Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.652/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_652/2014

Urteil vom 9. Januar 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Fürsprecher Harold Külling,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Invalideneinkommen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
30. Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1988 geborene A.________ meldete sich am 1. Juli 2011 wegen der Folgen
mehrerer Geburtsgebrechen (angeborene Hemihypertrophien und andere
Körperasymmetrien; angeborene Wirbelmissbildungen; Missbildungen des
Zentralnervensystems und seiner Häute; leichte cerebrale Bewegungsstörungen;
Lider: Kolobom und Ankyoloblepharon; angeborene Mittelohrmissbildung mit
doppelseitiger Schwerhörigkeit) sowie Depressionen bei der
Invalidenversicherung zum Bezug einer ganzen Invalidenrente an. Die IV-Stelle
des Kantons Aargau holte unter anderem das polydisziplinäre Gutachten der
medizinischen Abklärungsstelle B.________ vom 25. Februar 2013 ein. Nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach sie der Versicherten mit Verfügung
vom 18. Oktober 2013 ab 1. Juni 2012 eine halbe Invalidenrente zu.

B. 
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde sprach das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab 1. Juni 2012 eine ganze
Invalidenrente zu (Entscheid vom 30. Juni 2014).

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde und beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei
aufzuheben.

A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen; ferner ersucht sie um
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche
Verfahren. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin ab 1. Juni 2012 Anspruch
auf eine halbe oder eine ganze Invalidenrente hatte. Prozessthema bildet dabei
die Frage, ob bzw. inwieweit sie die verbliebene Arbeitsfähigkeit auf dem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu verwerten vermochte (vgl. Art. 7 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 16 ATSG).

3.

3.1. Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich erkannt, dass zur
Beurteilung des Gesundheitszustands und der Arbeitsfähigkeit auf das in allen
Teilen beweiskräftige Gutachten der medizinischen Abklärungsstelle B.________
vom 25. Februar 2013 abzustützen war. Danach war die Explorandin aus
somatischer Sicht wegen der angeborenen Wirbelsäulenveränderungen und des
chronischen lumbovertebralen Schmerzsyndroms im erlernten Beruf als Köchin
sowie jeder anderen vergleichbaren Erwerbstätigkeit, die das Heben und Tragen
von Lasten über 10 kg erforderten, nicht mehr arbeitsfähig; hinzu kam, dass die
angeborene Schwerhörigkeit/Taubheit ein grosses Handicap darstellte, zumal die
(verbale) Kommunikation bei Hintergrundlärm und bei arbeitsbedingter Hektik
nicht mehr möglich und die Versicherte bei komplexen Aufgaben infolge
Sprachentwicklungsverzögerung und damit verbundener deutlich eingeschränkter
Verständlichkeit auf die Gebärdensprache angewiesen war. Hiegegen waren der
Versicherten leichtere, ohne Zwangspositionen verrichtbare und in den Abläufen
klar strukturierte Tätigkeiten, die wenig wechselnde Situationen und kein
binokuläres Sehen erforderten sowie ohne Zeitdruck ausgeführt werden konnten,
gesamtmedizinisch betrachtet zu einem hälftigen Arbeitspensum zumutbar, wobei
die psychiatrischen Einschränkungen (Chronische Anpassungsstörung mit
Beeinträchtigung von anderen Gefühlen [ICD-10: F43.23]) im Vordergrund standen.

3.2.

3.2.1. Ob der für die Bestimmung des Invalideneinkommens massgebliche
ausgeglichene Arbeitsmarkt dem gegebenen Zumutbarkeitsprofil entsprechende
Stellen anbietet, ist eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage,
wenn die Vorinstanz auf die allgemeine Lebenserfahrung abgestellt hat (vgl. BGE
132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_854/2008 vom 17. Dezember 2008 E. 3.2 mit
Hinweisen). Um eine nur eingeschränkt überprüfbare Tatfrage geht es hingegen,
wenn aufgrund einer konkreten Beweiswürdigung entschieden worden ist (Urteil
8C_776/2008 vom 18. Juni 2009 E. 5.2 in fine).

3.2.2.

