Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.822/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_822/2014        
{T 0/2}

Urteil vom 23. März 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Karin Herzog,
Beschwerdeführer,

gegen

Familienausgleichskasse des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, Postfach, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Familienzulage (Rückerstattung, Erlass),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 6. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1967, bezog für seine beiden minderjährigen Kinder seit
2009 Familienzulagen als Nichterwerbstätiger von je Fr. 200.- pro Monat, wobei
die Leistungen der Jahre 2009 und 2010 direkt dem Sozialamt seiner Wohngemeinde
ausgerichtet wurden. Die Familienausgleichskasse bestätigte ihm verfügungsweise
am 21. Januar 2011 und am 19. Januar 2012 für diese beiden Jahre die
Leistungszusprechung. Mit Verfügung vom 17. Dezember 2010 erhielt A.________
rückwirkend ab 1. Dezember 2007 Ergänzungsleistungen zur AHV/IV zugesprochen.
Nachdem die Familienausgleichskasse diesen Umstand am 3. Dezember 2012
festgestellt hatte, forderte sie mit Verfügung vom 13. Dezember 2012 in der
Zeit vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2012 zu viel ausbezahlte
Familienzulagen in der Höhe von Fr. 9'600.- von A.________ zurück, da er
hierauf als Bezüger von Ergänzungsleistungen keinen Anspruch habe. Mit Eingabe
vom 8. Januar 2013 erhob A.________ unter anderem "Einsprache gegen
SVA-Verfügung vom 13. Dezember 2012". Mit Schreiben vom 11. Januar 2013 dankte
ihm die Ausgleichskasse für sein "Erlassgesuch vom 9. Januar 2013", welches
sie, sobald die Rückforderungsverfügung rechtskräftig sei, behandeln werde. Mit
Verfügung vom 21. Januar 2013 wies sie die als Erlassgesuch behandelte Eingabe
vom 8. Januar 2013 ab.
Gegen die Verfügung vom 21. Januar 2013 erhob der Versicherte am 15. Februar
2013 Einsprache, womit er unter Berufung der Forderungsverwirkung "den Rückzug
der Forderung im Betrag von Fr. 9'500.- bzw. einen Vollerlass" beantragte. Der
nunmehr anwaltlich vertretene A.________ liess am 23. Juli 2013 präzisierend
ausführen, die Eingabe vom 8. Januar 2013 sei nicht einzig als Erlassgesuch,
sondern auch als Einsprache gegen die Rückforderungsverfügung zu verstehen,
weshalb sich die Familienausgleichskasse nun mit der Verwirkungsfrage
auseinanderzusetzen und über die Einsprache zu entscheiden habe. Die
Familienausgleichskasse behandelte, dem Einwand entsprechend, in ihrem
Einspracheentscheid vom 28. Oktober 2013 die Eingabe vom 8. Januar 2013 als
Einsprache, wies diese jedoch ab.

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die dagegen geführte
Beschwerde mit Entscheid vom 6. Oktober 2014 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und das
kantonale Gericht anzuweisen, die Rückforderung materiell zu prüfen. Die
Rückforderungsverfügung sei infolge ihrer Verwirkung aufzuheben. Ferner wird um
unentgeltliche Prozessführung ersucht.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen schliesst auf Abweisung der
Beschwerde. Die Familienausgleichskasse des Kantons St. Gallen und das
Bundesamt für Sozialversicherungen haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von
der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132
II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das
Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der
Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten
Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist
jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich
stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht
nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Unrechtmässig bezogene Familienzulagen sind zurückzuerstatten (Art. 1 FamZG in
Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 ATSG). Der Rückforderungsanspruch erlischt mit
dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis
erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der
Entrichtung der einzelnen Leistung (Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG).
Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten,
wenn eine grosse Härte vorliegt (Art. 25 Abs. 1 zweiter Satz ATSG). Nähere
Regelungen zu diesem Erlass der Rückerstattung enthält Art. 4 ATSV.

3. 
Streitig und zu beurteilen ist, ob eine rechtskräftige Rückforderungsverfügung
vorliegt und allenfalls ein Erlass der Rückforderung zu prüfen ist oder ob die
Vorinstanz zu Unrecht die Eingabe vom 8. Januar 2013 des Beschwerdeführers
nicht als Einsprache (Art. 52 Abs. 1 ATSG), sondern bloss als Erlassgesuch
wertete und dementsprechend das Schreiben vom 15. Februar 2013 als verspätete
Einsprache gegen die Rückforderung qualifizierte.

3.1. Die Vorinstanz führte hierzu aus, obwohl die Eingabe vom 8. Januar 2013
als "Einsprache" betitelt sei, habe sich der Beschwerdeführer inhaltlich nicht
gegen die Rückforderung gewendet. Es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, dass er
die Rechtmässigkeit der Rückforderung bezweifelt hätte; so habe er auch deren
"Vollerlass" und nicht deren Aufhebung beantragt. Ein starkes Indiz für die
ausschliessliche Qualifikation der Eingabe als Erlassgesuch sei auch der
Umstand, dass er auf die Mitteilung der Beschwerdegegnerin vom 11. Januar 2013,
sie werde sein Erlassgesuch bearbeiten, sobald die Rückforderungsverfügung in
formelle Rechtskraft erwachsen sei, nicht reagiert habe. Die Beschwerdegegnerin
habe sich in ihrem Einspracheentscheid vom 28. Oktober 2013 fälschlicherweise
mit der Rechtmässigkeit der Rückforderung auseinandergesetzt. Die Frage, ob die
Rückforderung verwirkt sei, könne nicht mehr beantwortet werden.

