Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.850/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_850/2014

Urteil vom 4. Mai 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Loher,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
23. September 2014.

Sachverhalt:

A. 

A.a. A.________ meldete sich am 9. Mai 2005 wegen anhaltender Beschwerden seit
einem als Personenwagenlenkerin am 30. August 2003 erlittenen Distorsionstrauma
der Halswirbelsäule (HWS) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an.
Nach umfangreichen Abklärungen verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau einen
Rentenanspruch (Verfügung vom 15. Februar 2012). Auf Beschwerde der
Versicherten hin bestätigten das Versicherungsgericht des Kantons Aargau und
letztinstanzlich auch das Bundesgericht die Verneinung eines Rentenanspruchs
(Urteil 8C_548/2013 vom 2. Oktober 2013).

A.b. Am 23. Juli 2009 meldete sich die Versicherte zum Bezug von
Hilflosenentschädigung an. Nach weiteren Abklärungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle einen Anspruch auf
Hilflosenentschädigung (Verfügung vom 21. Juni 2011). Zwecks nachträglicher
Gewährung des rechtlichen Gehörs zu dem von der IV-Stelle eingeholten
polydisziplinären Gutachten vom 6. Mai 2011 der medizinischen Gutachterstelle
B.________ ersetzte die IV-Stelle ihre Verfügung vom 21. Juni 2011 durch die im
Ergebnis gleichlautende neue Verfügung vom 19. September 2011. Die hiegegen
gerichtete Beschwerde der Versicherten hiess das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau am 21. Februar 2012 teilweise gut und wies die Sache zur
weiteren Abklärung und Neuverfügung an die IV-Stelle zurück. Es schloss in den
Erwägungen, worauf das Dispositiv verwies, zwar aus, dass A.________ in den
sechs alltäglichen Lebensverrichtungen in erheblicher Weise auf Dritthilfe
angewiesen sei. Es erkannte jedoch den Sachverhalt mit Blick auf die Frage nach
dem Ausmass des tatsächlichen Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung als
ungenügend abgeklärt.

A.c. Nach einer weiteren Haushaltsabklärung vom 18. September 2013 lehnte die
IV-Stelle erneut einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung ab (Verfügung vom 3.
Dezember 2013).

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 23. September 2014 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ unter
Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheids beantragen, es sei ihr eine
angemessene Hilflosenentschädigung zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache
zwecks Ermittlung der Einschränkung in der alltäglichen Lebensverrichtung und
zur medizinischen Abklärung des Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung an die
IV-Stelle zurückzuweisen,

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist
folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von
der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 137 II
313 E. 1.4 S. 317 f. mit Hinweis; vgl. auch BGE 139 V 127 E. 1.2 S. 129 mit
Hinweisen). Das Bundesgericht prüft unter Berücksichtigung der allgemeinen
Rüge- und Begründungspflicht - vorbehältlich offensichtlicher Fehler - nur die
in seinem Verfahren geltend gemachten Rechtswidrigkeiten. Es ist jedenfalls
nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden
rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr
vorgetragen werden (BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389; vgl. auch BGE 137 III 580
E. 1.3 S. 584; je mit Hinweisen). Die Verletzung von Grundrechten und von
kantonalem und interkantonalem Recht prüft das Bundesgericht nur insofern, als
eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art.
106 Abs. 2 BGG).

1.2. Die auf medizinische Abklärungen und auf einen Abklärungsbericht an Ort
und Stelle gestützten gerichtlichen Feststellungen über Einschränkungen der
versicherten Person in bestimmten Lebensverrichtungen sind Sachverhaltsfragen (
BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398 f.; Urteil 8C_359/2010 vom 10. November 2010 E. 1
mit Hinweis). Rechtsverletzungen sind die unvollständige Feststellung
rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes
(Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG), der Anforderungen an den Beweiswert von
Arztberichten (BGE 134 V 231 f. E. 5.1) und eines Abklärungsberichts an Ort und
Stelle (Art. 69 Abs. 2 IVV; BGE 133 V 450 E. 11.1.1 f. S. 468 f.). Die konkrete
Beweiswürdigung ist Tatfrage (nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, in
SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/2009]).

