Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.674/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_674/2014        
{T 0/2}

Urteil vom 5. Mai 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit
(KIGA) Baselland,
Bahnhofstrasse 32, 4133 Pratteln,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Basel-Landschaft
vom 10. April 2014.

Sachverhalt:

A. 
Der 1985 geborene A.________ arbeitete vom 1. Januar 2006 bis 30. Juni 2013
vollzeitlich bei der Firma B.________. Während dieser Tätigkeit, welche er
unverschuldet verlor, begann er am 18. September 2012 den Studiengang "Bachelor
of Science in Betriebsökonomie berufsbegleitend/betreuungspflichtig" an der
Fachhochschule C.________. Am 3. Mai 2013 meldete er sich zur
Arbeitsvermittlung an und beantragte ab 1. Juli 2013 Taggelder der
Arbeitslosenversicherung. Mit Verfügung vom 9. September 2013 stellte das
Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) fest, A.________ sei wegen seines
von September 2012 bis September 2014 dauernden berufsbegleitenden Studiums in
Betriebsökonomie nur zu 70 % vermittlungsfähig und erhalte eine dementsprechend
reduzierte Arbeitslosenentschädigung. Das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe
und Arbeit (KIGA) Baselland präzisierte im Einspracheentscheid vom 15. Oktober
2013, A.________ sei zwar zu 100 % vermittlungsfähig, sein anrechenbarer
Arbeitsausfall betrage jedoch aufgrund seines Studiums lediglich 70 %, weshalb
er nur in diesem Umfang Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung habe.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit
Entscheid vom 10. April 2014 gut.

C. 
Das KIGA Baselland führt Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der
angefochtene Entscheid aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 15. Oktober
2013 zu bestätigen.
A.________ beantragt sinngemäss Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat
für Wirtschaft SECO schliesst vernehmlassungsweise ebenfalls auf deren
Abweisung.

Erwägungen:

1. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a
BGG). Gemäss Art. 105 Abs. 1 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Zu den
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 lit. a BGG gehören namentlich auch die
unvollständige (gerichtliche) Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen (BGE
135 V 23 E. 2 S. 25 mit Hinweisen), die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift sowie die Pflicht zu
inhaltsbezogener, umfassender, sorgfältiger und objektiver Beweiswürdigung
(Art. 61 lit. c ATSG; BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400).

2.

2.1. Eine der gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung ist die Vermittlungsfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 lit. f
AVIG). Gemäss Art. 15 Abs. 1 AVIG ist eine arbeitslose Person
vermittlungsfähig, wenn sie bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine
zumutbare Arbeit anzunehmen und an Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen. Zur
Vermittlungsfähigkeit gehört demnach nicht nur die Arbeitsfähigkeit im
objektiven Sinn, sondern subjektiv auch die Bereitschaft, die Arbeitskraft
entsprechend den persönlichen Verhältnissen während der üblichen Arbeitszeit
einzusetzen (BGE 125 V 51 E. 6a S. 58). Der Begriff der Vermittlungsfähigkeit
als Anspruchsvoraussetzung schliesst graduelle Abstufungen aus (BGE 126 V 124
E. 2 S. 126), was beschwerdeweise nicht mehr bestritten ist.

2.2. Der Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung setzt weiter
voraus, dass die versicherte Person ganz oder teilweise arbeitslos ist (Art. 8
Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 10 AVIG) und einen anrechenbaren
Arbeitsausfall erlitten hat (Art. 8 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 11
AVIG). Der Arbeitsausfall ist gemäss Art. 11 Abs. 1 AVIG anrechenbar, wenn er
einen Verdienstausfall zur Folge hat und mindestens zwei aufeinanderfolgende
volle Arbeitstage dauert.

3.

3.1. Unbestritten ist, dass es sich beim während der Tätigkeit bei der Firma
B.________ am 18. September 2012 begonnenen Fernstudium um ein
berufsbegleitendes Studium ohne Anwesenheitspflicht handelt. Ab 1. Juli 2013
stellte sich der Beschwerdegegner zu 100 % dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Vom
23. September 2013 bis Ende Januar 2014 arbeitete er im Zwischenverdienst in
einem Vollzeitpensum für die D.________ AG. Am 14. März 2014 erfolgte die
Abmeldung von der Arbeitslosenversicherung, da er ab 17. März 2014 eine
Vollzeitstelle bei der E.________ AG angenommen hatte. Seit 2009 ist er zudem
Inhaber der Einzelunternehmung F.________ was den
Arbeitslosenentschädigungsanspruch nicht gefährdet, da er nicht aufgrund des
Verlusts dieser Tätigkeit arbeitslos geworden war (SVR 2004 AlV Nr. 15 S. 46, C
171/03).