3.2.2.1. Der ausgeglichene Arbeitsmarkt ist gekennzeichnet durch ein gewisses
Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften und weist
einen Fächer verschiedenster Tätigkeiten auf (BGE 110 V 273 E. 4b S. 276). Das
gilt sowohl bezüglich der dafür verlangten beruflichen und intellektuellen
Voraussetzungen wie auch hinsichtlich des körperlichen Einsatzes (SVR 2008 IV
Nr. 62 S. 203, 9C_830/2007 E. 5.1 mit Hinweis; ZAK 1991 S. 318, I 350/89 E.
3b). Dabei ist nicht von realitätsfremden Einsatzmöglichkeiten auszugehen. Es
können nur Vorkehren verlangt werden, die unter Berücksichtigung der gesamten
objektiven und subjektiven Gegebenheiten des Einzelfalles zumutbar sind (SVR
2008 IV Nr. 62 S. 203, 9C_830/2007 E. 5.1 mit Hinweis). Der ausgeglichene
Arbeitsmarkt umfasst auch sogenannte Nischenarbeitsplätze, also Stellen- und
Arbeitsangebote, bei welchen Behinderte mit einem sozialen Entgegenkommen von
Seiten des Arbeitgebers rechnen können (Urteil 9C_95/2007 vom 29. August 2007
E. 4.3 mit Hinweisen). Von einer Arbeitsgelegenheit kann aber dort nicht
gesprochen werden, wo die zumutbare Tätigkeit nur in so eingeschränkter Form
möglich ist, dass sie der ausgeglichene Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt oder
sie nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen
Arbeitgebers möglich und das Finden einer entsprechenden Stelle daher zum
vorneherein als ausgeschlossen erscheint (ZAK 1991 S. 318, I 350/89 E. 3b).

3.2.2.2. Das kantonale Gericht hat erwogen, dass die Versicherte faktisch taub
sei, weshalb allein schon die Kommunikationsprobleme Fragen zur Verwertbarkeit
der ärztlich attestierten Restarbeitsfähigkeit aufwürfen; daneben bestünden
mannigfaltige weitere gesundheitliche Einschränkungen, aufgrund welcher kaum
anzunehmen sei, dass sich ein Arbeitgeber - selbst in einem Nischenarbeitsplatz
- bereit erklären würde, die Versicherte zu beschäftigen. Mit diesen Erwägungen
hat sich die Vorinstanz auf die allgemeine Lebenserfahrung berufen, weshalb das
Bundesgericht die zur Diskussion stehende Frage, unter Vorbehalt der Vorbringen
der IV-Stelle, frei zu überprüfen hat.

3.2.2.3. Die IV-Stelle verkennt zum einen, dass sämtliche der von ihr
angeführten Anstellungsverhältnisse Tätigkeiten im Bereich des Gastgewerbes
betrafen, die der Versicherten wegen der vorinstanzlich festgehaltenen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht mehr zumutbar waren. Zum anderen
übersieht sie, dass die Beschwerdegegnerin bezüglich der danach ausgeübten
Tätigkeit als selbstständig erwerbende Tierpflegerin (Hüten von Hunden und
Katzen) ausweislich der Akten kein wesentliches Einkommen erzielen konnte. Die
IV-Stelle räumt mit ihrem weiteren Vorbringen, die Vorinstanz habe die
Arbeitsgelegenheiten und Verdienstaussichten der Versicherten zu wenig
konkretisiert, zumindest implizit ein, dass sie selbst nicht anzugeben vermag,
ob und in welchem Umfang das ärztlich angegebene Zumutbarkeitsprofil auf dem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt umsetzbar gewesen war. Das von ihr zitierte Urteil
8C_776/2008 vom 18. Juni 2009 ist wenig einschlägig, da danach die
Schwerhörigkeit der versicherten Person mit einer Cochlea-Implantation
wesentlich vermindert werden konnte und im Übrigen keine weiteren körperlichen
oder psychischen Einschränkungen bestanden. Abschliessend ist zur
Verdeutlichung der vorinstanzlichen Erwägungen darauf hinzuweisen, dass die
Beschwerdegegnerin gemäss Gutachten der medizinischen Abklärungsstelle
B.________ vom 25. Februar 2013 wegen der Geburtsgebrechen (Goldenhar-Syndrom;
ICD-10: Q87.0) binokulär nicht zu sehen vermochte, weshalb ihr Arbeiten, die
visuelle Anstrengungen erforderten, wie sie bspw. bei einer Tätigkeit an einem
Bildschirm anfielen, nicht zumutbar waren, weil damit Doppelbilder entstehen
konnten.

3.2.3. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz bei der Beurteilung der Frage, ob
die Versicherte das ihr verbliebene Leistungsvermögen auf dem ausgeglichen
Arbeitsmarkt zu verwerten vermochte, zu Recht von weiteren Abklärungen
abgesehen und sich auf die allgemeine Lebenserfahrung berufen, wonach in
Fällen, wie dem zur Diskussion stehenden, keine nennenswerten
Arbeitsgelegenheiten mehr offen standen.

4. 
Mit dem Urteil in der Hauptsache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos.

5.

5.1. Die Gerichtskosten werden der unterliegenden IV-Stelle auferlegt (Art. 66
Abs. 1 BGG).

5.2. Die IV-Stelle hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren dem Aufwand gemäss zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin mit Fr. 2800.- zu
entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Januar 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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