2. 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der
Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung und die
für deren Höhe wesentliche Unterscheidung dreier Hilflosigkeitsgrade (Art. 42
Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 IVG; Art. 37 f. IVV; BGE 127 V 94 E. 3c S. 97; 125 V
297 E. 4a S. 302) sowie die leichte Hilflosigkeit bei Bedarf einer dauernden
persönlichen Überwachung (Art. 37 Abs. 3 lit. b IVV) und dauerndem
Angewiesensein auf lebenspraktische Begleitung (Art. 37 Abs. 3 lit. e in
Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 IVV) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die
Ausführungen zu den sechs rechtsprechungsgemäss für die Bestimmung des
jeweiligen Hilflosigkeitsgrades relevanten alltäglichen Lebensverrichtungen
(Ankleiden/Auskleiden, Aufstehen/Absitzen/Abliegen, Essen, Körperpflege,
Verrichten der Notdurft, Fortbewegung [im oder ausser Haus]/Kontaktaufnahme;
vgl. BGE 127 V 94 E. 3c S. 97, 125 V 297 E. 4a i.f. S. 303, je mit Hinweisen)
sowie zu den Anforderungen an Abklärungen zwecks Feststellung des Anspruchs auf
Hilflosenentschädigung (BGE 130 V 61 E. 6.1.1 und 6.2 S. 61). Darauf wird
verwiesen.

3. 
Mit Blick auf die damals ausschliesslich Streitgegenstand bildende Frage, ob
und gegebenenfalls in welchem Ausmass die Versicherte aus gesundheitlichen
Gründen in ihrer - trotz dieser Beeinträchtigungen zumutbaren -
Leistungsfähigkeit eingeschränkt und folglich in allenfalls
rentenanspruchsbegründendem Ausmass invalid sei, hat auch das Bundesgericht
letztinstanzlich auf den gemäss Gutachten der medizinischen Gutachterstelle
B.________ festgestellten Gesundheitsschaden und die daraus resultierende
Einschränkung der Leistungsfähigkeit von 30% abgestellt (Urteil 8C_548/2013 vom
2. Oktober 2013 E. 3 und 4.1) und die Verneinung eines Anspruchs auf eine
Invalidenrente bestätigt (Urteil 8C_548/2013 vom 2. Oktober 2013 E. 5.5). Die
30%-ige Einschränkung der Leistungsfähigkeit beruht laut Gutachten der
medizinischen Gutachterstelle B.________ (S. 45) unter anderem auf einer
zeitlichen Reduktion der Arbeitsfähigkeit zwecks Absolvierung der zwei- bis
dreimal wöchentlich erforderlichen physikalischen Entstauungstherapie mit
manueller Lymphdrainage und anschliessendem Bandagieren infolge des Lipo-/
Lymphödems. Den übrigen Gesundheitsschäden war im Rahmen der interdisziplinären
Gesamtbeurteilung gemäss Gutachten der medizinischen Gutachterstelle B.________
jedenfalls keine zusätzlich einschränkende Bedeutung über die 30%-ige
Leistungsfähigkeitsbeeinträchtigung hinaus beizumessen (Urteil 8C_548/2013 vom
2. Oktober 2013 E. 5.2 und 5.3). Es besteht keine Veranlassung, darauf zurück
zu kommen.

4. 
Demgegenüber ist hier einzig strittig, ob die Vorinstanz zu Recht die von der
IV-Stelle am 3. Dezember 2013 verfügte Verneinung eines Anspruchs auf
Hilflosenentschädigung bestätigt hat.

5. 
Vorweg ist die Rechtsfrage zu prüfen, ob das kantonale Gericht den
rechtserheblichen Sachverhalt richtig und vollständig festgestellt, oder im
Gegenteil Art. 61 lit. c ATSG verletzt hat.

