Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.748/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_748/2014 {T 0/2}     

Urteil vom 9. Januar 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard,
Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Procap für Menschen mit Handicap,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Neuanmeldung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 25. August 2014.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1963 geborene A.________ meldete sich am 6. April 2009 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in medizinischer
und erwerblicher Hinsicht und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte
die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 18. Oktober 2010 einen Anspruch auf
Invalidenrente mit der Begründung, der Versicherten sei bei einer
Leistungseinschränkung von 10 bis 15 Prozent ein volles Arbeitspensum zumutbar.
Die Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

A.b. Am 19. Oktober 2010 erhielt die IV-Stelle den Bericht von Frau Dr. med.
B.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 15. Oktober
2010, in dem diese das von der Verwaltung eingeholte Gutachten des Dr. med.
C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 24. August 2010
kritisierte und eine Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent attestierte. Mit Schreiben
vom 22. Oktober 2010 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, dass sie den
Bericht der behandelnden Ärztin dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) vorlegen
und bis 30. Oktober 2010 darüber informieren werde, ob an der Verfügung
festgehalten oder darauf zurückgekommen werde. Nach weiteren Ermittlungen
(Stellungnahmen des RAD vom 13. Januar und 14. November 2011 sowie 27. Februar
2012 und des Dr. med. C.________ vom 18. Januar 2011, Abklärungsbericht
Haushalt vom 25. Januar 2012 und 13. September 2013, Gutachten des Dr. med.
D.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 5. Januar 2013)
und erneuter Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit
Verfügung vom 29. November 2013 wiederum einen Anspruch auf Invalidenrente mit
der Begründung, der Gesamtinvaliditätsgrad betrage lediglich 31 Prozent (80
Prozent Erwerbstätigkeit mit einer gewichteten Invalidität von 30 Prozent und
20 Prozent Haushaltsanteil mit einer gewichteten Invalidität von 0.8 Prozent).

B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die gegen die Verfügung vom 29.
November 2013 erhobene Beschwerde gut, hob diese auf und sprach A.________ mit
Wirkung ab 1. Oktober 2009 eine halbe Invalidenrente zu (Entscheid vom 25.
August 2014).

C. 
Die IV-Stelle Bern beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben mit der
Feststellung, dass die Versicherte erst ab 1. Oktober 2012 Anspruch auf eine
halbe Rente der Invalidenversicherung habe. Ferner ersucht sie um aufschiebende
Wirkung der Beschwerde.
A.________ lässt auf Aufhebung der Beschwerde schliessen. Das kantonale Gericht
und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme.

D. 
Mit Verfügung vom 9. Dezember 2014 hat der Instruktionsrichter der Beschwerde
die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG geltend
gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Trotzdem prüft es - vorbehältlich offensichtlicher Fehler - nur
die in seinem Verfahren geltend gemachten Rechtswidrigkeiten (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97    Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art.
105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Unbestritten ist, dass die Versicherte gemäss vorinstanzlichem Entscheid
Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung hat. Streitig ist
einzig der Zeitpunkt, ab welchem die Rente geschuldet ist.

