungsstörung verhalte, könne angesichts des Umstands,
dass sie erstmals im Gutachten der psychiatrischen Dienste E.________, mithin
zwei Jahre nach Verfügungserlass diagnostiziert worden sei, ebenso offen
gelassen werden wie die Frage nach einer hierauf basierenden Verschlechterung
des Gesundheitszustands nach dem hier massgebenden Zeitraum bis 16. Juli 2012
und damit einhergehender vollständiger Arbeitsunfähigkeit.

3.4. Die Versicherte wendet dagegen ein, indem das kantonale Gericht
hinsichtlich der Arbeitsfähigkeitsschätzung erneut auf das interdisziplinäre
Gutachten vom 27. Oktober 2010 abgestellt habe, obwohl dieses gemäss Urteil
8C_162/2013 nicht als schlüssige Grundlage für die Festsetzung der
Arbeitsfähigkeit gelte, habe es Bundesrecht verletzt. Es liege eine
Rechtsverweigerung vor. Willkürlich sei schliesslich die vorinstanzliche
Annahme, die posttraumatische Belastungsstörung habe sich erst nach
Verfügungserlass entwickelt. Im Gerichtsgutachten werde eine Arbeitsunfähigkeit
von 100 % seit Mai 2009 bestätigt. Der Zeitpunkt der vollständigen psychischen
Dekompensation mit 100%iger Arbeitsunfähigkeit fiele zeitlich mit dem
Arbeitsplatzverlust im Mai 2009 zusammen. Hieraus resultiere ein Anspruch auf
eine ganze Rente seit Dezember 2009. Im Eventualstandpunkt wird vorgebracht,
wenn die Vorinstanz hinsichtlich der Frage nach einer Arbeitsunfähigkeit bis
zum Verfügungszeitpunkt der Meinung gewesen sei, diese werde durch das
Gerichtsgutachten nicht beantwortet, indem lediglich eine
Arbeitsfähigkeitsschätzung zum Gutachtenszeitpunkt vorliege, habe sie den
Untersuchungsgrundsatz verletzt, da sie diesfalls den Gutachtern
Ergänzungsfragen hätte stellen müssen.

3.5. Die Beschwerde der IV-Stelle richtet sich gegen den Beweiswert des
Gerichtsgutachtens der psychiatrischen Dienste E.________ vom 2. Mai 2014. Es
fehle nach wie vor an einer überzeugenden Auseinandersetzung, ob es sich bei
der depressiven Symptomatik um eine reaktive Begleiterscheinung der
somatoformen Schmerzstörung oder um ein davon losgelöstes Leiden handle, da
sich die Gutachter nicht mit der gesundheitlichen Situation im massgebenden
Zeitraum bis zum 16. Juli 2012 auseinandergesetzt hätten, zumal zum damaligen
Zeitpunkt lediglich eine mittelgradige depressive Episode im Raum gestanden
habe. Weiter sei der Stellenwert der psychosozialen Faktoren nicht geklärt. Es
fehle ein Einbezug der Vorakten, indem nirgends dargelegt werde, weshalb die
Experten zu anderen Schlussfolgerungen als die bisher involvierten Ärzte
gelangt seien. Schliesslich hätten die Experten mit Blick auf die zwischen den
traumatisierenden Ereignissen und der psychischen Dekompensation liegende
Zeitspanne von rund 20 Jahren, das Vorliegen einer posttraumatischen
Belastungsstörung nicht überzeugend dargetan.

4.

4.1. Im Urteil 8C_162/2013 vom 17. Juli 2013 E. 4.2 erkannte das Bundesgericht,
dass die interdisziplinäre rheumatologisch-psychiatrische Beurteilung vom 27.
Oktober 2010 (einschliesslich der ergänzenden Stellungnahme vom 29. Oktober
2011) nicht als Grundlage für die Festsetzung der Arbeitsfähigkeit dienen kann.
Insoweit geht die vorinstanzliche Annahme einer damit unbeanstandet gebliebenen
Arbeitsfähigkeitsschätzung der Frau Dr. med. D.________ in der Expertise vom
27. Oktober 2010, wonach eine 50%ige Arbeitsfähigkeit bestünde, fehl. Für die
Arbeitsfähigkeitsbeurteilung ist diese Expertise gerade nicht beweiskräftig.
Die daraus abgeleitete vorinstanzliche Feststellung einer im massgebenden
Zeitraum bestehenden 50%igen Arbeitsfähigkeit ist daher offensichtlich
unrichtig und für das Bundesgericht nicht bindend (E. 2).