5.1. Gemäss BGE 140 V 543 E. 3.2.1 S. 547 hat ein Abklärungsbericht unter dem
Aspekt der Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG) oder des Pflegebedarfs folgenden
Anforderungen zu genügen:
Als Berichterstatterin wirkt eine qualifizierte Person, welche Kenntnis der
örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus den seitens der Mediziner
gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen und
Hilfsbedürftigkeiten hat.  Bei Unklarheiten über physische oder psychische
Störungen und/oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen sind
Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern
notwendig [nachträgliche Hervorhebung]. Weiter sind die Angaben der Hilfe
leistenden Personen zu berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der
Beteiligten im Bericht aufzuzeigen sind. Der Berichtstext schliesslich muss
plausibel, begründet und detailliert bezüglich der einzelnen alltäglichen
Lebensverrichtungen sowie den tatbestandsmässigen Erfordernissen der dauernden
Pflege und der persönlichen Überwachung (Art. 37 IVV) und der lebenspraktischen
Begleitung (Art. 38 IVV) gemäss sein. Schliesslich hat er in Übereinstimmung
mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben zu stehen. Das Gericht greift,
sofern der Bericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage im eben
umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen der die Abklärung tätigenden
Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen vorliegen. Das
gebietet insbesondere der Umstand, dass die fachlich kompetente
Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das im Beschwerdefall
zuständige Gericht (BGE 133 V 450 E. 11.1.1 S. 468; 130 V 61 E. 6.2 S. 63; 128
V 93; SVR 2012 IV Nr. 54 S. 195; 8C_756/2011 E. 3.2).
Nach Rz. 8142 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über Invalidität und
Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH; in der ab 1. Januar 2013
geltenden Fassung) nimmt der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) bei psychisch
behinderten Menschen, die lebenspraktische Begleitung benötigen, insbesondere
Stellung zu den Angaben im Abklärungsbericht (vgl. auch BGE 133 V 450 E. 11.1.2
S. 469; Urteil 9C_497/2014 vom 2. April 2015 E. 4.1.2).

5.2. 

5.2.1. Die Beschwerdeführerin machte bereits anlässlich der vor Ort - in
Anwesenheit ihres Rechtsvertreters und der sie betreuenden psychiatrischen
Pflegefachfrau - am 18. September 2013 durchgeführten neuen Haushaltsabklärung
betreffend Hilflosenentschädigung geltend, sie sei in den alltäglichen
Lebensverrichtungen "Ankleiden" und "Verrichtung der Notdurft" infolge ihrer
massiven Lipo-/Lymphödeme an beiden Beinen beim Heraufziehen der
Kompressionsstrumpfhosen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe ihres
Untermieters angewiesen. Das kantonale Gericht verneinte dies unter Verweis auf
Internetseiten, über welche auch Kompressionsstrumpfhosen mit Anziehhilfen
käuflich erwerbbar seien. Die Benutzung solcher Vorrichtungen sei im Rahmen der
Schadenminderungspflicht zumutbar und eine Hilfsbedürftigkeit in den geltend
gemachten Lebensverrichtungsbereichen daher vermeidbar. Dieselbe Auffassung
vertrat zuvor bereits die Abklärungsperson der IV-Stelle in ihrem Bericht zur
Abklärung vom 18. September 2013. Die Beschwerdegegnerin verneinte gestützt
darauf - ohne hiezu zumindest eine RAD-ärztliche Stellungnahme einzuholen -
einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung.