3.2. Während die Vorinstanz gestützt hierauf von einem 100%-ig erlittenen
Arbeitsausfall ausging, wird beschwerdeweise geltend gemacht, bei der Prüfung
der Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 8 AVIG sei der Tatbeweis ausgeschlossen
und die Beurteilung dürfe nicht prospektiv erfolgen, weshalb die Vorinstanz zu
Unrecht den Umstand, dass der Versicherte im März 2014 wieder eine
Vollzeitstelle annahm, berücksichtigt habe. Ferner könne der anrechenbare
Arbeitsausfall nicht aus den vereinbarten Arbeitspensen geschlossen werden, es
liege hinsichtlich des tatsächlich ausgeübten Pensums eine ungenügende
Sachverhaltsfeststellung vor.

4.

4.1. Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt das Sozialversicherungsgericht die
Gesetzmässigkeit der Verwaltungsverfügungen in der Regel nach dem Sachverhalt,
der zur Zeit des Verfügungserlasses gegeben war. Tatsachen, die jenen
Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer
neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 121 V 366 E. 1b mit Hinweis).
Ausnahmsweise kann das Gericht aus prozessökonomischen Gründen auch die
Verhältnisse nach Erlass der Verfügung in die richterliche Beurteilung
miteinbeziehen und zu deren Rechtswirkungen über den Verfügungszeitpunkt hinaus
verbindlich Stellung beziehen, mithin den das Prozessthema bildenden
Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht ausdehnen (BGE 130 V 138 E. 2.1 S.
140).

4.2.

4.2.1. Die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf das
während der Rahmenfrist für die Beitragszeit und auch nach Studienbeginn weiter
bestandene Arbeitsverhältnis mit der Firma B.________ - somit auf eine sich vor
Verfügungserlass verwirklichte Tatsache - und auf die Tätigkeiten im
Zwischenverdienst sowie schliesslich auf die Aufnahme einer 100%-igen
Erwerbstätigkeit am 17. März 2014, welche zur Abmeldung bei der
Arbeitslosenversicherung führte. Die appellatorischen Vermutungen des
Beschwerdeführers, der Beschwerdegegner habe bei der Firma B.________ nicht zu
100 % gearbeitet, vermögen keine lückenhafte, bundesrechtswidrige
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz aufzuzeigen. Vielmehr ergibt sich
sowohl aus den RAV-Beratungsgesprächen wie auch aus dem Arbeitsvertrag und dem
Zwischenzeugnis der Firma B.________ vom 13. Juni 2012 eine volle
Erwerbstätigkeit. Den kumulativ erforderlichen Mindestarbeits- und
Verdienstausfall (E. 2.2 hiervor) erfüllt der Beschwerdegegner mit dem Verlust
dieser Arbeitnehmertätigkeit. Indem er eine Vollzeitstelle verloren hat und im
gleichen Beschäftigungsumfang wieder eine Arbeitnehmertätigkeit glaubhaft
sucht, wobei hinsichtlich des Studiums für die Anerkennung der Berufspraxis
eine mindestens 50 % Berufstätigkeit in einem Angestelltenverhältnis oder als
selbstständig erwerbende Personen ohnehin vorausgesetzt wird, ging die
Vorinstanz zu Recht von einem voll anrechenbaren Arbeitsausfall aus, ohne dabei
den Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht auszudehnen.