3.2. Dementgegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, er habe
gegen die Rückforderungsverfügung vom 13. Dezember 2012 fristgerecht am 8.
Januar 2013 Einsprache erhoben und gleichzeitig ein Erlassgesuch gestellt.
Indem die Vorinstanz die Eingabe vom 8. Januar 2013 nicht als Einsprache
betrachtet und vielmehr das Schreiben vom 15. Februar 2013 als verspätete
Einsprache beurteilt habe, sei durch die Nichtbehandlung der korrekten Eingabe
das Verbot der Rechtsverweigerung und folglich der Grundsatz des fairen
Verfahrens nach Art 29 Abs. 1 BV sowie das rechtliche Gehör nach Art. 29 Abs. 2
BV bzw. Art. 42 ATSG verletzt worden. Eine rechtskräftige
Rückforderungsverfügung liege nicht vor.

4.

4.1. Die Annahme einer Einsprache setzt u.a. voraus, dass der Wille zum
Ausdruck gebracht wird, die erlassene Verfügung nicht zu akzeptieren (vgl.
Urteil I 664/03 vom 19. November 2004 E. 2.3 mit Hinweis auf BGE 119 V 347 E.
1b S. 350; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 23 zu Art. 52).

4.2. Ein solcher Anfechtungswille geht aus der Eingabe vom 8. Januar 2013,
entgegen der vorinstanzlichen Auslegung, rechtsgenüglich hervor. Die darin
enthaltenen Äusserungen zeigen auf, dass der Beschwerdeführer auch die
Rechtmässigkeit der Rückforderungsverfügung vom 30. April 2010 infrage stellen
wollte, es ihm also nicht einzig darum ging, aufgrund seiner beengten
finanziellen Verhältnisse erlassweise von der Bezahlung der Rückforderung
entbunden zu werden, zumal über die Rückforderung und den - gegebenenfalls
spätestens 30 Tage nach Eintritt der Rechtskraft der Rückforderungsverfügung zu
beantragenden - Erlass in der Regel in zwei Schritten verfügt wird (Art. 3 und
4 ATSV; Urteil P 62/04 vom 6. Juni 2005, E. 1.2). Indem der Versicherte
ausführte, die Höhe der Ergänzungsleistungen sei jedes Jahr neu festgesetzt
worden, wozu er alle notwendigen Dokumente dem zuständigen Sozialberater
eingereicht und dessen Auskünften vertraut habe, wobei er davon ausgegangen
sei, dass die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen auch Kenntnis
von der erhaltenen Kapitalauszahlung der PKRück erlangt habe, focht er auch die
Rechtmässigkeit der Verfügung an. Dies bekräftigte er mit der Bitte, "sämtliche
eingereichten Unterlagen meinerseits sowie die jährlichen Berechnungen
Ihrerseits nochmals zu prüfen, um anzuerkennen, dass ich stete alle geforderten
Unterlagen erbracht hatte". Damit stellte er auch die Berechtigung der
Rückforderung infrage. Hätte die Verwaltung Zweifel am Einsprachewillen des
Beschwerdeführers gehabt, wäre sie sodann unter dem Aspekt des rechtlichen
Gehörs und der in Art. 27 ATSG verankerten Beratungs- und Hinweispflicht
gehalten gewesen, Gelegenheit zur Präzisierung seiner Anliegen zu geben, zumal
bei einem während laufender Einsprachfrist gegen die Rückforderungsverfügung
und mit "Einsprache" überschriebenem Schreiben eines dannzumal noch nicht
anwaltlich vertretenen Versicherten nicht leichthin von einem bewussten
Einspracheverzicht gegen die Rückforderung und einem vorzeitigen Erlassgesuch
ausgegangen werden kann. Die gegenteilige Ansicht des kantonalen Gerichts ist
überspitzt formalistisch (vgl. BGE 135 I 6 E. 2.1 S. 9). Wenn die Vorinstanz
die Eingabe vom 8. Januar 2013 nicht auch als Einsprache, sondern einzig als
Erlassgesuch qualifiziert hat, ist dies nach dem Gesagten bundesrechtswidrig.
Somit ist die Rückforderungsverfügung noch nicht rechtskräftig. Das kantonale
Gericht wird sich mit der Frage der Rückforderung materiell zu befassen und die
Rechtmässigkeit des Einspracheentscheids vom 28. Oktober 2013 auf der Grundlage
der am 8. Januar 2013 erfolgten Einsprache gegen die Rückforderungsverfügung
vom 13. Dezember 2012 nochmals zu beurteilen haben. Die Gesichtspunkte, welche
nur die Erlassvoraussetzungen betreffen, sind damit m Rahmen dieses Verfahrens
nicht relevant. Die Beschwerde ist begründet.

5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Als unterliegende Partei hätte grundsätzlich
die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; BGE
133 V 642) und dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Unnötige Kosten hat
indessen zu bezahlen, wer sie verursacht (Art. 66 Abs. 3 und Art. 68 Abs. 4
BGG). Dies gestattet auch, ausnahmsweise die Gerichts- und Parteikosten der
Vorinstanz resp. dem Gemeinwesen, dem diese angehört, aufzuerlegen. Da die
Beschwerdegegnerin prozessual richtig vorgegangen ist, die Rückweisung der
Sache vielmehr Folge der überspitzt formalistischen Sichtweise der Vorinstanz
ist, rechtfertigt es sich, letzterer diese Kosten als Kostenverursacherin resp.
dem Kanton St. Gallen aufzuerlegen (vgl. Anwaltsrevue 2009 8 S. 393, 9C_251/
2009 E. 2.1; Urteil 9C_251/2009 vom 15. Mai 2009 E. 2.1; SVR 2010 AlV Nr. 6 S.
15, 8C_830/2009). Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche
Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 6. Oktober 2014 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Kanton St. Gallen auferlegt.

3. 
Der Kanton St. Gallen hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. März 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Ursprung

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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