5.2.2. In den Akten findet sich keine überzeugend begründete, auf einer
medizinisch-fachärztlichen Beurteilung  der konkreten Verhältnisse des
Einzelfalles beruhende Einschätzung dafür, dass für die Versicherte - trotz
ihrer aktenkundig massiv lipo-ödematöser Schwellungen an beiden Beinen - der
selbstständige Gebrauch der über die Internetseiten käuflich erwerbbaren
Anziehhilfen für Kompressionsstrumpfhosen tatsächlich geeignet ist, um dadurch
die Beanspruchung von Dritthilfe beim Anziehen dieser Hosen bzw. nach
Verrichtung der Notdurft vermeiden zu können. Allein der Verweis auf die
Internetseiten erübrigt nicht die medizinische Tatsachenfeststellung dafür,
dass eine dieser konkret erwerbbaren Anziehhilfen für Kompressionsstrumpfhosen
mit Blick auf die massiven Schwellungsverhältnisse der Beschwerdeführerin einen
tatsächlichen Nutzen zu erbringen vermag. Eine medizinische Überprüfung dieser
Argumentation der IV-Stelle durch Einholung einer fachärztlichen Stellungnahme
beispielsweise des RAD wäre insbesondere auch deshalb angezeigt gewesen, weil
die Lymphproblematik offenbar phasenweise in unterschiedlich schwerer Form in
Erscheinung tritt, mitunter stationärer Behandlung bedarf und mit einem stark
variierenden Körpergewicht in Verbindung steht. Die internistische Gutachterin
der medizinischen Gutachterstelle B.________, Dr. med. C.________ verzichtete
jedenfalls darauf, dass die Versicherte während der Exploration die
Kompressionsstrumpfhosen ausziehen musste, weil sie offensichtlich auf die
Begründung der Beschwerdeführerin abstellte, wonach es ihr unmöglich sei, diese
Kompressionsstrumpfhosen nach dem Ausziehen selber wieder anzuziehen.

5.3. 

5.3.1. Im Übrigen ist auf das Ergebnis der Hilfsbedürftigkeitsabklärung im
Haushalt der Versicherten vom 18. September 2013 zu verweisen, wonach gemäss
Einschätzung der Abklärungsperson der Bedarf an lebenspraktischer Begleitung
während mehr als zwei Stunden pro Woche klar ausgewiesen ist. Verwaltung und
Vorinstanz bestritten dies zwar nicht, vertraten jedoch - trotz offensichtlich
vorhandener, nicht psychischer Gesundheitsschäden im Sinne der vorstehenden E.
5.2 - die Auffassung, bei der Beschwerdeführerin sei "lediglich die psychische
Gesundheit beeinträchtigt". Deshalb erfordere die Annahme einer Hilflosigkeit
hinsichtlich lebenspraktischer Begleitung gleichzeitig einen Anspruch auf
mindestens eine Viertelsrente (Art. 38 Abs. 2 IVV). Da die Versicherte nach
letztinstanzlich bestätigter Verneinung eines Rentenanspruchs (Urteil 8C_548/
2013 vom 2. Oktober 2013 E. 5.5) diese Voraussetzung des Anspruchs auf
lebenspraktische Begleitung gemäss Art. 38 Abs. 2 IVV nicht erfülle, könne der
ausgewiesene Bedarf an lebenspraktischer Begleitung nicht von der
Invalidenversicherung entschädigt werden.

5.3.2. Diesbezüglich strittig ist die Genese der im Rahmen des Bedarfs an
lebenspraktischer Begleitung von der Beschwerdeführerin geltend gemachten
gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Hier fällt gemäss Bericht zur
Haushaltsabklärung vom 18. September 2013 vor allem die von der Versicherten
geklagte erhöhte Lärm- und Lichtempfindlichkeit in Betracht. Zu diesen
Beeinträchtigungen, welchen das Gutachten der medizinischen Gutachterstelle
B.________ ohne eingehende Erörterung keine die 70%-ige Restleistungsfähigkeit
weiter einschränkende Bedeutung (vgl. E. 3 hievor) beimass, stellte das
kantonale Gericht unter Verweis auf das Gutachten der medizinischen
Gutachterstelle B.________ (S. 37) in tatsächlicher Hinsicht fest, dass sich
diese Befunde hirnorganisch nicht erklären liessen, sondern "im Rahmen der
Persönlichkeitsstörung und der depressiven Störung zu sehen" seien. Weder am
angeführten Ort noch dem gesamten Gutachten der medizinischen Gutachterstelle
B.________ lassen sich jedoch explizit Anhaltspunkte für diese medizinische
Tatsachenfeststellung entnehmen.