4.2.2. Die weiteren Rügen, insbesondere betreffend prospektiver Würdigung und
Tatbeweis, ergeben in Zusammenhang mit dem anrechenbaren Arbeitsausfall als
Anspruchsvoraussetzung keinen Sinn, denn das geforderte Mindestmass an
ausgefallenen Arbeitstagen ist vorliegend fraglos erfüllt. Die Behauptung, bei
der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen (Art. 8 AVIG) seien eine prospektive
Beurteilung und der Tatbeweis unzulässig, zielt vielmehr auf die
Vermittlungsfähigkeit ab, die jedoch nicht umstritten ist, weshalb sie schon
deshalb ins Lehre geht. Mit Blick auf die zeitliche Verfügbarkeit erkannte das
Bundesgericht im Zusammenhang mit familiären Betreuungsaufgaben zudem, dass die
Vermittlungsfähigkeit nicht leichthin unter Verweis auf familiäre
Betreuungsaufgaben verneint werden darf, namentlich dann, wenn eine Person vor
Eintritt der Arbeitslosigkeit bereits den Tatbeweis erbracht hat, dass sie
trotz Betreuungsaufgaben eine Vollzeitbeschäftigung auszuüben bereit und in der
Lage war, und die bisherige Stelle aus nicht selbst zu verantwortenden Gründen
aufgegeben werden musste (in SVR 2004 ALV Nr. 12 publizierte Erwägung 3.3.1 von
BGE 130 V 138, C 90/03). Ausser bei offensichtlichem Missbrauch ist
rechtsprechungsgemäss nicht schon im Zeitpunkt des Einreichens des
Entschädigungsgesuchs der Nachweis der Kinderbetreuung zu prüfen, sondern auf
plausible Angaben abzustellen (SVR 2009 AlV Nr. 6 S. 22, 8C_367/2008 E. 4.2;
Urteil C 29/07 vom 10. März 2008 E. 4.1; vgl. Thomas Nussbaum,
Arbeitslosenversicherung, in: Ulrich Meyer [Hrsg.], Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Band XIV, Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel
2007, Rz. 267). Das Gleiche hätte hier zu gelten, stünde die
Vermittlungsfähigkeit infrage.

4.2.3. Mit Blick auf den von der Vermittlungsfähigkeit zu unterscheidenden
anrechenbaren Arbeitsausfall, der sich grundsätzlich im Vergleich zum letzten
Arbeitsverhältnis vor Eintritt der (Teil-) Arbeitslosigkeit bestimmt (BGE 125 V
51 E. 6c/aa S. 59), kommt es aber auch darauf an, in welchem zeitlichen Umfang
die versicherte Person bereit, berechtigt und in der Lage ist eine zumutbare
Arbeit aufzunehmen (vgl. Urteil 8C_126/2014 vom 8. Juli 2014 E. 5.1.2). Die
Vorinstanz hat gestützt auf die Tatsache, dass der Beschwerdegegner während des
Bezugs von Arbeitslosenentschädigung im Zwischenverdienst einer 100%-igen
Erwerbstätigkeit nachging und sich schliesslich innert acht Monaten von der
Arbeitslosenversicherung abmeldete, um nebst seinem Studium wieder vollzeitlich
zu arbeiten, nicht offensichtlich fehlerhaft festgestellt, dass er trotz
berufsbegleitendem Fernstudium bereit und in der Lage ist, weiterhin im
bisherigem Umfang von 100 % zu arbeiten. Auch wenn der berufsbegleitende, in
der Regel vier Jahre (acht Semester) dauernde Studiengang, grundsätzlich einen
Aufwand entsprechend einem Studium von 1350 Stunden oder 45 ECTS-Punkten pro
Jahr erfordert, welcher Aufwand individuell sehr unterschiedlich sein kann,
rechtfertigt sich in der vorliegenden Konstellation eine bloss teilweise
Anrechnung des Arbeitsausfalls im Umfang von 70 %, indem für das Studium ein
Zeitaufwand von 30 % einer Vollzeitstelle veranschlagt wird, nach dem Gesagten
nicht.
Im Gegenzug könnte der Beschwerdegegner hinsichtlich des Fernstudiums in diesem
Fall konsequenterweise nicht von einer Befreiung von der Beitragszeiterfüllung
nach Art. 14 Abs. 1 lit. a AVIG bei erneuter (Teil-) Arbeitslosigkeit nach
Ausbildungsabschluss profitieren, da ihn die Absolvierung des Studiengangs in
Betriebsökonomie an der Fachhochschule offensichtlich nicht daran gehindert
hat, einer Vollzeittätigkeit nachzugehen (vgl. zu dieser Problematik: SVR 2012
AlV Nr. 10 S. 31, 8C_318/2011). Im Ergebnis stellte die Vorinstanz demnach zu
Recht fest, dass von einem vollen anrechenbaren Arbeitsausfall auszugehen ist.

5. 
Das Verfahren ist grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 62 BGG). Der in ihrem
amtlichen Wirkungskreis und nicht in ihrem eigenen Vermögensinteresse
handelnden Amtsstelle sind indessen keine Gerichtskosten aufzuerlegen (BGE 133
V 640 E. 4 S. 640 ff.; Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem nicht anwaltlich vertretenen
Beschwerdegegner steht trotz seines Obsiegens keine Parteientschädigung nach
Art. 68 Abs. 2 BGG zu.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO)
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Mai 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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