4.2. Das kantonale Gericht erachtete - ohne nähere Prüfung der praxisgemässen
Kriterien hierzu (E. 3.2) - das Gerichtsgutachten als beweiskräftig. Diese
Beurteilung hält einer rechtskonformen Beweiswürdigung nicht stand: Die
vorinstanzlichen Schlussfolgerungen sind insbesondere insofern nicht
nachvollziehbar und schlüssig, als das Gericht die Frage nach einem
eigenständigen depressiven Leiden als hinreichend klar beantwortet sah und es
im Umstand, dass sich die Gutachter hinsichtlich bestehender Beschwerden mit
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit nicht hinreichend mit den vorliegenden
medizinischen Akten auseinandersetzten sowie sich nicht auf den zu
beurteilenden Zeitraum bezogen, keinen Mangel erblickte, wie sich aus den
nachstehenden Darlegungen ergibt:

5.

5.1. Die Gerichtsgutachter der psychiatrischen Dienste E.________ nahmen zu den
abweichenden psychiatrischen Beurteilungen im Vorgutachten nicht eingehend
Stellung. Sie führten hinsichtlich ihrer Diagnosen lediglich aus, eine
posttraumatische Belastungsstörung könne zu einem abnorm gesteigerten
Schmerzerleben führen. Sowohl eine posttraumatische Belastungsstörung als auch
eine schwere depressive Episode könnten einen ausgeprägten sozialen Rückzug
bewirken, weshalb trotz entsprechender Symptomatik die somatoforme
Schmerzstörung und die soziale Phobie nicht als eigenständige Störungsbilder
diagnostiziert würden. Eine somatoforme Schmerzstörung nach ICD-10: F45.4 und
eine posttraumatische Belastungsstörung gemäss ICD-10: F43.1 sind nicht
identische Beschwerdebilder und können nebeneinander vorliegen. Es ist daher
nicht einleuchtend, wenn die Gutachter einzig mit der Begründung, dass eine
posttraumatische Belastungsstörung zu einem abnorm gesteigerten subjektiven
Schmerzerleben führen könne und beide Diagnosen einen ausgeprägten sozialen
Rückzug zu bewirken vermöchten, auf die Diagnose einer Schmerzstörung
verzichteten und nicht näher darlegten, weshalb die Schmerzproblematik so weit
in den Hintergrund getreten ist, dass sie keine eigenständige Diagnose mehr
bildete. Dementsprechend finden sich im Gutachten auch keine Darlegungen zur
Überwindbarkeit der Schmerzproblematik. Zur posttraumatischen Belastungsstörung
und der depressiven Problematik gaben die Experten an, diese seien nicht nur
als psychische Leiden von erheblicher Schwere, Intensität und Dauer, sondern
auch als eigenständige, invalidisierende Gesundheitsgebrechen zu betrachten.
Sie führten weiter aus, das depressive Störungsbild stehe in engem Zusammenhang
mit der posttraumatischen Belastungsstörung. Der Verlauf und die therapeutische
Beeinflussbarkeit entsprächen nicht derjenigen einer isoliert auftretenden
Depression. Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung ist damit die Frage, ob
eine eigenständige depressive Symptomatik hinreichender Schwere besteht, gerade
nicht geklärt, indem eine enge Verknüpfung mit der posttraumatischen
Belastungsstörung bejaht wird. Hinsichtlich dieser Diagnose ist Folgendes
festzuhalten: In der Schweiz absolvierte die Versicherte eine Ausbildung zur
Pflegeassistentin SRK und arbeitete bis zum Auftreten einer Diskushernie im
Dezember 2007 in einem Umfang von 100 %. Eine psychiatrische Behandlung
erfolgte erstmals im Mai 2009. Gestützt auf die Angaben der Versicherten
endeten die Traumatisierungen durch den gewalttätigen ersten Ehemann mit ihrer
Einreise in die Schweiz im Jahre 1989, wobei, gemäss den Experten, eine
Retraumatisierung durch ihre von 1993 bis 2001 ausgeführte Tätigkeit als
Pflegeassistentin auf einer Intensivstation stattfand, da sie dort mit dem Tod
von Unfallopfern konfrontiert wurde. Mit Blick auf diese Gegebenheiten fehlt in
der Expertise jede Auseinandersetzung mit der Frage, weshalb trotz langer
zeitlicher Latenz (Dilling/Freyberger [Hrsg.], Taschenführer zur
ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, 7. Aufl. 2014, S. 173-175; Urteil
9C_636/2013 vom 25. Februar 2014 E. 4.3.2 mit weiteren Hinweisen) mit fehlenden
Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung und "hohem Funktionsniveau"
ohne Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, wie die Experten ausführten, die
Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zu stellen ist (vgl. zur
Überwindbarkeit einer posttraumatischen Belastungsstörung: Urteil 8C_538/2014
vom 6. Februar 2015 E. 4.2.3 mit Hinweis auf Urteil 8C_483/2012 vom 4. Dezember
2012 E. 4). Im Gutachten finden sich überdies keine Hinweise über den Verlauf
der depressiven Symptomatik, namentlich, ab wann die depressive Episode den
postulierten Schweregrad gemäss ihrer Einschätzung erreicht hat. Damit
einhergehend bleibt im Gutachten unbeantwortet, zu welchem Zeitpunkt eine
vollständige Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, indem einzig festgehalten
wurde, es gäbe zum aktuellen Zeitpunkt keine zumutbaren Tätigkeiten, womit eine
vollständige Arbeitsunfähigkeit bestehe. Sollte eine diesbezügliche
rückblickende gutachterliche Einschätzung nicht möglich sein, hätte dies
Eingang in die Expertise finden sollen.

