Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.789/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_789/2014

Urteil vom 7. September 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000
Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 23. September 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1980 geborene A.________ bezog mit Unterbrüchen seit 7. Mai 2012 Leistungen
der Arbeitslosenversicherung. Mit in der Folge rechtskräftig gewordener
Verfügung vom 9. Oktober 2013 stellte sie das Regionale
Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) wegen ungenügender Arbeitsbemühungen ab 30.
August 2013 für die Dauer von drei Tagen in der Anspruchsberechtigung ein. Am
20. November 2013 zog daraufhin die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons
Aargau die für die Monate August und September 2013 gewährten Taggeldleistungen
verfügungsweise in Wiedererwägung und forderte zu viel ausgerichtete
Arbeitslosenentschädigung in der Höhe von Fr. 441.70 zurück. Daran hielt sie
auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 28. November 2013).

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen geführte
Beschwerde gut, da die für eine Wiedererwägung vorausgesetzte erhebliche
Bedeutung der Berichtigung fehle.

C. 
Die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids.
A.________ und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) haben auf eine
Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesgericht gewährte den Parteien überdies das
rechtliche Gehör zur Frage, ob der Rückkommenstitel der prozessualen Revision
gegeben ist. Davon hat einzig die Arbeitslosenkasse mit Eingabe vom 13. Juli
2015 Gebrauch gemacht.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Versicherte aufgrund nachträglich verfügter
Einstelltage zu viel bezogene Arbeitslosenentschädigung in der Höhe von Fr.
441.70 zurückzuerstatten hat.

2.1. Nach Art. 95 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 ATSG sind
unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Zu Unrecht bezogene
Geldleistungen, die auf einer formell rechtskräftigen Verfügung beruhen,
können, unabhängig davon, ob die zur Rückforderung Anlass gebenden Leistungen
förmlich oder formlos verfügt worden sind, nur zurückgefordert werden, wenn
entweder die für die Wiedererwägung (wegen zweifelloser Unrichtigkeit und
erheblicher Bedeutung der Berichtigung) oder die für die prozessuale Revision
(wegen vorbestandener neuer Tatsachen oder Beweismittel) bestehenden
Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 130 V 318 E. 5.2 in fine S. 320; 129 V 110 E.
1.1).

2.2. Rechtsprechungsgemäss kann die Verwaltung während eines Zeitraumes,
welcher der Rechtsmittelfrist bei formellen Verfügungen entspricht,
voraussetzungslos, d.h. ohne Rechtstitel, auf ihren Entscheid zurückkommen (BGE
129 V 110 E. 1.2 S. 111). Beanstandet die rechtsuchende Person selbst eine
faktische Verfügung, braucht sie dies nicht innert der für formelle Verfügungen
geltenden Rechtsmittelfrist zu tun, sondern kann binnen einer nach den
Umständen angemessenen Prüfungs- und Überlegungsfrist eine anfechtbare
Verfügung verlangen. In SVR 2004 ALV Nr. 1 S. 1, C 7/02, wurde diese Frist auf
90 Tage (maximal dreimal so lang wie die ordentliche Rechtsmittelfrist),
gerechnet ab Eröffnung des formlosen Verwaltungsaktes, festgesetzt.

2.3. Wie zu Recht von keiner Seite bestritten wird, können Leistungen bei
nachträglichen Einstellungen in der Anspruchsberechtigung während der laufenden
sechsmonatigen Vollstreckungsfrist zurückgefordert werden, wenn die
Voraussetzungen der Rückforderung erfüllt sind (BGE 114 V 350 E. 2b S. 352 f.;
ARV 1999 Nr. 8 S. 30 E. 5, C 290/97; SVR 1997 ALV Nr. 80 S. 243 E. b, C 294/95;
Urteile C 351/95 vom 28. August 1997 E. 2; 8C_1021/2012 vom 10. Mai 2013 E.
4.3; Boris Rubin, Commentaire de la loi sur l'assurance-chômage, 2014, N. 128
zu Art. 30; Thomas Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl. 2007, Rz. 864 und
Fn. 1806; E. 2.1 u. 2.2 hiervor).

3.