2.2. Die Vorinstanz geht davon aus, die IV-Stelle sei gestützt auf den Bericht
von Dr. med. B.________ vom 15. Oktober 2010 und die Stellungnahme des
RAD-Arztes vom 13. Januar 2011, welche beide das Gutachten von Dr. med.
C.________ vom 24. August 2010 als nicht nachvollziehbar qualifizierten, von
einem im Zeitpunkt der ursprünglichen Verfügung vom 18. Oktober 2010
unvollständig erstellten medizinischen Sachverhalt ausgegangen und habe diesen
insbesondere durch die Einholung der Stellungnahme von Dr. med. C.________ vom
18. Januar 2011 und das Gutachten von Dr. med. D.________ vom 5. Januar 2013
von Amtes wegen weiter abgeklärt. Daraus schliesst die Vorinstanz, dass die
Verfügung vom 29. No-vember 2013 nicht aufgrund einer Neuanmeldung erfolgt ist.
Vielmehr sei diese als Wiedererwägungsverfügung zu qualifizieren, mit der die
ursprüngliche, unangefochten in Rechtskraft erwachsene Verfügung vom 18.
Oktober 2010 wegen zweifelloser Unrichtigkeit aufgehoben worden sei. Das
kantonale Gericht prüfte daher, ob der Versicherten frühestens nach Ablauf von
sechs Monaten seit der Geltendmachung des Anspruchs (6. April 2009), mithin ab
1. Oktober 2009, ein Renten-anspruch zusteht. Es bejahte dies unter Annahme
einer Arbeitsun-fähigkeit von 50 Prozent und (im Gegensatz zur von der
Anwendung der gemischten Bemessungsmethode [80 Prozent Erwerbstätigkeit; 20
Prozent Haushalt] ausgehenden IV-Stelle) einer Erwerbstätigkeit im
Gesundheitsfall von 100 Prozent.

2.3. Die IV-Stelle rügt eine Verletzung von Bundesrecht (Art. 53 Abs. 2 ATSG),
wonach die Vornahme einer Wiedererwägung in das Ermessen der Verwaltung fällt
und diese nicht gerichtlich zu einer Wiedererwägung verpflichtet werden kann.
Zur Begründung führt die Beschwerdeführerin aus, sie habe zu keiner Zeit die
Voraussetzungen einer Wiedererwägung ihrer Verfügung vom 18. Oktober 2010
geprüft. Vielmehr sei sie von einer Neuanmeldung ausgegangen und habe gestützt
auf das psychiatrische Gutachten von Dr. med. D.________ vom 5. Januar 2013 ab
dem 18. Juni 2012 (Untersuchungszeitpunkt) eine Verschlechterung des
gesundheitlichen Zustandes im Vergleich zu jenem im Zeitpunkt der Verfügung vom
18. Oktober 2010 (psychiatrische Begutachtung vom 24. August 2010) angenommen.
Aus diesem Grund habe sie am 29. November 2013 erneut über den
Leistungsanspruch der Versicherten verfügt. Unter Berücksichtigung von Art. 88a
Abs. 2 IVV habe die Versicherte somit erst ab 1. Oktober 2012 Anspruch auf eine
halbe Invalidenrente.

3.

3.1. Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen die formellen
Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens, insbesondere auch die Frage, ob die
Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde eingetreten ist. Hat die Vorinstanz
übersehen, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte und hat sie materiell
entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu
berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufgehoben wird
(BGE 136 V 7 E. 2 S. 9; 135 V 124 E. 3.1 S. 127).

3.2. Anfechtungsgegenstand im vorinstanzlichen Verfahren bildete die Verfügung
vom 29. November 2013, deren Aufhebung die Versicherte in ihrer Beschwerde
beantragte. In dieser Verfügung nimmt die IV-Stelle auf ein "Gesuch vom 17. Mai
2011" Bezug. Es ist daher davon auszugehen, dass sie das Telefongespräch mit
der behandelnden Psychiaterin selben Datums, mit welchem sich diese laut
Aktennotiz der IV-Stelle nach dem Stand des Verfahrens erkundigte, als
Neuanmeldung (vgl. Art. 87 Abs. 3 IVV) entgegengenommen und den Sachverhalt
entsprechend neu abgeklärt hat. Bei dieser Konstellation hat es im
vorinstanzlichen Verfahren zumindest für den Zeitraum bis Ende Oktober 2011
(vgl. Art. 29 Abs. 1 ATSG) bereits an einem Anfechtungsgegenstand gefehlt,
weshalb die Vorinstanz diesbezüglich grundsätzlich zu Unrecht auf die
Beschwerde eingetreten ist (BGE 131 V 164 E. 2.1 S. 164 f.; 125 V 413 E. 1 S.
414 f.).