5.2. Entgegen der Auffassung der Versicherten kann nach dem Gesagten aus dem
Gerichtsgutachten nicht geschlossen werden, dass die attestierte vollständige
Arbeitsunfähigkeit bereits im hier zu beurteilenden Zeitraum bestanden hat,
zumal Frau Dr. med. D.________ in der Expertise vom 27. Oktober 2010 von einer
mittelschweren depressiven Episode ausging, weshalb - würde der Expertise der
psychiatrischen Dienste E.________ vom 2. Mai 2014 gefolgt werden - im Verlauf
eine Verschlechterung der gesundheitlichen Situation eingetreten sein muss. Da
die Arbeits (un) fähigkeit bis zum Verfügungszeitpunkt zu ermitteln ist, die
Gutachter jedoch die Frage, seit wann sie von einer vollständigen
Arbeitsunfähigkeit ausgehen, nicht abhandelten, obwohl sie die Vorinstanz
hierzu im entsprechenden Fragenkatalog gemäss prozessleitender Verfügung vom
19. September 2013 aufgefordert hatte, kann hierauf nicht abgestellt werden.
Ein die Arbeitsfähigkeit für den gesamten massgeblichen Vergleichszeitraum
grundsätzlich erheblich und andauernd limitierender Gesundheitsschaden in Form
der posttraumatischen Belastungsstörung und der depressiven Episode lässt sich
dem Gutachten vom 2. Mai 2014 jedenfalls nicht entnehmen.

5.3. Damit genügt das Gutachten der psychiatrischen Dienste E.________ den
rechtsprechungsgemässen Anforderungen an die Beweiskraft nicht (E. 3.2). Im
vorinstanzlichen Entscheid fehlt es an verbindlichen Feststellungen zur Arbeits
(un) fähigkeit der Versicherten. Der angefochtene Entscheid beruht
bundesrechtsverletzend auf einem ungenügend abgeklärten Sachverhalt bzw. auf
unvollständiger Beweisgrundlage (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 8C_234/2013 vom 9.
Oktober 2013 E. 3). Mithin ist die Sache erneut an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit sie die notwendigen ergänzenden Abklärungen im Sinne der
Erwägungen mittels eines psychiatrischen Obergutachtens in die Wege leite und
über den Rentenanspruch ab 1. Dezember 2009 neu befinde.

6. 
Mit dem Entscheid in der Sache wird das von der IV-Stelle mit der Beschwerde
eingereichte Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

7. 
Bei beiden Verfahren wird auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet. Die
IV-Stelle hat der Versicherten für das von ihr angehobene Verfahren (8C_851/
2014) eine Parteientschädigung von Fr. 2'800.- zu bezahlen, da sie im Sinne der
eventualiter beantragten Rückweisung der Sache an die Vorinstanz obsiegt (Art.
66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG). Im von der IV-Stelle angestrengten Verfahren
(8C_852/2014) hat die Versicherte keinen Anspruch auf Parteientschädigung, da
nicht von einem Obsiegen gesprochen werden kann. Die IV-Stelle hat ohnehin
keinen Parteientschädigungsanspruch (Art. 68 Abs. 3 BGG; SVR 2011 UV Nr. 7 S.
25 E. 6, 8C_443/2010).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Verfahren 8C_851/2014 und 8C_852/2014 werden vereinigt.

2. 
Die Beschwerde der A.________ wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 14. Oktober 2014 wird aufgehoben. Die
Sache wird zu ergänzender Abklärung und neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

3. 
Die Beschwerde der IV-Stelle Bern wird gutgeheissen.

4. 
Es werden keine Gerichtskosten auferlegt.

5. 
Die IV-Stelle Bern hat A.________ für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
2'800.- zu entschädigen.

6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. April 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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