3.1.1. Die Vorinstanz hat sich mit Blick auf die Rückforderung weder mit der
Frage der Rechtsbeständigkeit der formlos ausgerichteten Taggelder noch mit dem
Rückkommenstitel der prozessualen Revision auseinandergesetzt und hierzu keine
das Bundesgericht bindenden Feststellungen getroffen; dieses ist daher insoweit
in der Sachverhaltsfeststellung frei (E. 1).

3.1.2. Den Akten kann nicht entnommen werden, wann die Taggelder für den Monat
August und September 2013 ausgerichtet worden sind, auf welche die
Arbeitslosenkasse aufgrund der Einstellung in der Anspruchsberechtigung durch
das RAV zurückzukommen hatte. Unter der Annahme, dass die Arbeitslosenkasse die
Entschädigung für die abgelaufene Kontrollperiode im Lauf des folgenden Monats
ausrichtete (Art. 30 Abs. 1 AVIV), ist davon auszugehen, dass sie die 30-tägige
Frist, um voraussetzungslos auf die ausbezahlte Arbeitslosenentschädigung
zurückkommen zu können, verpasste.

3.2.

3.2.1. Die Einstellungsverfügung des RAV vom 9. Oktober 2013 ist für die
Arbeitslosenkasse bindend; sie hat sie zu vollziehen und diesbezüglich liegt
mit dem Entscheid ein Rechtstitel für die Rückforderung der im Nachhinein
materiell unrechtmässig gewordenen Taggeldleistungen vor. Eine Rückforderung
ist jedoch erst zulässig, wenn die Voraussetzungen der Wiedererwägung oder der
prozessualen Revision erfüllt sind (BGE 126 V 399 E. 2b S. 400).

3.2.2. Der Rückkommenstitel der Wiedererwägung fällt ausser Betracht, da die
Auszahlung der Arbeitslosenentschädigung zum damaligen Zeitpunkt vollständig
korrekt und daher nicht zweifellos unrichtig im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG
war. Damit fehlt es bereits an der ersten für die Wiedererwägung erforderlichen
Voraussetzung, weshalb der vorinstanzliche Entscheid insofern
bundesrechtswidrig ist, als die zweifellose Unrichtigkeit bejaht wurde. Es
erübrigen sich dementsprechend Ausführungen zur erheblichen Bedeutung der
Berichtigung (als zweiter Wiedererwägungsvoraussetzung).

3.2.3. Hinsichtlich der formlosen Zusprache und Ausrichtung von
Arbeitslosenentschädigung ist vielmehr insofern eine die prozessuale Revision
begründende, für die Anspruchsberechtigung erhebliche Tatsache eingetreten, als
die Arbeitslosenkasse nachträglich erfuhr, dass sich die Versicherte im
Hinblick auf eine drohende Arbeitslosigkeit in der Zeit vom 1. bis 29. August
2013 nicht hinreichend um Arbeit bemühte und vom RAV in der
Anspruchsberechtigung eingestellt wurde. Im Zeitpunkt der Auszahlung der
Taggelder der Kontrollperioden August und September 2013 hatte die
Arbeitslosenkasse noch keine Kenntnis der ungenügenden Arbeitsbemühungen mit
Sanktionsfolge, welchen Umstand sie nicht zu vertreten hat, nachdem das RAV die
Versicherte erst mit Verfügung vom 9. Oktober 2013 in der Anspruchsberechtigung
einstellte. Weiter hat die Arbeitslosenkasse mit der Rückforderung auch die für
die prozessuale Revision von Verfügungen geltenden Fristen (Art. 55 Abs. 1 ATSG
in Verbindung mit Art. 67 VwVG; SVR 2005 ALV Nr. 8 S. 25 E. 3.1.2, C 214/03)
erfüllt. Ein Zurückkommen auf die ausgerichteten Leistungen in der Höhe von Fr.
441.70 war demnach zulässig, wenn auch auf dem Wege der prozessualen Revision
und nicht mit dem Rückkommenstitel der Wiedererwägung. Es steht der
Versicherten frei, gegebenenfalls ein Erlassgesuch zu stellen.

4. 
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird ausnahmsweise verzichtet (Art. 66 Abs.
1 Satz 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 23. September 2014 wird aufgehoben und der
Einspracheentscheid der Öffentlichen Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau vom
28. November 2013 bestätigt.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. September 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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