5.3.3. Soweit die Vorinstanz ausführte, bei den geklagten
Empfindlichkeitsstörungen handle es sich "um psychiatrische Diagnosen", lässt
sich diese Sachverhaltsfeststellung bei gegebener Aktenlage nicht
nachvollziehbar begründen. Statt dessen findet sich bei den Akten unter anderem
der Bericht vom 16. August 2013 des PD Dr. med. D.________, Facharzt für
Oto-Rhino-Laryngologie an der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und
Gesichtschirurgie am Universitätsspital I.________, wonach laut
"Geräuschempfindlichkeitsfragebogen nach Nelting" bei der Beschwerdeführerin
von einer schweren Beeinträchtigung durch die Hyperakusis auszugehen sei.
Anstelle dieser neuen somatischen Befunderhebung des Dr. med. D.________ war
offenbar der psychiatrische Gutachter der medizinischen Gutachterstelle
B.________, Dr. med. E.________ - allerdings ohne explizite Zuordnung der Lärm-
und Lichtempfindlichkeit zu einer bestimmten psychiatrischen Diagnose - zur
Auffassung gelangt, differentialdiagnostisch handle es sich um dissoziative
Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung.

5.3.4. Wie es sich damit verhält, kann hier angesichts der unklaren
medizinischen Aktenlage nicht abschliessend beurteilt werden. Festzuhalten ist,
dass Dr. med. D.________ nach Aktenlage - basierend auf unzutreffenden
anamnestische Angaben der Versicherten - fälschlicherweise davon ausging, dass
Letztere am 30. August 2003 ein "schweres Schädelhirntrauma" erlitten habe,
wofür sich jedoch weder im Bericht des Dr. med. F.________, Baden, vom 18.
November 2003 noch in den übrigen medizinischen Unterlagen konkrete
Anhaltspunkte finden. Dennoch bestand nach Massgabe des
Untersuchungsgrundsatzes (vgl. E. 1.2 hievor) unter den gegebenen Umständen -
im Gegensatz zu der vom kantonalen Gericht vertretenen Auffassung - nicht nur
hinreichende Veranlassung dazu, insbesondere mit Blick auf Rz. 8142 KSIH (vgl.
E. 5.1 hievor) zu den medizinisch umstrittenen Fragen (E. 5.2.2 und 5.3.2 f.)
zumindest eine RAD-ärztliche Stellungnahme oder eine fachärztliche Beurteilung
einzuholen. Verwaltung und Vorinstanz waren angesichts der neuen Berichte der
behandelnden Ärztin med. prakt. G.________ vom 4. September und 27. November
2013, des Neurologen Dr. med. H.________ vom 19. November 2013 und des Dr. med.
D.________ vom 16. August 2013, welche allesamt aus dem Zeitraum vor Erlass der
Verfügung der IV-Stelle vom 3. Dezember 2013 datieren, im Rahmen des
Untersuchungsgrundsatzes vielmehr dazu verpflichtet (vgl. auch E. 5.1 hievor),
diesbezüglich mit Blick auf die geltend gemachte Hilfsbedürftigkeit in
alltäglichen Lebensverrichtungsbereichen (E. 5.2) sowie in Bezug auf
lebenspraktische Begleitung (E. 5.3) weitere fachmedizinische Abklärungen zur
Klärung der psychischen oder somatischen Genese der erhöhten Lärm- und
Lichtempfindlichkeit sowie zur tatsächlichen Gebrauchstauglichkeit der
Anziehhilfen unter Berücksichtigung der besonderen lipo-ödematösen
Schwellungsverhältnisse an den Beinen der Versicherten zu veranlassen. Indem
die Vorinstanz darauf verzichtete, hat sie Bundesrecht verletzt.

5.4. Angesichts des der Abklärungsperson und dem RAD zustehenden Ermessens (E.
5.1) rechtfertigt sich eine Rückweisung an die Verwaltung (vgl. MEYER/DORMANN,
in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 17 zu Art. 107
BGG; Urteil 9C_497/2014 vom 2. April 2015 E. 4.4). Die IV-Stelle wird,
insbesondere unter Beachtung von Rz. 8142 KSIH, weitere Abklärungen zu den
offenen Fragen (E. 5.3 hievor) zu treffen und über den Anspruch auf
Hilflosenentschädigung und lebenspraktische Begleitung erneut zu entscheiden
haben.

6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 23. September 2014 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 3. Dezember 2013 werden
aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons
Aargau zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Mai 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Hochuli

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