3.3. Sodann sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die IV-Stelle -
sei es im Rahmen einer Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) oder einer Wiedererwägung
(Art. 53 Abs. 2 ATSG) - auf die Verfügung vom 18. Oktober 2010 zurückkommen
wollte. Solche ergeben sich insbesondere nicht aus dem Schreiben der IV-Stelle
vom 22. Oktober 2010, wonach der am 19. Oktober 2010 eingegangene Bericht von
Frau Dr. med. B.________ dem RAD-Arzt vorgelegt werde mit der Frage, inwieweit
dieser an der Einschätzung des medizinischen Gutachtens etwas ändere und die
Versicherte bis 30. Oktober 2010 darüber informiert werde, ob am getroffenen
Entscheid (gemäss Verfügung vom 18. Oktober 2010) festzuhalten oder auf diesen
zurückzukommen sei. Es ist weder ein Hinweis auf eine Revision oder
Wiedererwägung noch auf eine Aufhebung der Verfügung vom 18. Oktober 2010
aktenkundig. Auch aus dem Vertrauensgrundsatz (vgl. Art. 9 BV; BGE 131 II 627
E. 6.1 S. 636; 131 V 472 E. 5 S. 480 f.) ergibt sich nichts anderes. Es liegt
namentlich keine verbindliche Zusage vor, eine Neubeurteilung des sich bis 18.
Oktober 2010 erstreckenden Sachverhalts und der entsprechenden Rentenansprüche
vornehmen zu wollen. Somit kann der vorinstanzliche Einbezug des Zeitraumes bis
zur Neuanmeldung auch nicht als zulässige Ausdehnung des Streitgegenstandes
betrachtet werden (vgl. BGE 130 V 501 E. 1.2 S. 503; 122 V 34 E. 2a S. 36 mit
Hinweisen).

3.4. Weiter hält die Aufhebung der Verfügung vom 18. Oktober 2010 durch die
Vorinstanz auch bei gegebenen Sachurteilsvoraussetzungen nicht stand. Die
wiedererwägungsweise Aufhebung einer anspruchsverneinenden Verfügung steht im
freien Ermessen der Verwaltung (Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 133 V 50 E. 4.1 S.
52). Die Verwaltung kann daher weder von der versicherten Person noch vom
Gericht dazu verhalten werden. Die versicherte Person hat ihre Rechte
hinsichtlich der ursprünglichen Verfügung grundsätzlich im Beschwerdeverfahren
zu wahren. Die von der Wiedererwägung zu unterscheidende pro-zessuale Revision
kommt nur unter den Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 53 Abs. 1 ATSG zum
Tragen. Entsprechende vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellungen fehlen und
Anhaltspunkte für einen zulässigen Revisionsgrund sind aus den Akten nicht
ersichtlich. Eine Revision im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG fällt nach
rechtskräftiger Verneinung eines Anspruchs von vornherein ausser Betracht.
Möglich ist einzig eine Neuanmeldung (vgl. Art. 87 Abs. 3 IVV und Art. 29   
Abs. 1 IVG). Von einer solchen ist denn auch die IV-Stelle ausge-gangen. Die
Beschwerde erweist sich daher als begründet.

3.5. Nicht zu beanstanden ist sodann der von der IV-Stelle in der
Beschwerdeschrift angenommene Rentenbeginn vom 1. Oktober 2012, entsprechend
der im Gutachten von Dr. med. D.________ attestierten Arbeitsfähigkeit für
sämtliche Tätigkeiten von 50 Prozent ab dem Begutachtungszeitpunkt vom 18. Juni
2012 (vgl. Art. 88a Abs. 2 IVV).

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 25. August 2014 wird
aufgehoben, soweit er den Zeitraum vom 1. Oktober 2009 bis 30. September 2012
betrifft.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Januar 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Hofer

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